Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Siegestaumel in Tripolis: Dieser Moment der Freiheit
> Jedes Jahr am 1. September feierte Muammar al-Gaddafi am Grünen Platz in
> Tripolis seine Dauerrevolution. 41 Jahre lang. Dieses Jahr feiert dort
> das Volk.
Bild: Frauen feiern auf dem Grünen Platz das Ende des Ramadan und der Despotie.
TRIPOLIS taz | Auch Revolutionäre müssen mal schlafen. In der Nacht zu
Donnerstag haben sie bis in die frühen Morgenstunden das Ende der
Herrschaft von Muammar al-Gaddafi über Tripolis gefeiert. Mit dem Auftakt
zum Eid al-Fitr, dem dreitägigen Fest zum Ende des Fastenmonats Ramadan,
war es gleich eine doppelte Feier. Jetzt sind sie müde und liegen am
Donnerstagmorgen noch in den Federn.
Es ist der Jahrestag der Machtübernahme von Oberst Muammar al-Gaddafi vor
42 Jahren. Der Grüne Platz am Hafen, wo in der Nacht Tausende sein Ende
bejubelten und der inzwischen in Märtyrer-Platz umbenannt wurde, ist
weitgehend verwaist.
Die beiden Freunde Fawzi Misrati und Salim Marimi haben ebenfalls bis zum
Morgengrauen gefeiert. Aber Müdigkeit hin oder her, sie sind am Vormittag
bereits wieder da. "Früher hatten wir Angst und haben geschaut, dass wir am
Jahrestag möglichst nicht in der Hauptstadt sind. Damit wir uns die
Propaganda von Gaddafi nicht anhören mussten", sagt Marimi. "Heute wollen
wir den Augenblick auskosten, dass es damit vorbei ist. Dieser Moment der
Freiheit ist so wunderbar."
Mit dem faktischen Sturz von Gaddafi endet die Herrschaft eines der
bizarrsten Despoten weltweit. Als in den Morgenstunden des 1. September
1969 eine Gruppe von Offizieren einen weitgehend unblutigen Staatsstreich
gegen den bereits betagten König Idris I. unternahm, der zugleich der
einflussreichen Senussi-Bruderschaft vorstand, war Gaddafi selbst noch ein
weitgehend Unbekannter.
## "Er hat uns lächerlich gemacht"
Schnell gelang ihm jedoch der Aufstieg in der Hierarchie der Putschisten.
Nach und nach machte er sich zum Alleinherrscher. Statt einer Verfassung
erhielt das Volk das Grüne Buch, ein Pamphlet von gerade einmal 82 Seiten.
Darin stehen so krude Sätze wie der, dass Parlamente ein Hindernis für die
Demokratie seien, weil sie das Volk entmachteten. Statt Institutionen schuf
Gaddafi Volkskomitees, und in Schulen bläuten die Lehrer den Kindern die
Parolen seiner Revolution ein.
Lange gab er sich als Vorreiter des Panarabismus und des Kampfs gegen den
Westen. Dabei schreckte er in den 1970er und 1080er Jahren auch vor
Terroranschlägen und der Unterstützung von Extremisten nicht zurück und
baute an einem Atomprogramm. Der damalige amerikanische Präsident Ronald
Reagan nannte Gaddafi 1986 den "verrückten Hund" des Nahen Osten. Als
Vergeltung für einen Bombenanschlag in einer Berliner Disco, den Gaddafi in
Auftrag gegeben hatte und bei dem zwei US-Soldaten und eine Türkin starben,
ließ Reagan sein Hauptquartier Bab al-Asisija bombardieren.
Nach den Anschlägen vom 11. September änderte der libysche Machthaber
seinen Kurs und tauschte Erkenntnisse über radikale Islamisten mit
westlichen Geheimdiensten aus. Schließlich gab er auch das Atomprogramm auf
und kehrte damit auf die internationale politische Bühne zurück, auf der er
sich nun als Vorkämpfer für die Einheit Afrikas gab. Allerdings nie ohne
Sonnenbrille und sein Beduinenzelt. Mehr als einmal bescherte er den
Politikern im Westen damit peinliche Auftritte.
"Er hat uns vor aller Welt lächerlich gemacht", sagt Marimis Freund
Misrati. "Nur wegen seines Sohns hat er das Verhältnis mit der Schweiz
zerrüttet." Die kurzzeitige Festnahme von Hannibal Gaddafi, der in einem
Genfer Hotel ein Hausmädchen misshandelte, hatte vor ein paar Jahren zu
einem diplomatischen Eklat geführt. In Tripolis setzte Gaddafi zwei
Ingenieure fest, die erst freikamen, nachdem die Schweiz eine hohe
Geldsumme zahlte.
## Hoffen auf den Neuanfang
Die beiden Ingenieure hoffen jetzt auf einen Neuanfang mit der Schweiz wie
überhaupt mit dem Westen. "Wir brauchen Technik und Medikamente - mehr als
alles andere", sagt Misrati. Darüber hinaus solle der Westen vor allem in
die Bildung investieren. "Wir fangen hier bei null an", sagt der Ingenieur.
"Schickt uns bloß keine Waffen, davon gibt es genug." Dabei blickt er auf
ein paar Rebellen, die über den Platz marschieren. Sie sind jung, im
Teenageralter.
Sie tragen Jeans und T-Shirts, die Kalaschnikow hängt ihnen locker über die
Schulter. "Willkommen im freien Libyen", rufen sie der Reporterin zu. "Im
Moment brauchen wir sie", sagt Misrati. "Aber in spätestens vier Wochen
sollten sie ihre Waffen abgeben und die Polizei die Kontrolle übernehmen.
Ob diese dazu bereit sind, steht auf einem anderen Blatt Papier.
Auf dem Märtyrer-Platz kann man sich heute kaum noch vorstellen, dass
Gaddafi so lange an der Macht war. Bilder von ihm sind in der Stadt
überhaupt komplett verschwunden. Statt der grünen Fahne ziert heute eine
rot-schwarz-grüne Trikolore mit weißem Halbmond und Stern, die Fahne der
Rebellen, den Platz. Vor der historischen Festung hängt eine
Karikatur-Ausstellung an einer Wand. Eine Zeichnung zeigt Gaddafi in einer
Mülltonne, eine andere als irren Patienten auf dem Krankenbett.
"Es tut so gut, sich nicht mehr davor fürchten zu müssen, dass morgens um
sechs die Security an die Tür klopft", sagt Mohammed Khalid. Mit zwei
Freunden ist er aus einem Vorort angereist, um am 42. Jahrestag in Freiheit
über den Platz zu flanieren. Auch die Studenten wollen, dass die Rebellen
möglichst schnell die Waffen niederlegen. Sie hoffen auf einen
demokratischen Neubeginn. Wie die Demokratie aussehen soll, wissen sie
nicht. Nur so viel: "Ein System, in dem alle vier Jahre gewählt wird."
## Vertrauen in den Übergangsrat
Libyen hat keine Erfahrung mit demokratischen Verfahren, überhaupt nur
einmal gab es in dem Land Wahlen. Der Nationale Übergangsrat hat den
Bürgern eine demokratische Verfassung und Wahlen versprochen. Doch die
Rebellen sind untereinander zerstritten, und in ihren Reihen gibt es auch
Islamisten, von denen Hunderte in den letzten Tagen aus den Gefängnissen
befreit wurden.
Der Ingenieur Marimi ist jedoch zuversichtlich. Er vertraue dem
Übergangsrat, sagt Marimi. "Was sie sagen, klingt gut, und bislang haben
sie Wort gehalten." So hat sich in den letzten Tagen die Strom- und
Lebensmittelversorgung in der Hauptstadt bereits gebessert. Während wir auf
dem Platz stehen, kommt auch die Müllabfuhr vorbei. Doch der Student Khalid
und der Ingenieur Misrati blicken eher mit Sorge in die Zukunft. Sie
fürchten Zustände wie im Irak nach dem Sturz von Saddam Hussein. Sie sind
damit nicht allein.
Viel ist in der Hauptstadt von der "fünften Kolonne" die Rede, von
Regimeanhängern, die Terroranschläge verüben könnten, so wie damals im
Irak. Aber düsteren Gedanken wollen die Ingenieure und Studenten heute
nicht nachhängen. In der Nacht wollen sie wieder auf den Platz kommen, um
mit Tausenden anderen erneut zu feiern.
Wie jede Nacht seit letzter Woche werden dann die Lieder der Revolution aus
der großen Lautsprecheranlage erschallen, Rebellen, die das Schießen nicht
sein lassen können, feuern am Rand ihre Gewehrsalven ab, und die Rufe
"Freies Libyen" oder "Es ist vorbei, Zausekopf" erfüllen den Platz. "Wir
sind frei, das ist heute das Wichtigste", sagt der sonst eher skeptische
Misrati. "An das Morgen wollen wir im Moment nicht denken."
1 Sep 2011
## AUTOREN
Inga Rogg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Libyens Ölquellen sollen wieder sprudeln: Gaddafis Schwarzkasse
Libyens Revolutionäre sind dringend auf die Einnahmen aus dem Öl- und
Gassektor angewiesen. Sie haben kein Interesse daran, die bestehenden
Verträge zur Disposition zu stellen.
Libyen-Konferenz in Paris: Gaddafi-Milliarden für Rebellen
Der Westen hat dem libyschen Übergangsrat Unterstützung zugesagt. Gelder
fließen, aktue Hilfe wurde auf der Konferenz versprochen. Nur die
Afrikanische Union ist zurückhaltend.
Langjähriger libyscher Machthaber: Gaddafi kündigt Widerstand an
Muammar al-Gaddafi will sich den Aufständischen nicht ergeben. Derweil hebt
die EU ihre Sanktionen gegen Libyen teilweise auf. Und Rüstungsgegner
wollen gegen Heckler & Koch klagen.
Krieg in Libyen: Widersprüchliche Signale der Gaddafis
Einer der Söhne Gaddafis verhandelt über eine Kapitulation, der andere
verspricht den Sieg gegen die Rebellen. In Paris will die
Staatengemeinschaft Hilfen für das Land beschließen.
Waffenhandel mit Libyen: Rebellen mit deutschen Waffen
Die Nato will die Aufständischen auch weiterhin unterstützen. Gaddafis Sohn
Al Saadi verhandelt angeblich über eine Kapitulation. In Sirte hingegen
bleibt eine letzte Gaddafi-Front.
Angst vor libyschen Waffen: Kriegstrommeln in der Sahara
Mit der Aufnahme von Gaddafi-Angehörigen stellt sich Algeriens Regierung
gegen die libyschen Rebellen. In der Region wächst die Sorge um den
Verbleib von Gaddafis Waffen.
Kommentar Folgen des Libyenkonflikts: Es droht ein libyscher Flächenbrand
Die Maghreb-Staaten, Europa und die USA müssen jetzt schnell und effizient
zusammenarbeiten. Schaffen sie es nicht, droht in Nordafrika ein
gefährlicher Flächenbrand.
Menschenrechtsverletzungen in Libyen: Dokumente der Gewalt
Internationale Organisationen erheben schwere Vorwürfe gegen Gaddafi - aber
auch gegen die Rebellen. Gefordert wird, dass die in Libyen lebenden
Afrikaner geschützt werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.