# taz.de -- Mecklenburg-Vorpommerns Zukunft: "Die Zweiklassenrepublik kommt" | |
> Mecklenburg-Vorpommern verödet, doch diese Entwicklung ist zu | |
> akzeptieren, sagt Joachim Ragnitz vom Wirtschaftsinstituts ifo. Ein | |
> Gespräch über die Zukunft im Norden. | |
Bild: Wer Natur mag ... für den ist MV genau der richtige Ort zum Leben. | |
taz: Herr Ragnitz, warum sollten sich andere Teile der Republik für | |
Mecklenburg-Vorpommern interessieren? | |
Joachim Ragnitz: Weil die sogenannten Schrumpfungsprozesse längst nicht | |
mehr nur dort stattfinden, sondern in der ganzen Republik zu beobachten | |
sind. Geburtenschwund, Arbeitslosigkeit, Abwanderung - das beobachten wir | |
zum Beispiel auch in Nordhessen. Wie in Ostdeutschland mit der Abwanderung | |
umgegangen wird, wie die Entleerung organisiert wird, hat inzwischen | |
Vorbildcharakter. | |
Sie würden eine Wegzugprämie für Einwohner in Mecklenburg-Vorpommern | |
einführen, wenn Sie am Sonntag in den Schweriner Landtag einziehen würden, | |
oder? | |
Das nicht, keiner wird die Leute wegjagen und den demografischen Wandel | |
forcieren wollen, aber man muss ihn akzeptieren. | |
"Ja, wir schrumpfen" - ein renommierter Ökonom wie Sie kann das vielleicht | |
sagen, ein Politiker gewinnt mit einer solchen Aussage aber keine Wahlen. | |
Aber es hat keinen Sinn, immer noch zu versuchen, neue Einwohner | |
anzuwerben. Wo sollen die denn herkommen? | |
Aus dem Ausland könnten Leute zu uns kommen. | |
Schon, aber wer nach Deutschland kommt, zieht doch in die Ballungszentren, | |
wo es Chancen gibt, einen Job zu bekommen. | |
Sie nehmen die Abkoppelung ganzer Regionen in Kauf. | |
Wir haben nicht das Geld, wir können nicht Unsummen in verödende | |
Landstriche investieren und überall Altenheime, Kindergärten, Gymnasien | |
erhalten. Man muss für eine zentrennähere Besiedlung sorgen und die Leute | |
dazu bringen, in die Städte zu ziehen. | |
Dann ziehen die gut Gebildeten weg, der Rest muss sehen, wo er bleibt. Sie | |
ignorieren schlicht die sozialen Folgen einer solchen Politik. | |
Mecklenburg-Vorpommern hat nur etwa 1,6 Millionen Einwohner und verliert in | |
den nächsten zwanzig Jahren nochmals um die 15 Prozent. In der Provinz | |
werden dann tatsächlich überwiegend Ältere wohnen, für die man natürlich | |
sorgen muss. Da müssen mobile medizinische Dienste entwickelt werden und | |
muss eine Grundversorgung möglich sein. | |
Das läuft auf die Zweiklassenrepublik hinaus - hier die gehübschten Städte, | |
dort die abgeschriebene Provinz. | |
Das kommt so oder so. Die nicht wegziehen wollen … | |
… oder können, weil sie nicht so mobil sind oder in der Stadt keinen Job | |
finden … | |
Sicher, aber zum Bleiben gezwungen wird niemand. Und wir können uns eben | |
nicht mehr Infrastruktur leisten. | |
Der Bund hat aber einen gesetzlichen Auftrag, gleichwertige | |
Lebensbedingungen zu schaffen. | |
Die Länder haben den auch. Aber das bezieht sich nur auf eine | |
Grundausstattung mit öffentlichen Leistungen, die in angemessener | |
Entfernung vorhanden sein müssen - in den kleineren Orten etwa ein Arzt, | |
eine Bushaltestelle, ein Supermarkt. | |
Was gibt man auf - Anklam? | |
Es wird nicht eine Fläche von 50 mal 50 Kilometern aussterben, kleinere | |
Siedlungen werden jedoch veröden. Und womöglich fährt man dann bis zum | |
Schwimmbad oder zum Kino statt derzeit 30 Minuten künftig 50. | |
Die Politik versagt, wenn in der Provinz nur die Resterampe, der Happy-Shop | |
und der Frust bleiben. | |
Es gibt Leute, die die Abgeschiedenheit mögen. | |
Mehr Grün? Das ist zynisch. | |
Das ist Stand der Wissenschaft, es gibt auch Chancen in der Entleerung, | |
sogenannte Raumpioniere ziehen in die Peripherie, um neue Konzepte des | |
Zusammenlebens auszuprobieren. Das kann nicht überall funktionieren. Die | |
Alternative heißt: wegziehen. | |
Der Bund hat all die Milliarden für den Osten ohne Nutzen ausgegeben? | |
In den 90er Jahren ist man von der illusionären Vorstellung ausgegangen, | |
dass die Bevölkerung wächst. So hat man lange Zeit an den Realitäten | |
vorbeigeplant und das Geld versenkt, etwa in überdimensionierte Straßen. | |
Sie wollen Autobahnen zurückbauen? | |
Zumindest die Instandhaltung hinauszögern und auf den Ausbau von vielen | |
Umgehungsstraßen verzichten. | |
Sie verabschieden die klassische Industriepolitik, die auf Autobahnen oder | |
Chemiewerke setzt. | |
Autobahnen führen nicht zu massiven Ansiedlungen. Unternehmen kommen dahin, | |
wo es Forschungseinrichtungen oder Arbeitskräfte gibt, aber nicht in leere | |
Räume. Allenfalls können Sie ein Gesundheitszentrum, Biokraftwerke oder | |
Tourismus in ihre Region holen. Das war es. | |
Die Politiker in den trostlosen Landgemeinden gelten als machtlos. | |
Mit der einfachen finanziellen Förderpolitik kommen sie jedenfalls nicht | |
weiter. Doch das wollte in den Rathäusern lange keiner wahrhaben. Viel zu | |
lange hat sich keiner eingestanden, dass sich die Gegenden so stark | |
verändern wie selten zuvor. Sonst hätte vielleicht schon viel früher mal | |
ein Bürgermeister mit dem Kollegen aus der fernen Nachbarschaft geredet - | |
ihr baut das Krankenhaus, wir das Altenheim - und gemeinsam eine Strategie | |
entwickelt. Mit der Schrumpfung muss man klug umgehen. | |
Dann machen Sie den Politikern einen Vorschlag! | |
Sie müssen sich zum Beispiel fragen, ob sie Mecklenburg-Vorpommern und die | |
kostspielige Verwaltung aufrechterhalten. Vielleicht ist es besser, das | |
Land in zehn, fünfzehn Jahren mit anderen Ländern zu fusionieren. | |
Damit sich Politik und Bürger noch weiter voneinander entfernen? | |
Ach was, in Ostdeutschland sind die Länder relativ klein gestrickt. Bayern | |
ist viel größer als Mecklenburg-Vorpommern. Dagegen ist es viel | |
problematischer, dass jetzt die Landkreise zusammengelegt werden und | |
teilweise so groß wie das Saarland sind. In die Landeshauptstadt muss ein | |
Bürger schließlich selten, ins Kreisamt schon öfter. | |
4 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Hanna Gersmann | |
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