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# taz.de -- Spitzenpolitiker mit Elternpflichten: Grün, erfolgreich, Vater
> Cem Özdemir, Volker Ratzmann, Boris Palmer. Alles grüne Spitzenpolitiker
> mit viel Verantwortung - und alles junge Väter. Klappt das?
Bild: Cem Özdemir hat zwei Kinder - sie kommen manchmal ins Büro des Papas zu…
BERLIN taz | Wenn ihre Kinder werden wie Walter Kohl, dann haben die
Spitzen-Grünen etwas gehörig falsch gemacht. Der Sohn des Exkanzlers hat
sich in einem zum Bestseller gewordenen Buch von der Seele geschrieben, wie
es war, als Kind eines Spitzenpolitikers aufzuwachsen. Der kleine Walter -
bloß ein Statist in der Harmonie-Inszenierung seines Vaters Helmut. Ein
Junge, der sich nach einem Papa sehnte und einen Partei-Patriarchen bekam.
Wie passen Politkarriere und Elternschaft zusammen? Unter besonderem Druck,
darauf eine Antwort zu finden, stehen die Grünen. Plädieren sie doch
besonders vehement dafür, dass Frauen und Männer nicht nur laut Verfassung
gleiche Rechte und Pflichten haben. In ihrem Grundsatzprogramm aus dem Jahr
2002 klagen sie: "Es fehlt in Deutschland an kultureller Akzeptanz und
sozialer Unterstützung für erwerbstätige Mütter und familienorientierte
Männer."
Und sie fordern: "Mehr Lebensqualität für alle wird erreicht, wenn sich das
Alltagsleben stärker an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Eltern
orientiert. Wir brauchen dazu eine Kultur, die Unterschiedlichkeit
akzeptiert und darauf Rücksicht nimmt." Doch wenn sie erst mal Vater
werden, fällt es auch Grünen-Politikern schwer, diese Forderungen im Alltag
umzusetzen.
## Zum Spielen ins Büro von Papa
In [1][Cem Özdemir]s Büro steht, etwa auf Nasenhöhe seiner knapp
sechsjährigen Tochter, Holzspielzeug. Eine Eisenbahn und Schienen, dazu
bunte Wachsmalstifte. Nahe dem Schreibtisch, aufgeräumt und sichtbar für
jeden Gast. Was ist daran Inszenierung, was Notwendigkeit? Und lässt sich
das überhaupt trennen in einer Branche, in der das Private immer
selbstverständlicher auch politisch ist? "Manchmal kommen beide Kinder auch
zum Spielen ins Büro. Ich versuche, möglichst wenig Arbeit nach Hause zu
bringen, was allerdings in diesem Job eine echte Herausforderung ist."
Ende 2009, nach der Geburt seines Sohnes, ging Özdemir für sechs Wochen in
Elternzeit. In Interviews musste er erklären, dass die Welt nicht
untergehe, wenn er das ohnehin nachrichtenarme Jahresende zu Hause
verbringe. Politische Gegner warfen ihm vor, er nehme seinen Job als
Parteichef nicht ernst. Andere applaudierten ihm. Nur eines war Özdemirs
Schritt nicht: selbstverständlich.
"Dabei ist ja viel spannender, was nach den sechs Wochen kam", sagt
Özdemir. "Wie lässt es sich vereinbaren, einen Job zu haben, der den ganzen
Mann oder die ganze Frau fordert, ohne gleichzeitig nur ein halber Papa
oder eine halbe Mama zu sein? Vor dieser Bewährungsprobe stehe ich gerade,
jeden Tag wieder."
## Arbeitsteilung mit Claudia Roth
Und da fangen die Probleme erst an. "Es gibt da einfach ein Korsett, das
ich auch als Chef nicht abstreifen kann. Gremiensitzungen werden nun mal
nicht verschoben, weil einer nicht kann." Wenn er Gast im Morgenmagazin
ist, heißt das: Das gemeinsame Frühstück mit der Familie fällt aus. Özdemir
ist verheiratet mit einer aus Argentinien stammenden Journalistin. Manchmal
findet der Grünen-Chef einen Mittelweg: Wenn er etwa an Sonntagabenden um
21 Uhr an einer Telefonkonferenz teilnimmt, ist sein Einjähriger mitunter
noch wach. Die Lösung: Er sagt seinen Teil, stellt sein Telefon dann auf
stumm und hört nur zu.
Özdemir teilt sich den Parteivorsitz mit Claudia Roth. Die Besuche in 16
Bundesländern und die entsprechende Zahl der Parteitage teilen sie unter
sich auf. "Da lernt man die Doppelspitze ganz neu schätzen." Trotzdem hat
er nicht mehr so viel Zeit wie früher: "Ich kann nicht an jeder Diskussion
bis tief in die Nacht teilnehmen, woran sich manche bei uns
leidenschaftlich erfreuen. Es muss, ehrlich gesagt, auch gar nicht sein."
Einen willkommenen Nebeneffekt hat seine Elternzeit: Sein Beispiel fordert
Migranten heraus, Stellung zu beziehen. Auf Veranstaltungen, etwa vor
türkischen Kulturvereinen, sorgen die Worte des Einwandererkinds über die
Vereinbarkeit von Job und Familie für Aufsehen: "Wenn ich da von meinen
Erfahrungen berichte, geht das schon in die Richtung eines Ratgebers. Die
Frauen reagieren meist etwas euphorischer als die Männer, und die Jüngeren
fühlen sich gegenüber den Älteren bestätigt."
Skeptisch zeigen sich auch konservative Beobachter. Die Welt schrieb 2009:
"Kaum vorstellbar, dass in den 80er Jahren bei den Grünen (ein) ehemaliger
Straßenkämpfer in Elternzeit gegangen wäre." Das Verhältnis der Jüngeren
"zur Politik ist weniger ideologisch, der Wille zur Macht weniger
ausgeprägt, und sie müssen in Elternzeit". Sie "müssen"? Dagegen verwehrt
sich Özdemir: "Die Post-Fischer-Generation will beides. Das hat mit einem
Mentalitätswandel in der gesamten Gesellschaft zu tun. In ein paar Jahren
oder Jahrzehnten wird das ganz normal sein. Wir wollen eben alles und dabei
auf nichts verzichten."
## Lieber Kinder statt Karriere
Einer, der fürs erste Kind auf einen möglichen Karriereschritt verzichtete,
ist [2][Volker Ratzmann]. Der 51-Jährige sitzt in einem Café in
Berlin-Mitte, und er sieht erholter aus als zu Zeiten, als er noch nicht
zwei kleine Kinder hatte. Schlanker, ausgeruhter. "Die Terminkoordination
ist schon eine Herausforderung. Aber es geht, wenn man die Mitarbeiterinnen
einbezieht und beide Eltern gleichberechtigt ihre wichtigen Termine
wahrnehmen können. Und es diszipliniert ungemein."
Der Grünen-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus strebte 2008, wie
Özdemir, an die Parteispitze. Damals sagte er die Kandidatur ab mit der
Begründung, er wolle sich Zeit fürs Kind nehmen, das seine Lebensgefährtin
erwartete. Am Revers trägt er das Berliner Wappen, einen Bären, in grüner
Farbe. Am kommenden Sonntag wird in der Hauptstadt gewählt. Die Grünen
kämpfen seit Monaten gegen schwindende Umfragewerte an. Der Traum von einer
Regierenden Bürgermeisterin Renate Künast schwinden.
Einen Vorsprung hat Ratzmann gegenüber Özdemir: "Gegenüber den
Flächenländern haben wir einen Riesenvorteil, Politik in einem Stadtstaat
zu betreiben. Es ist ein Wahlkampf der kurzen Wege und ohne
Auswärtstermine." Mittlerweile ist Ratzmanns zweites Kind geboren. Beim
Sonderparteitag zum schwarz-gelben Atomausstieg Ende Juni trug Ratzmann den
Säugling auf den Arm. Die Bundesdelegiertenversammlung fand
praktischerweise in Berlin statt. Elternzeit können Parlamentarier in
Deutschland laut Gesetz nicht nehmen. Sie sind keine Angestellten, sondern
auf Zeit gewählte Volksvertreter.
Ratzmanns Lebensgefährtin ist Kerstin Andreae. Die 42-Jährige ist
Grünen-Abgeordnete im Bundestag. Für Ratzmann zog sie aus Baden-Württemberg
nach Berlin. Neben den zwei Kindern mit Ratzmann hat sie einen Sohn aus
erster Ehe. Die Reala gilt als mögliche Nachfolgerin im Fraktionsvorsitz,
sollte Künast nach der Wahl wider Erwarten in der Berliner Landespolitik
bleiben. Regieren die Grünen in der Hauptstadt mit, scheint Ratzmann ein
Senatorenposten sicher. So oder so: Auf Ratzmann kommt weiterer Stress zu,
im Job wie privat.
Weiter südlich, im konservativen Baden-Württemberg, versuchte die CDU aus
der Elternzeit eines Grünen politisches Kapitel zu schlagen. Im Oktober
2010 begannen die Schlichtungsgespräche zum Bahnhof Stuttgart 21. Statt
Winfried Kretschmann nahm [3][Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer]
(Grüne) am ersten Gespräch teil. Palmer war eigentlich in zweimonatiger
Elternzeit. CDU-Generalsekretär Thomas Strobl ätzte: "Für die Bürgerinnen
und Bürger Tübingens, die ihn in einer Direktwahl zu ihrem
Oberbürgermeister gewählt haben, hat Herr Palmer keine Zeit, weil er ja
seine Elternzeit nimmt. Für den Stuttgarter OB-Wahlkampf nimmt er sich aber
offenbar Zeit - denn um nichts anderes geht es ihm letztlich doch […]. Ob
das mit dem Sinn seines Amtseides in Tübingen vereinbar ist, muss er mit
sich selber ausmachen. Den Rest mit der Mutter seines Kindes."
## Die Oma hat geholfen
Unsinn sei das gewesen, sagt Palmer heute: "S 21 hat meine Elternzeit nicht
sonderlich beeinflusst." Nur drei Tage Auszeit von der Auszeit habe er sich
genommen. "An den Schlichtungstagen hat uns die Großmutter mit der
Kinderbetreuung geholfen." Für den heute 39-Jährigen erwies es sich als
Vorteil, zugleich Behördenchef und junger Vater zu sein: Er konnte Termine
einfach umlegen. "Weil ich im Oktober, als der Haushaltsplan anstand, in
Elternzeit war, haben wir ihn erst im November verabschiedet." Für alle
Politiker, die sich Auszeiten nehmen, gelte: "Man braucht Leute, die in der
eigenen Abwesenheit die politische Linie mittragen."
Die Taktiken, die junge Väter in der Politik anwenden, um oben zu bleiben,
mögen sich unterscheiden. Aber sie eint der Umstand, dass das Private immer
auch politisch interpretiert wird. Palmers Lebensgefährtin, die
Grünen-Europaabgeordnete Franziska Brantner, zeigte sich in der
Schwangerschaft demonstrativ mit einem T-Shirt, auf dem stand: "Dads are
parents too."
12 Sep 2011
## LINKS
[1] /Wahlkampfaktion/!75581/
[2] /Gruene-Debatte-ueber-Gruen-Schwarz/!77598/
[3] /Palmer-will-Gruene-konservativer-machen/!71622/
## AUTOREN
Matthias Lohre
## TAGS
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
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Schwerpunkt Stuttgart 21
Schwerpunkt Atomkraft
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