# taz.de -- Ver.di-Bundeskongress in Leipzig: Direkte Verkaufe vor Ort | |
> Mit geschickter Akquise und mehr Demokratie versucht die Gewerkschaft | |
> ver.di in den Betrieben Fuß zu fassen. Mit kleinen Erfolgen. | |
Bild: Ist um neue Mitglieder bemüht: Gewerkschaft ver.di | |
BERLIN taz | Ver.di rüstet auf. Früher bekamen die Besucher des | |
Ver.di-Bundeskongresses nur eine stabile Tasche, um die Anträge der | |
diversen "Bundesfachgruppenkonferenzen", "Landesbezirkskonferenzen" und | |
"Landesbezirksfachbereichskonferenzen" zu transportieren. Jetzt verschenkt | |
die Gewerkschaft schon einen Trolley, um die kiloschweren Ordner mit den | |
mehr als 1.000 Anträgen beim kommenden Kongress durch die Gegend rollen zu | |
können. | |
Das Material zum Kongress lässt eine Großveranstaltung alten Stils | |
befürchten. Dabei geht die Dienstleistungsgewerkschaft bei der | |
Mitgliederwerbung vor Ort längst neue Wege. | |
"Ver.di hat von allen Gewerkschaften den größten Willen, sich neue | |
Organisationsformen anzueignen", sagt Klaus Dörre, Soziologe und | |
Gewerkschaftsforscher an der Universität Jena. Mit diesen Methoden der | |
Mitgliederwerbung ist die Gewerkschaft neuerdings erfolgreich. Seit 2008 | |
verzeichnet Ver.di bei den Erwerbstätigen mehr Ein- als Austritte. | |
"Organizing" etwa ist eine aus den USA importierte Methode, bei denen | |
hauptamtliche Gewerkschafter versuchen, mit nichtorganisierten | |
Beschäftigten eines Betriebes in Kontakt zu kommen und gemeinsam Konflikte | |
anzugehen. Auf diese Weise sollen mehr Mitglieder rekrutiert werden. | |
Die sogenannte bedingungsgebundene Tarifarbeit ist ebenfalls keine plumpe | |
Agitation, sondern geschickte Akquise: In Firmen, in denen nur wenige | |
Beschäftigte einer Gewerkschaft angehören, machen die Aktivisten den | |
nichtorganisierten KollegInnen klar, dass sich mit einem höheren | |
Organisationsgrad zum Beispiel attraktivere Haustarifverträge aushandeln | |
lassen. | |
Das hat in der privaten Rhön-Klinikum AG beispielsweise gut funktioniert. | |
Dort verdoppelte sich die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten unter den | |
Beschäftigten innerhalb von anderthalb Jahren. Heute kommen knapp 8.000 | |
Ver.di-Mitglieder auf 30.000 Beschäftigte der Kette, die aus etwa 50 | |
Häusern besteht. | |
In der Zentralklinik Bad Berka in Thüringen "hatten wir am Anfang nur 48 | |
Gewerkschaftsmitglieder unter 1.000 Beschäftigten", erzählt Oliver Dilcher, | |
Gewerkschaftssekretär bei Ver.di. Er hat das Konzept der | |
"bedingungsgebundenen Tarifarbeit" vor drei Jahren entwickelt. | |
Am Anfang veranstaltete er einen Workshop für die wenigen aktiver | |
Ver.dianer in der Klinik. Diese befragten dann die MitarbeiterInnen des | |
Krankenhauses: Wo drückt der Schuh am meisten? Dass die Löhne immer noch so | |
viel niedriger sind als im Westen, schlug Krankenschwestern, Pflegern und | |
PhysiotherapeutInnen besonders aufs Gemüt. | |
Die Ver.dianer rechneten ihnen in Flugblättern konkret vor, um wie viel | |
Euro ihre Gehälter steigen könnten, wenn Ver.di im Betrieb mehr Mitglieder | |
und damit mehr Kampfkraft für einen besseren Haustarifvertrag besäße. Die | |
Zahl der Ver.di-Mitglieder in der Klinik wuchs von Monat zu Monat. | |
Der geltende schlechte Haustarifvertrag wurde gekündigt, bei den | |
Verhandlungen wollten die Arbeitgeber keinen Streik riskieren. Die | |
erstarkte Ver.di-Belegschaft erwirkte am Ende ein Plus von 350 bis 400 Euro | |
pro Monat auf dem Lohnzettel. Jeder zweite Beschäftigte in der | |
Zentralklinik ist heute Ver.di-Mitglied. | |
"Mit der neuen Strategie wird ein niedriger gewerkschaftlicher | |
Organisationsgrad im Betrieb, früher oft ein streng gehütetes Geheimnis, | |
offengelegt", erklärt Dilcher. Er dient als Hauptargument gegenüber den | |
Beschäftigten, die noch keinen Mitgliedsausweis haben. | |
Wenn nichtorganisierten Beschäftigten dann von ihren Kollegen bei Ver.di | |
klargemacht werde, dass es doch eigentlich nicht okay sei, eventuell von | |
den Segnungen eines besseren Haustarifvertrages zu profitieren, ohne sich | |
selbst mit einem Prozent vom Bruttolohn als Gewerkschaftsbeitrag zu | |
beteiligen, stiegen die Zugänge, sagt Dilcher. | |
Erfolge mit neuen Strategien kann auch Bernd Riexinger, Geschäftsführer des | |
Stuttgarter Ver.di-Bezirks, nachweisen. "Wir haben in allen zwölf | |
H&M-Filialen in Stuttgart und Umgebung Betriebsräte installiert." | |
Auch hier gingen die wenigen Beschäftigen der Modekette, die bei Ver.di | |
waren, auf die Nichtorganisierten im Betrieb zu. Gemeinsam analysierte man | |
Missstände und einigte sich auf Forderungen. Die direkten Folgen für die | |
vor allem jungen Beschäftigten: Man erstritt eine Regulierung der | |
Arbeitszeiten, etliche Verträge wurden entfristet. | |
## Der Fall Schlecker | |
Auch bei der Drogeriemarktkette Schlecker wurden Betriebsräte installiert | |
und Mitglieder gewonnen. "Da mussten wir Leute aus der Gewerkschaft hin | |
entsenden, die langfristig die Bedürfnisse und Voraussetzungen im Betrieb | |
analysiert haben, um dann gemeinsam mit den Beschäftigten die | |
Konfliktthemen anzugehen," berichtet Riexinger. | |
Der Fall Schlecker war ein klassischer Fall von "Organizing", weil die | |
Gewerkschafter von außen auf die Beschäftigten zugehen mussten und nicht | |
auf schon vorhandene Strukturen im Betrieb bauen konnten. | |
Die Erfolge der neuen Strategien liegen in einer anderen Herangehensweise: | |
Die hauptamtlichen Gewerkschafter halten sich zurück. Was zählt, sind die | |
Wünsche der Beschäftigten vor Ort. "Wenn die Leute die Gewerkschaft als | |
ihre begreifen sollen, müssen sie auch das Sagen haben", sagt Riexinger. | |
Das schlägt sich auch in einem neuen Streikverständnis nieder: Nicht mehr | |
die regionale Gewerkschaftsführung entscheidet, bis wann ein Streik | |
fortgeführt wird. "Das übernehmen die Streikenden selbst, die jeden Tag | |
Streikversammlungen abhalten". schildert Riexinger. | |
## Demografisches Problem | |
Der Arbeitsprotest wird zudem mit öffentlichkeitswirksamen Kampagnen und | |
Aktionen kombiniert, mit Performances oder den sogenannten Flashmobs. Das | |
sind blitzschnell durchgeführte und vorab abgesprochene Massenaktionen, bei | |
denen zum Beispiel scheinbare "Kunden" als Zeichen des Protests | |
Einkaufswagen voll gepackt an der Kasse stehen lassen. | |
"Wenn es eine klar identifizierbare Gerechtigkeitsproblematik gibt, dann | |
zahlt sich Konfliktfähigkeit aus. Sie steigert den Organisationsgrad", | |
erklärt Gewerkschaftsforscher Dörre. Allerdings seien längst nicht alle | |
Mitglieder von Ver.di davon überzeugt. | |
"Es gibt auch genügend Bereiche, beispielsweise Teile des öffentlichen | |
Dienstes, da will man lieber die Besitzstände wahren, statt Neues | |
auszuprobieren." Unterentwickelt seien zudem die Angebote für die | |
Hochqualifizierten und kreativen Selbstständigen. "Da gibt es noch viel | |
Potenzial." | |
## Immer noch Verluste | |
Die neue Mitgliederentwicklung ist ein zartes Pflänzchen. 2010 traten | |
beispielsweise 3.000 mehr Erwerbstätige in Ver.di ein als aus. Dennoch | |
bleibt der Mitgliedersaldo negativ. Viele Ver.di-Mitglieder gehen in Rente, | |
und auch wer arbeitslos wird, gibt häufig den Gewerkschaftsausweis zurück. | |
Im Zehnjahresvergleich zeigt sich der Aderlass: Seit der Fusion aus fünf | |
Einzelgewerkschaften vor zehn Jahren sank die Zahl der Mitglieder von rund | |
2,9 auf knapp 2,1 Millionen. | |
16 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
B. Dribbusch | |
E. Voelpel | |
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