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# taz.de -- Debatte Revoluzzer und Brandsätze: Dann springt doch!
> Die Anschläge auf die Bahn haben mit linker Kapitalismus-Kritik wenig zu
> tun, die Begründung klingt nach Kirchenpredigt. Die Vorlage dafür kommt
> aus Frankreich.
Bild: Liebe Berliner linke Jugend - springt doch lieber, statt die Bahngleise a…
Eine offenbar linke klandestine Gruppe hat Brandsätze neben Bahngleisen
deponiert. Welches Ziel verfolgen die Täter damit? Es gibt ein
Bekennerschreiben, das, anders als die hermetischen RAF-Texte früherer
Tage, in erfreulich klarem Deutsch verfasst ist. Trotzdem ist nicht leicht
zu erkennen, was die Autoren sagen wollen. Sie wollen Berlin in den
"Pausenmodus zwingen" und für Entschleunigung sorgen. Lassen wir beiseite,
dass die marode Berliner S-Bahn auch ohne autonome Benzinbomben für mehr
als genug Entschleunigung sorgt.
Neben derlei Zwangpausen liegen den Tätern folgende Themen am Herzen: der
Afghanistan-Krieg, die deutschen Rüstungsexporte, der Hunger in der Welt,
burn-out, Hartz-IV-Empfänger, der Klimawandel, die Abschottung Europas,
Politik ohne Alternativen, das Schicksal der Revolution in Ägypten, das
Töten von Menschen in Kriegen generell, der Mainstream, zu dem man nicht
gehören möchte und - nicht zu vergessen - Freiheit für Bradley Manning.
Dieser Text enthält fast alle Bestandteile einer Predigt: pro bonum, contra
malum. Dazu passt, dass die moderne Kommunikationstechnologie hier als
Hauptübel gilt. "Immer überall ereichbar sein, immer alles reichbar. Immer
auf ein Ziel zu. Eilend, hastend, rastlos. Menschen sind in dieser
Gesellschaft reduziert auf ihren Materialcharakter", liest man. Also: Legt
eure Handys weg, macht die Computer aus. Haltet inne! Besinnt euch auf euer
authentisches Selbst! Das hat mit Karl Marx nichts zu tun, eher mit Margot
Käßmann.
## Blaupause aus Frankreich
Die Blaupause für diese Tat ist das 2010 veröffentlichte französische
Pamphlet "Der kommende Aufstand". Dieser Essay skizziert eine Art Poesie
der Sabotage und wurde voreilig unter dem Label linksradikal verbucht. Im
Kern agitiert "Der kommende Aufstand" nicht gegen den ungebremsten
Kapitalismus, sondern gegen die Großorganisation Staat und die
arbeitsteilige Gesellschaft, die die Subjekte sich selbst entfremden. "Wir
wurden unserer Sprache enteignet durch den Unterricht, unserer Lieder durch
die Schlagermusik, unserer Körperlichkeit durch die Massenpornographie,
unserer Stadt durch die Polizei."
Diese Modernekritik, die sich gegen die Beschleunigung von Verkehr und
Kommunikation richtet, ist nicht originär links, sie hat eher konservative
Wurzeln. Heideggers Technikkritik stand hier Pate. Soziale Gerechtigkeit,
die der Staat herstellt, ist den Autoren des "Kommenden Aufstands" hingegen
ein Graus. Den Wohlfahrtsstaat, eine Schlüsselidee der Linken, finden sie
"furcht erregend". Da nicken die Neoliberalen.
Wahrscheinlich halten sich die Berliner Täter für Linke. Ob sie dies sind,
darf bezweifelt werden. Ihre diffuse Kritik des "Systems" hat jedenfalls
etwas Selbstbezogenes, Weltabgewandtes, Unpolitisches. Es ist kein Zufall,
dass die drohende globale Implosion des Finanzkapitalismus und die massive
Verarmungsschübe in dem Text so gut wie gar nicht vorkommen.
## Fahrt nach Indien
Wie verquer das ist, erkennt man, wenn man in die USA schaut. Dort bildet
sich gerade eine basisdemokratische Anti-Wallstreet-Bewegung. Sie will die
Demokratie vor dem Diktat der Finanzmärkte retten, weil die Demokratie
kaputt geht, wenn die Politik machtlos ist und die Kluft zwischen Reich und
Arm maßlos. In Berlin hingegen jagt man lieber S-Bahn Pendlern einen
Schrecken ein, rechtfertigt das mit nebeliger Zivilisationskritik und
denunziert die Demokratie als "System". Wenn das die Kapitalismus-Kritik
hierzulande ist, muss sich die Deutsche Bank keine Sorgen machen.
Also, bitte, Hekla-Empfangskomitee: Macht selbst Pause, ehe ihr dem
"System" - faktisch entnervten Pendlern - Zwangspause auf dem Bahnsteig
verordnet. Wenn ihr euch selbst verwirklichen wollt, fahrt nach Indien.
Wenn ihr die Gefahr sucht, geht Bungeespringen. Aber hört auf eure
Selbstverwirklichungswünsche zu politischen Menschheitsfragen aufzublasen.
Am Ende tut sich noch jemand weh.
13 Oct 2011
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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