# taz.de -- Debatte Occupy-Bewegung und Parteien: Lasst euch vereinnahmen! | |
> Auch die Occupy-Bewegung braucht die Parteien. Das ist unsexy, aber wahr. | |
> Doch wer die Welt verändern will, muss aktiv um politische Mehrheiten | |
> kämpfen. | |
Bild: Demonstrationen können Verhältnisse lockern, wenn sie thematisieren, wa… | |
Weltverändern? Der Mann lachte trocken und spöttisch. Warum ich Journalist | |
geworden sei, hatte er mich gefragt, und ich irgendetwas von "Weltverändern | |
durch Aufklären" gemurmelt. Der Soziologe Hans Speier, ich traf ihn 1977, | |
war ein Schüler Karl Mannheims, der das Wort vom "freischwebenden | |
Intellektuellen" geprägt hatte, dem Statthalter der Vernunft im | |
Interessenkampf. | |
Speier hatte in Berlin gelehrt und musste 1933 fliehen. "Weltverändern?", | |
sagte er, "da haben Sie den falschen Beruf gewählt. Völlig falsch. Wenn Sie | |
die Welt verändern wollen, dann müssen Sie in eine Partei gehen und um | |
Mehrheiten kämpfen." | |
Sein Ton war unerträglich belehrend, und nach diesem barschen Vorgespräch | |
passierte mir, was mir nie zuvor passiert war und nie wieder danach: Ich | |
habe Hans Speier in Hartsdale/NY drei Stunden lang interviewt, und als ich | |
nach Hause kam, war nichts auf den vier Bändern. Ich habe das damals im WDR | |
niemandem erzählt, so sehr habe ich mich geschämt. | |
## Soziologie für Anfänger | |
Jetzt fiel es mir wieder einmal ein, in diesen Tagen der "Globalisierung | |
des Wutbürgers", an der keine Partei und keine Gewerkschaft Anteil hatte | |
-selbst Attac spielte nicht die erste Geige. Der Ausruf des "Occupy | |
Frankfurt"-Sprechers ("Wir werden immer mehr; kämpft weiter bis zum | |
bitteren Ende!") ist zwar orakulös; und auch Heribert Prantls Jubel über | |
die Konstituierung einer "europäischen Öffentlichkeit" scheint mir | |
verfrüht. Aber es ist, wieder einmal, ein starker Anlauf. | |
Verdächtig schnell kam die Verlautbarung, Angela Merkel, "verstehe | |
persönlich" die Platzbesetzer und denke nun auch auch - wie vor ihr Paul | |
Kirchhoff und Oskar Lafontaine - über die Isolierung der Investmentbanken | |
nach, allerdings wohl erst 2019. Auch Wolfgang Schäuble kann sich 12 Jahre | |
nach der Attac-Gründung plötzlich einen deutschen | |
Finanz-Transaktionssteuer-Alleingang vorstellen. Selbst die "Welt" der | |
Turboaristokratie scheint erschütterbar, wenn außer Ulf Poschardts | |
softpornografischem Leitartikel, der von "Occupy Wall-Street" vor allem den | |
"wie von Botticelli gemalten Engel mit Idealmaßen" wahrnimmt, weiter hinten | |
im Blatt die klammheimliche Bewunderung für Sarah Wagenknecht ihren Platz | |
findet. | |
Aber bei aller Freude gehen mir dann doch einige Grundeinsichten der | |
politischen Soziologie nicht aus dem Kopf. Erstens: Demonstrationen können | |
Verhältnisse lockern, wenn sie thematisieren, was anders nicht ins | |
öffentliche Bewusstsein dringt. Aber was verändern sie noch, wenn die | |
Eliten selbst seit Jahren klagen, dass ihr System nicht mehr funktioniere, | |
die Politik aber leider machtlos sei - und "99 %" der Bevölkerung | |
inzwischen auch davon ausgeht? | |
## Zorn ist stets erneuerbar | |
Zweitens: Jede Lobby ist wirkmächtiger als ein noch so starkes allgemeines | |
Interesse. Und durchsetzungsfähig ist nur, was die politischen Eliten als | |
ernsthafte Bedrohung wahrnehmen: Kaum war die "Linke" im Parlament, wurde | |
auch in den "Volksparteien" über die Millionärssteuer ernsthaft diskutiert | |
- und mit dem Schwächeln der Konkurrenz ebenso schnell zur Tagesordnung | |
übergegangen. | |
Drittens: In der Demokratie der "Volksparteien"- und davon haben wir | |
mittlerweile drei - balancieren sich in jeder Partei "systemstützende" und | |
"systemverändernde" Kräfte; die Möglichkeit struktureller Veränderungen | |
wird vom Verhältnis der Kräfte innerhalb dieser Parteien bestimmt. | |
Viertens: Nur Parteien können die Motive des Protests wirksam auf Dauer | |
stellen, aber die ehernen Mechanismen der Oligarchie und der | |
Elitenkooperation verzehren regelmäßig die radikale Energie und die Kräfte | |
der Akteure. Daran hat sich, seit Robert Michels vor genau hundert Jahren | |
seine "Soziologie des Parteienwesens" schrieb, nichts geändert. Ein | |
"grausames Spiel", schreibt Michels, aber auch eine andauernde Ermutigung, | |
denn Zorn ist eine erneuerbare Energie. Und wer, wenn nicht unsere Parteien | |
in ihrem derzeitigen Zustand, könnte das besser gebrauchen? | |
## Mut zur Scham | |
So hoffe ich, dass die Resistenz der neuen "Okkupanten" gegen ihre | |
Vereinnahmung durch die "etablierten" Parteien ebenso wenig von Dauer sein | |
wird wie deren Resistenz, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. | |
"Kämpfen Sie für Mehrheiten", sagte der graurealistische Soziologe in | |
Hartford. Im Klartext: Lassen Sie sich vereinnahmen! Mit einer symbolisch | |
präzisen Fehlleistung bestätigte ich diesen Satz: viermal den Schalter auf | |
"Play" statt auf "Record" gedreht. | |
Hans Speier hat auch ein schönes Buch über die "Mutter Courage" | |
geschrieben. Die sagt - bei Brecht - zu einem Soldaten, der gegen | |
offensichtliches Unrecht aufbegehrt: "Deine Wut ist gut, aber nur, wenn sie | |
eine lange Wut wird. Ist sie nur kurz, geh besser gleich nach Hause." Die | |
"Zornbanken" der neuzeitlichen Demokratie aber - so das schöne Wort von | |
Peter Sloterdijk - sind und bleiben die Parteien. "Mut zur Wut" stand in | |
Frankfurt auf dem Transparent eines verdienstvollen Apo-Veteranen. | |
Mit Verlaub: Zur Wut gegen die Eliten braucht man kein Gramm Mut. Eher | |
schon zu der Wut, die sich gegen einen selbst kehrt: als Scham. Scham | |
darüber, dass zu viele von uns etablierteren Älteren, die wir andere | |
Ausdrucksmöglichkeiten als Protestcamping kennen und ein wenig Erfahrung | |
mit der Verlaufsform sozialer Bewegungen haben, nicht genug von unserer Wut | |
auf die Zornbanken getragen haben. Uns vor der Erkenntnis geschützt haben, | |
dass stabile politische Fortschritte fast immer darauf beruhten, dass sich | |
Aktivisten "vereinnahmen" ließen: von der SPD, von den Grünen, ja: vom | |
Staat. | |
Unser Wissen über epochale Bedrohungen, globale Engpässe, zerstörerische | |
Finanzmacht steht in groteskem Missverhältnis zu unserer Bereitschaft, für | |
politische Mehrheiten zu kämpfen - und das heißt zunächst: in nervigen | |
Ortsvereinen Lebenszeit zu opfern. Aufbrüche kann man nicht | |
herbeischreiben; die geschehen, so wie jetzt, und versanden, wie so oft. | |
Zum belastbaren Langzeitbürger aber muss man sich entschließen … Und an | |
dieser Stelle höre ich allerdings, von irgendwoher, dieses trockene, | |
spöttische Lachen. | |
19 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Mathias Greffrath | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
"Occupy" am Samstag: Mit Zelt für eine bessere Welt | |
Die Bankenproteste gehen weiter. Attac und "Occupy" rufen für Samstag | |
deutschlandweit zu Demonstrationen auf. Auch rechte Populisten wollen | |
protestieren. | |
Occupy-Bewegung: Die dunkle Seite des Bankenprotests | |
Eine obskure US-Vereinigung vereinnahmt die Occupy-Bewegung. Ihre Anhänger | |
geben sich offen, doch auf Kritik reagieren sie empfindlich. | |
App für "Occupy-Bewegung": Flüstern oder brüllen - immer anonym | |
Mit der App Vibe ist es möglich, anonym mit Menschen in seiner Umgebung zu | |
chatten. In New York wird die Technik von der "Occupy Wall Street"-Bewegung | |
genutzt. | |
Occupy-Bewegung in Deutschland: Und sie bleiben | |
Für die Demonstranten vor der EZB in Frankfurt und in Hamburg geht der | |
Protest noch Wochen weiter. Mittlerweile bekommen die Aktivisten | |
Unterstützung von außerhalb - auch von einer Bank. | |
Protestbewegung Occupy: Aktivisten harren im Bankenviertel aus | |
Die Aktivisten wollen am EZB-Gebäude in Frankfurt/Main bleiben. In Hamburg | |
wurde das Zeltlager zum Infopavillon herabgestuft. Die Berliner Behörden | |
zeigen sich stur. | |
Video von Occupy-Berlin: Auch Polizisten dürfen mitreden | |
Bei Occupy Berlin wollte der Polizeiführer auch mal was sagen - und er | |
durfte. Die Demonstranten wollten ihn gleich zu ihrem Leiter machen. | |
Aktivisten vor dem Reichstag: Polizei bekämpft Lagerbildung | |
Die Polizei geht rigoros gegen Zelten als Protestform vor. Das ist | |
unzeitgemäß, sagt ein Anwalt und beruft sich auf das Verfassungsgericht. | |
Occupy-Bewegung: Die Verstärker in der Massenkommunikation | |
300 Menschen sitzen vor dem Reichstag und debattieren. Dabei lernt selbst | |
die Polizei noch etwas dazu. |