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# taz.de -- Wirtschaftskrise in Argentinien: Als nichts mehr ging, ging alles w…
> Vor zehn Jahren brach Argentinien zusammen. Eine, die da war, erzählt von
> plötzlicher Armut, Tauschwirtschaft und Arbeiterinnen, die Betriebe in
> Eigenregie übernahmen.
Bild: Mit Topf und Deckel: Zwei Argentinierinnen scheppern gegen Jahrzehnte neo…
Der entscheidende Tag war der 1. Dezember 2001, als die Regierung
beschloss, die Sparkonten einzufrieren. Von diesem Moment an wurde kaum
noch Bargeld ausgegeben, möglich waren nur noch Überweisungen vom
Girokonto.
Darauf aber waren weder die Banken vorbereitet - für eine simple
Überweisung musste man stundenlang in der Schlange stehen - noch die
argentinische Gesellschaft - 40 Prozent der Bürger besaßen gar kein Konto
und fast die Hälfte arbeitete schwarz.
Die Bevölkerung war empört, und zwar quer durch alle Schichten. Wer etwas
gespart hatte, kam nicht mehr an sein Geld. Und die Armen waren völlig aus
dem Geldkreislauf ausgeschlossen. Die Mittelschicht stürmte die Banken:
Damen mit Perlenketten und Dauerwelle schlugen die Fenster der Filialen ein
und drangsalierten die Angestellten. In jenen Monaten hatten alle Banken
einen Verhau aus Holz um ihre Fenster und Türen, als Schutz vor betrogenen
Sparern.
Alternativen mussten her, und zwar schnell. In der schicken Millionenstadt
Buenos Aires begannen die Menschen von Tauschgeschäften zu leben. So
entstand neben dem Bahnhof Lacroze ein riesiger Markt, auf dem Gemüse und
Kleidung ebenso zum Tausch angeboten wurde wie Zahnbehandlungen oder
Haareschneiden.
Doch was konnte man zum Tausch anbieten? Handwerker standen hoch im Kurs;
eine Schuhreparatur gegen Fleisch oder Kartoffeln war ein fairer Handel.
Andere Berufsgruppen hatten es schwerer: Was konnte ein
Musikwissenschaftler oder Steuerberater in einen Tauschmarkt einbringen?
Die Situation dieser hochkomplexen Gesellschaft war mehr als absurd.
Hungrige Musikwissenschaftler mussten Hobbys wie Backen oder Nähen zur
Hauptbeschäftigung machen.
## Hungrige Musikwissenschaftler
Zusätzlich zum unmittelbaren Tauschgeschäft entwickelten die Leuten binnen
kurzer Zeit ein System von Tauschcoupons, die neben die offizielle
Landeswährung, den Peso, traten. Diesen gab es nach wie vor, und er hatte
auch nicht an Wert verloren. Doch das Problem war, dass man nicht
unbegrenzt Zugang zu Bargeld hatte. Hinzu kam, dass auch einige Provinzen
bankrott waren und ihrerseits eigenes, nur in der jeweiligen Provinz
gültiges Ersatzgeld drucken ließen, um damit ihre Angestellten zu bezahlen,
genauer: um bestimmte Beamte zu bezahlen.
Denn Lehrer beispielsweise bekamen schon seit Monaten kein Gehalt mehr und
streikten darum einmal pro Woche. Das Gehalt der Polizeibeamten hingegen
wurde weiter überwiesen. Und Polizisten wurden nun mehr denn je gebraucht.
Aber wie war es überhaupt dazu gekommen? Nahezu alle südamerikanischen
Staaten hatten sich mit den Diktaturen der siebziger und achtziger Jahre
der neoliberalen Wirtschaftspolitik verschrieben: Flexibilisierung der
Arbeit, Privatisierung der Staatsbetriebe, Abbau der Sozialleistungen.
Um der hohen Inflationsrate entgegenzuwirken, koppelte Argentinien 1991 die
Landeswährung mit dem festen Wechselkurs von eins zu eins an den US-Dollar.
Die Inflation wurde damit tatsächlich gestoppt, und der Internationale
Währungsfonds belohnte die argentinische Wirtschaft mit frischen Krediten.
Doch die Auslandsschulden wuchsen nun ins Unermessliche. Und nicht der
Staat versank in Schulden: Mit dem extrem überbewerteten Peso machte die
Mittelklasse Urlaub in Miami und kaufte neue Autos auf Raten.
Das gute Leben war plötzlich zu Ende, als sich Mitte 2001 der IWF weigerte,
Argentinien die nächste Tranche zu überweisen. Die Regierung fror die
Sparkonten ein, um den stetigen Abfluss von Devisen aus dem Land zu
stoppen. In Argentinien sah man das Ende einer Wirtschaftspolitik, die von
den internationalen Finanzinstitutionen hoch gelobt wurde und die über zwei
Jahrzehnte hinweg ein reiches Land langsam, aber sicher in den Abgrund
rutschen ließ.
## Aufstand gegen neoliberale Wirtschaftspolitk
##
Aber die Argentinier nahmen den Zusammenbruch nicht stumm hin. Zuerst
organisierten sich die Arbeitslosen, die regelmäßig mit Tausenden von
Leuten große Straßen sperrten. Ihre Forderungen muteten bescheiden an:
geringe Arbeitslosenunterstützung oder die bessere Ausstattung eines
lokalen Krankenhauses.
"Piqueteros", Streikposten, nannten sich diese Arbeitslosen. Und weil sie
keine Betriebe bestreiken konnten, bestreikten sie eben die Straße. Eine
typische Wochenbilanz damals: 150.000 Demonstranten, 500 gesperrte Straßen
im ganzen Land.
Der heute 32 Jahre alte Martín Gómez aus La Matanza, einem armen Vorort von
Buenos Aires, war damals dabei: "Die Mehrheit der Leute war arbeitslos, und
dann wollten sie uns auch noch ein Sparprogramm aufzwingen. Uns blieb keine
andere Möglichkeit, als Straßensperren zu errichten. Wenn man nicht die
Straße blockiert, hört überhaupt niemand einen an."
In Buenos Aires entstand freitagabends ein Ritual: Um acht Uhr abends
nahmen die Menschen einen Topf und einen Deckel in die Hand und gingen zu
Tausenden raus. Stundenlang liefen sie die Hauptstraßen entlang oder
standen an einer Ecke und machten Krach, normale Bürger und Bürgerinnen,
Junge und Alte, ganze Familien mit Kindern.
## Das gute Leben war vorbei
Der Protest richtete sich gegen korrupte Politiker und Richter, gegen die
neoliberale Wirtschaftspolitik des Landes, gegen die Banken, die die Konten
der Bürger eingefroren hatten und aus der Krise ein Geschäft machten.
"Cacerolazo", Töpfeaufstand, nannte man diese Form des Protests und das
Motto lautete: "Que se vayan todos!" - "Alle sollen abhauen!", ein
geflügelter Spruch jener Monate, der überall skandiert, gebrüllt und
geschrieben wurde. Damit war die gesamte Politikerklasse gemeint, der
niemand mehr über den Weg traute.
Der "Cacerolazo" war ein Protest gegen die Sparpolitik, die hauptsächlich
die Armen traf, wie die heute 42-jährige Raquel Weisman erzählt: "Wenn der
Staat Geld braucht, soll er an die Verträge gehen, die er bei den
Privatisierungen mit den Käuferfirmen abgemacht hat! Diese Firmen scheffeln
Geld in Argentinien, ohne hier zu investieren."
Zwischen Dezember 2001 und Februar 2002 rutschten vier Millionen Menschen
unter die Armutsgrenze. Über Nacht tauchten ganze Familien auf, die auf der
Straße im Müll wühlten - ein Phänomen, das es in Buenos Aires zuvor nicht
gegeben hatte.
Immer wieder wurden Supermärkte oder andere Geschäfte geplündert, Ende
Dezember 2001 kamen bei Plünderungen und Ausschreitungen an einem Tag 27
Menschen ums Leben.
## Zusammenhalt und Solidarität
Verzweiflung machte sich breit: Als beispielsweise eine Perückenfabrik in
Rosario sich keine Importe von Kunsthaaren mehr leisten konnte und mit
einer Anzeige nach menschlichem Haar suchte, meldeten sich binnen zwei
Tagen 400 Menschen, die ihre Haare, und manchmal auch das Haar ihrer
Kinder, zum Verkauf anboten. Doch zu einer allgemeinen Verrohung der
Gesellschaft kam es nicht. Und neben der Gewalt und der Verzweiflung
entwickelte sich in diesen schwierigen Zeiten noch etwas: eine große
Solidarität zwischen den Menschen.
Sichtbar wurde sie bei den Mittelschichtsfrauen, die Volksküchen eröffneten
und abends mit einem Topf voll Essen am Straßenrand standen, um Hungrigen
eine warme Mahlzeit zu geben. Sichtbar wurde die Solidarität auch unter den
Armen, die Kooperativen gründeten und das Wenige, das sie hatten,
miteinander teilten.
Einige hundert bankrotte Fabriken, die von ihren Eigentümern dichtgemacht
worden waren, wurden von den Arbeitern besetzt und unter Selbstverwaltung
wieder in Betrieb genommen. Viele dieser besetzten Fabriken funktionierten
über Jahre hinweg und sorgten für ein stabiles Einkommen für die Arbeiter
der Kooperativen.
Dante Aguilera etwa arbeitete zwanzig Jahre lang bei einem Unternehmen in
Buenos Aires, das Grisini, eine Art Salzstangen, herstellte. Anfang 2002
wurde die Fabrik von den Arbeitern und Arbeiterinnen übernommen. Für
Aguilera bedeutete die Arbeit in der Fabrik in eigener Regie eine reine
Freude - das erste Mal in seinem Leben, dass er mitbestimmen konnte an
seinem Arbeitsplatz. Er begann Kontakt mit anderen Fabriken aufzunehmen, wo
die Arbeiter ebenfalls die Produktionsstätten besetzt und Kooperativen
gebildet hatten. Ein neues Zeitalter schien angebrochen, inmitten der
Krisenstimmung entstand plötzlich eine Art politischer Euphorie.
## Euphorie in der Krise
Und ein weiteres Phänomen mobilisierte die Argentinier: Volksversammlungen.
Plötzlich entstanden in den Vierteln von Buenos Aires organisierte, aber
überparteiliche Versammlungen. Dieselben Nachbarn, die bei den
Topfprotesten und Straßenbarrikaden mitmachten, trafen sich regelmäßig an
einer Straßenecke oder in Parks und diskutierten über Politik.
Die Stimmung erinnerte an eine Räterepublik, in der die Bürger nicht mehr
die Politiker für sich entscheiden lassen, sondern ihr Schicksal in die
eigene Hand nehmen. Es herrschte ein Gefühl des gemeinsamen Aufbruchs. "Das
sind neue Zeiten", sagten die Bürger, "nie mehr werden wir uns
gegeneinander ausspielen lassen." Verarmt, aber selbstbewusst.
Und jetzt, zehn Jahre später? Das meiste davon ist wieder dem
Individualismus gewichen, da die Lage sich drastisch gewandelt hat. Im Jahr
2002 erklärte Argentinien seine Zahlungsunfähigkeit, was den Grundstein
legte für eine Umschuldung und den Neuanfang. Im vergangenen Jahr lag die
Wachstumsrate bei 9,2 Prozent.
Was nimmt man mit von dieser Erfahrung? Zwar ist das Gefühl, dass man sich
auf Dinge wie Banken, Rentenkassen und das Geldsystem verlassen kann, ein
für allemal verloren. Aber das lässt nicht unbedingt Verunsicherung zurück.
Im Gegenteil: Man weiß, selbst wenn das Finanzsystem zusammenbricht, geht
das Leben weiter, und dass Omas Sparstrumpf manchmal sicherer ist als eine
Bank - jedenfalls, so lange dort sichere Devisen lagern.
Das Beste ist jedoch die Erfahrung der starken Solidarität, die sich
zwischen den Menschen in dieser Lage entwickelt; das lebendige Bewusstsein
des Satzes "Gemeinsam sind wir stark". Und man lernt andere nützliche
Dinge, die sich noch als wertvoll erweisen könnten: Ich kann beispielsweise
in einer einzigen Ampelphase auf der Straße eine Barrikade bauen, anzünden
und damit eine Kreuzung blockieren. Wer weiß, wozu dieses Wissen noch gut
ist.
20 Oct 2011
## AUTOREN
Sheila Mysorekar
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