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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Wir sind der Markt
> Mehr oder weniger alle werden in die Spiele der Spekulanten an der Börse
> hineingezogen. Das hat die globale Privatisierungs- und
> Deregulierungsmanie bewirkt.
Bild: Aktivisten von Attac tanzen den "Bankenwechsel-Tango"
Ob wir Zeitung lesen, Radio hören oder fernsehen, immer ist in diesen
Krisenzeiten von den "Märkten" die Rede. Sie stellen alles Mögliche an: Sie
sind nervös, erholen sich, zaudern, steigern sich in Euphorie. Sie
bezichtigen politische Akteure der Unglaubwürdigkeit, führen diesen oder
jenen Staat als unsoliden Schuldner vor, drängen auf radikale Sanierung der
Staatsfinanzen. Gestandene Ökonomen spekulieren, wann "die Märkte wieder
angreifen", oder nehmen sie gar als "ein Rudel Wölfe" wahr. (1)
Kurzum, alle reden, als ob die "Märkte" kapriziöse Personen wären. Aber wer
soll das sein, die "Märkte"? Obwohl sie dauernd in den Nachrichten
auftauchen, also offenbar genau beobachtet werden, ist der herrschende
Eindruck, dass sie große, anonyme Mächte darstellen. Selbst wo von
"Investoren" oder Anlegern" die Rede ist, also immerhin von Personen,
erfährt man selten, um wen es sich handelt. Weil Ross und Reiter nicht
benannt werden, assoziieren wir mit diesen "Märkten" irgendwelche
Zusammenrottungen oder Verschwörungen gieriger Spekulanten, Banker,
Heuschrecken, Hedgefonds, Krisengewinnler.
Dabei ist unsere Alltagsvorstellung von einem Markt eine ganz andere. Das
ist ein öffentlich zugänglicher Ort, an dem sich Kauf- und
Verkaufsinteressenten treffen. Die Anbieter stellen ihre Waren mit
erwünschten Preisen vor, die Nachfrager schauen sich um, vergleichen,
kaufen oder auch nicht, oft nachdem über Preise verhandelt wurde. Das ist
weder für die Beteiligten noch für den Beobachter besonders aufregend und
hat nichts mit jener fiktiven Kollektivperson zu tun, der man Gemütslagen
wie Nervosität, Hektik, Freude oder Depression zuschreibt. Ist hier
womöglich von etwas anderem die Rede?
So ist es. Bei "den Märkten" geht es um die Finanzmärkte, vorzugsweise die
Börsen. Und was da gehandelt wird, sind Waren zweiter oder dritter Ordnung,
also nicht Obst, Lokomotiven oder Nagellackentferner, sondern: Aktien,
Devisen, Schuldverschreibungen und Derivate. Es geht um Papiere, auf denen
Unternehmensanteile, Eigentumsrechte, Zahlungsverpflichtungen,
Fremdwährungsguthaben, Warentermingeschäfte notiert sind.
Warum ist der Handel mit solchen Objekten aufregender als der mit Konsum-
oder Produktionsgütern? Was die Finanzmärkte von normalen Märkten
unterscheidet, ist der höhere Anteil rein spekulativer Transaktionen. Die
Marktteilnehmer sind so nervös und erregbar, weil sie mehr oder weniger
riskante Wetten abschließen und auf hohe Gewinne hoffen.
Es ist wie beim Hahnenkampf in südlichen Ländern. Dramatisch ist nicht der
Kampf, nicht die Frage, welcher Gockel den anderen niedermacht. Die
Emotionen kommen ins Spiel, weil die Zuschauer vor dem Kampf auf den
Ausgang gewettet haben. Jetzt hoffen und bangen sie: Ist der Einsatz
verloren, oder vermehrt er sich?
## Eingepreiste Erwartungen
Das Börsengeschehen ist Spekulation. Es geht also weniger ums Kaufen und
Verkaufen als vielmehr darum, dass die Beteiligten Preis- oder
Kursentwicklungen antizipieren, um dank ihrer Antizipation Gewinne
einzustreichen; oder dass sie Preisdifferenzen und -inkonsistenzen
beobachten, die Arbitragegeschäfte (2) ermöglichen. Bei beiden Formen der
Spekulation ist der Faktor Zeit entscheidend: Gewinne macht, wer eine
Chance als Erster sieht und nutzt. Dadurch kommt die Hektik auf, die das
Börsengeschehen so aberwitzig aussehen lässt und die durch Nutzung
modernster Kommunikationstechniken immens gesteigert wird.
Das Prinzip bleibt jedoch gleich. Wer als Erster die Information hat, dass
die Kaffeeernte in Nicaragua wegen Unwetterschäden schlechter ausfallen
wird, kann erhöhte Preise antizipieren und schnell zu dem Preis kaufen, der
auf den alten Ernteerwartungen beruht, um ebenso schnell wieder zu
verkaufen, wenn die neuen Erwartungen "eingepreist" sind.
Und wer um die Zahlungsfähigkeit der Leute weiß, denen mithilfe von
Subprime-Hypotheken fragwürdige Immobilien verkauft wurden, kann deren
Schuldnerverhalten beobachten und, sobald eine relevante Zahl die
Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllt, darauf wetten, dass die Kurse
für die aus diesen Hypotheken zusammengebastelten Wertpapiere sinken.
Wetten auf Kursfall nennt man "short sales", zu Deutsch "Leerverkäufe".
Obwohl diese neuerdings einen schlechten Ruf haben, gehören sie – im
Unterschied zu ungedeckten Leerverkäufen – zum normalen Börsengeschehen.
Bei beiden handelt es sich um Spekulation auf Baisse, also auf fallende
Kurse.(3)
Früher war das Wissen um diese Abläufe nur etwas für Eingeweihte. Daran hat
sich bis heute nicht viel geändert. Aber die globale "financialisation" hat
inzwischen dazu geführt, dass der Schwanz der Finanzmärkte mit dem Hund der
Weltwirtschaft wedelt. Weshalb die ganze Welt betroffen ist, wenn etwas
schiefgeht. Darum wird der verbreitete ökonomische Analphabetismus, das
Unwissen über die Funktionsweise der Finanzmärkte immer mehr zum Problem.
Politiker wie Wähler scheinen dem Auf und Ab der "Märkte" nicht nur
machtlos, sondern auch kognitiv hilflos gegenüberzustehen. Aber wenn es in
Demokratien überhaupt eine Chance geben soll, die Finanzmärkte durch neue
Regeln wieder einzuhegen, muss das allgemeine Verständnis der typischen
Finanztransaktionen entschieden zunehmen.
Auch deshalb ist es fatal, wenn in der Berichterstattung über das
Finanzsystem beim pauschalen Gerede von den "Märkten" die wirklichen
Akteure wie hinter einem Schleier verschwinden. Wobei häufig bereits die
triviale Einsicht verloren geht, dass zu jeder Markthandlung mindestens
zwei Akteure gehören. Ihr Zusammenspiel beginnt mit schlichten
Mitteilungen. A sagt: ich kaufe Ware x zum Preis p, B sagt: ich verkaufe
Ware x zum Preis p+; C sagt: ich verleihe Geld zum Zins z, D sagt: ich
leihe Geld zum Zins z. Ist mit diesen Signalen ein Interesse an einer
Transaktion geweckt, kann man verhandeln.
Wenn sich A und B auf einen Preis einigen, findet ein Handel statt; wenn
nicht, eben nicht. Die Mitteilungen können sich auch zu Transaktionsketten
vervielfältigen, über die hochkomplexe Kooperationsmöglichkeiten realisiert
werden. Dabei folgen die Akteure der einfachen und uns allen vertrauten
Maxime der Geldwirtschaft: Billig kaufen und teuer verkaufen; oder billig
leihen und teuer verleihen.
## Ungedeckter Leerverkauf
Was spielt sich bei der typischen Baisse-Spekulation ab? Beim Leerverkauf
erwartet Akteur S das Sinken des Marktpreises einer Aktie. S leiht sich von
Akteur A gegen eine Gebühr die Aktie, mit dem Versprechen, sie zu einem
späteren, festgesetzten Zeitpunkt zurückzugeben. S verkauft die geliehene
Aktie zum aktuellen Marktpreis an Akteur B. Wenn alles läuft wie erwartet,
kauft S die Aktie zum gesunkenen Preis von einem weiteren Akteur C und kann
sie pünktlich wieder an A zurückgeben. Diese Transaktionskette lohnt sich
für S nur dann, wenn der Preis tatsächlich wie erwartet sinkt und sein
Gewinn größer ist als die Gebühr, die er an den Verleiher der Aktie zahlt.
Aber warum verleiht A, als erster Transaktionspartner von S, seine Aktie,
statt selbst das Geschäft zu machen? Weil A die Aktie gar nicht verkaufen
will, durch Ausleihen aber zusätzlich (zur Dividende oder dem erwarteten
Kurszuwachs) verdienen kann. Für A ist die angebotene Gebühr also wie ein
Zins auf verliehenes Geld. B wiederum kauft die Aktie von S, weil er –
anders als S – einen stabilen oder steigenden Kurs erwartet oder mehr
Aktien des betreffenden Unternehmens erwerben will (etwa um seinen Einfluss
auf das Unternehmen zu stärken).
Der vierte Transaktionspartner C verkauft seine Aktie an S, weil er einen
noch größeren Kursverlust erwartet oder vielleicht Geld braucht. Beim
„ungedeckten Leerverkauf“ verkauft S die Aktie an B, bevor er überhaupt
einen A gefunden hat, der ihm diese verleiht. Wenn sich die Preise anders
als erwartet entwickeln, riskiert er also, dass er nach dem Verkauf einer
Aktie, die er gar nicht hat, keinen Verleiher dieser Aktie findet. Sein
Geschäft ist geplatzt.
Es ist nicht immer einfach, all diese Operationen als das zu erfassen, was
sie sind: eine Abfolge von paarweisen Interaktionen. Die Semantik der
"Märkte" blendet eine Seite dieser Paarungen aus. Das gilt auch für das
populistische Geschwätz, wonach wir "unseren Kindern" durch
Staatsverschuldung immer größere Lasten aufbürden. Die "Kinder", also
künftige Generationen, werden nämlich nicht nur als künftige Steuerzahler
belastet, sondern sie – oder bessere einige von ihnen – erben auch die
Bundesschatzbriefe. Keine Generation kann sich bei der nächsten
verschulden. Vielmehr wird das komplette Gläubiger-Schuldner-Verhältnis an
die nächste Generation weitergereicht.
Ein weiteres Beispiel ist der naive Stolz auf den weltmeisterlichen
deutschen Exportüberschuss. Offenbar wird übersehen, dass dieser eine
Kehrseite hat: die Verschuldung der Handelspartnerländer genau in Höhe des
deutschen Überschusses. Wieso konnten "die Griechen auf Pump leben"? Weil
ihnen "die Märkte", also konkrete Personen oder Firmen, ihre Staatsanleihen
abgekauft und damit Kredite eingeräumt haben. Wieso haben "die Märkte"
damit jetzt ein Problem? Weil zu viele mit der Baisse-Spekulation auf
Staatsanleihen prächtig verdienen können.
Zu einer Transaktion gehören eben immer mindestens zwei, und normalerweise
versprechen sich beide Seiten einen Gewinn. Wenn die Medien in dieser Krise
immer nur die eine Seite des gegenwärtigen wirtschaftlichen Durcheinanders
beschreiben, interessieren sie sich, wie ein wackerer Geschäftsmann, nur
für das Resultat einer Markthandlung, nicht aber für den sozialen Prozess,
in dem es zustande kommt. Deshalb werden wir in der Regel nur über das
informiert, was die Beteiligten im Endeffekt interessiert: das monetäre
Ergebnis der oft hochkomplizierten Transaktionsketten. Die aber schnurren
nicht wie ein Mechanismus ab. Weil die Spieler gegensätzliche Interessen
und unterschiedliche Erwartungen haben, geht es um Konflikte, deren Ausgang
schwer kalkulierbar ist.
## Bullen und Bären und ein Rudel Wölfe
Bevor die "Märkte" zu einem "Rudel Wölfe" degenerierten, beschrieb man das
spekulative Börsengeschehen noch mit dem metaphorischen Rückgriff auf zwei
Arten von Biestern: als Kampf zwischen "Bullen" und "Bären". Die Bullen
sind dabei zum Beispiel die Organisatoren von Immobilienfonds und die
Halter der entsprechenden Papiere, die ein Interesse an stabilen oder
steigenden Kursen haben. Sie wehren sich gegen Kursverluste, indem sie
versuchen, einen preisdrückenden Verkäuferüberhang durch eigene Zukäufe
auszugleichen – so wie es derzeit die EZB mit den Staatsschuldenpapieren
der Pigsis macht.4 Gleichzeitig wollen die auf fallende Kurse setzenden
Leerverkäufer, die "Bären", die anderen davon überzeugen, dass es höchste
Zeit ist, auszusteigen. Mitunter hilft eine gezielte Desinformation, die
Preise zu drücken – oder eine koordinierte, blitzartige Verkaufsaktion.
Wenn sich die Kursstabilisierer in einer kritischen Situation noch einmal
durchsetzen, verlieren die "Bären", die zu früh auf Kursverluste gewettet
haben. Setzen sich dagegen die Baisse-Spekulanten durch, verlieren die
"Bullen" über den Kursverlust hinaus auch noch ihre für die Stützungskäufe
eingesetzten Mittel. Bei diesem Duell können die Einsätze und Risiken
beider Parteien sehr hoch sein, weil häufig große Räder mit wenig eigenen
Mitteln und viel Kredit gedreht werden. Entscheidend für den Erfolg sind
dabei Timing und Tempo der Transaktionen. Eben deshalb spielen Gerüchte,
Antizipationen, Hektik, Angst oder Euphorie die große Rolle, die
Finanzmärkte von normalen Märkten unterscheidet.
Das überkomplexe Kuddelmuddel des globalen Finanzsystems scheint akut auf
eine Katastrophe hinauszulaufen. Läge es da nicht nahe, das Heil in
einfachen Lösungen für komplizierte Probleme zu suchen, also Spekulation,
dann Börsen, dann Kredit und schließlich Geld abzuschaffen?
Träume von einer einfachen Welt helfen leider nicht. Angesagt ist aber ein
genauerer Blick auf die Spekulation. Konservative Ökonomen wie Milton
Friedman betonen nur deren systemstabilisierende Funktion – die Herstellung
von Angebot und Nachfrage ausgleichenden Preisen. Damit stellt man sich
blind für jene professionelle Spekulation, die Keynes in den 1930er Jahren
mit einem eigentümlichen Schönheitswettbewerb verglich. Damals ließ eine
Zeitung ihre Leser unter hundert Gesichtern die schönsten sechs auswählen.
Gewinner war, wer mit seiner Wahl dem Durchschnitt sämtlicher Stimmen am
nächsten kam. Die Teilnehmer sind also gezwungen, nicht die Gesichter zu
wählen, die sie selbst am schönsten finden, sondern die, von denen sie
vermuten, dass die andern sie am schönsten finden – oder gar die, von denen
sie vermuten, dass die Durchschnittsmeinung sie für die
Durchschnittsmeinung hält.
Für die Finanzmärkte gilt entsprechend: Den "Investoren" kommt es nicht
darauf an, das ihnen anvertraute Geld so zu verwenden, dass die Eigentümer
daraus langfristig ein möglichst sicheres und hohes Einkommen beziehen. Sie
zielen vielmehr auf schnelle Gewinne mittels Antizipation der
Durchschnittsmeinung hinsichtlich der Wertentwicklung einer Anlage, um dann
die erwarteten Wertschwankungen auszunutzen. Diese "Investoren" orientieren
sich gerade nicht an den berühmten "Fundamentaldaten", bei Aktien etwa an
der Produktivität oder Innovationsfähigkeit eines Unternehmens als
Grundlage seines erhofften Markterfolgs oder an der erwarteten Dividende.
Sondern allenfalls an der Vermutung, wie veränderte Fundamentaldaten das
Anlageverhalten der anderen Marktteilnehmer beeinflussen könnten.
Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Wenn Kurse der Aktien von Banken oder
Automobilunternehmen schlagartig um 20 Prozent fallen, um sich noch am
selben Tag wieder zu „erholen“, hat das nichts mit den realen
Gewinnaussichten der Unternehmen zu tun. Hier handelt es sich um
Spekulation auf Kursverluste und den Wiedereinstieg in den Kauf, wenn die
Kurse hinreichend gefallen sind. Dabei ist häufig auch ein Herdenverhalten
im Spiel, weil viele Anleger bei einer plötzlichen Kursbewegung nicht auf
Papieren sitzen bleiben wollen, die eine halbe Stunde später 10 Prozent
weniger wert sind. Dann verkaufen auch sie noch schnell, zumal sie dasselbe
Papier vielleicht binnen einer halben Stunde für ein paar Prozent weniger
zurückkaufen können.
## Es steckt einfach nur Geld dahinter
Angesichts solchen Verhaltens stellt sich die Frage: Warum behandeln wir
die Finanzmärkte nicht wie einen Zoo, in dem eine merkwürdige Spezies bei
ihren merkwürdigen Spielen zu betrachten ist? Die Antwort: Hinter den
dauernd beschworenen "Märkten", die angeblich unausweichliche Sachzwänge
exekutieren, steckt nichts anderes als wir selbst – und unser Geld.
Wenn in den Börsennachrichten von "Anlegern" oder "Investoren" die Rede
ist, stellen wir uns Leute vor, die ihr eigenes Geld, die berühmten "freien
Spitzen" aus hohen Einkommen, gewinnbringend mal hierhin, mal dahin
schieben. Und wir gehen davon aus, dass sie sich über die Ertragsaussichten
eines Unternehmens oder die Zahlungsfähigkeit eines Staats genau informiert
haben. Diese Vorstellung ist irrig. Tatsächlich sind die "Anleger" zumeist
Angestellte, deren Beruf es ist, das Geld anderer so zu nutzen, dass ihr
Arbeitgeber – häufig eine Bank – gute Gewinne macht und zugleich die Zinsen
einspielt, die dem tatsächlichen Eigentümer versprochen wurden.
Nehmen wir ein Beispiel. In Deutschland gibt es als "drittes Bein" der
Altersvorsorge die sogenannte Riesterrente. Damit hat sich die Politik seit
2001 einen Teil des leidigen Rentenproblems durch Privatisierung der
Altersversorgung vom Hals geschafft. Seitdem kann man, mit staatlicher
Förderung, ein "Riesterprodukt" kaufen. Was man dafür erhält, ist das
Versprechen, den Kaufpreis mit Zinsen und Zinseszinsen in 20, 30, oder 40
Jahren als Rente gestückelt zurückzuerhalten. Bis dahin bleibt das Geld dem
Verkäufer des Riesterprodukts – einer Bank oder Versicherung – überlassen,
und diese „Anleger“ können damit auf den Finanzmärkten spielen.
Vor fünf Jahren haben nun die "Anleger" diese Rücklagen für die alten Tage
in US- Hypothekenpapieren angelegt, von denen sie sich einen ordentlichen
Ertrag versprachen. Als sich herausstellte, dass das keine gute Idee war,
weil die Immobilienpreise in den USA implodierten – nachdem sie mithilfe
großzügig vergebener Hypotheken an oft sehr einkommensschwache Häuslekäufer
aufgebläht worden waren –, ließ sich unser Riesterproduktproduzent wegen
drohender Zahlungsunfähigkeit vom Staat retten. Das mussten die
Regierenden, wenn auch unter Knurren, schon deshalb tun, weil es dumm
ausgesehen hätte, wenn sie erst den Kauf von "Riesterprodukten"
subventionieren, aber sich dann die so angelegten Ersparnisse in Luft
auflösen.
Im Vergleich mit amerikanischen, spanischen oder britischen Hypotheken
galten Staatsanleihen als fast risikofrei. Denn Staaten gehen selten
bankrott und können zur Not immer Steuern eintreiben (so jedenfalls die
Annahme). Also begannen die geschockten "Anleger" von unserem – vom Staat
aus Steuermitteln wieder aufgestockten – Geld vorzugsweise Staatsanleihen
zu kaufen, also Schuldscheine eines Staats, der verspricht, die Schulden
plus festgelegten Zinsen in einer bestimmten Frist zurückzuzahlen.
## Keine gute Idee
Vor Kurzem mussten die "Anleger" in Staatsanleihen allerdings feststellen,
dass auch diese Käufe keine gute Idee waren. Denn in Griechenland, Irland
und Portugal, aber scheinbar auch in Spanien und Italien ist der
Staatsschuldenberg so stark gewachsen, dass jeder, der bis drei zählen
kann, sich ausrechnen kann: Das Geld kommt nicht zurück, jedenfalls nicht
ohne "haircut". Wer das zuerst merkt, hat ein schönes Objekt für
Baisse-Spekulation gefunden. Gelingt sie, fallen die Preise, und deshalb
versuchen immer mehr "Anleger" diese Staatsanleihen zu verkaufen.
In der verqueren Sicht der Finanzmärkte wird dieses Ereignis allerdings
nicht als das dargestellt, was es ist, nämlich ein herber Verlust für alle,
die diese Papiere einmal teurer gekauft haben, als sie sie nun verkaufen.
Vielmehr ist primär von einer Staatsschuldenkrise die Rede, die sich an dem
steilen Anstieg der „Erträge“ etwa auf griechische Staatsschuldenpapiere
ablesen lässt.(5) Diese Erträge gelten als Risikoaufschläge. So entsteht
der Eindruck, als müssten Portugal oder Griechenland sofort höhere Zinsen
für ihre Schulden zahlen.
Das ist aber nicht der Fall, jedenfalls dann nicht, wenn der betroffene
Staat aktuell keine neuen Staatsschuldenpapiere ausgibt. Die ausgerufene
Krise ist vielmehr ein Zweitmarktproblem, es geht also um den Handel mit
bereits in privaten Händen befindlichen Papieren. Wenn der betreffende
Staat seine Zahlungsverpflichtungen einhält, erzielen die neuen Käufer
tatsächlich höhere Erträge. Wenn nicht, haben sie sich verspekuliert, und
die Verkäufer hatten recht, weil sie ihre Verluste klein halten konnten.
Der Witz an dieser Art, das Risiko von Anlagen in Staatsschulden mithilfe
der aktuellen Erträge auf bereits ausgegebene Staatsobligationen
darzustellen, besteht vor allem in dem erzeugten Eindruck, dass nicht die
privaten Halter der Staatspapiere in der Krise stecken, sondern der
betreffende Staat, auch wenn er, etwa weil er unter den Eurorettungsschirm
gezwungen wurde oder die EZB interveniert, aktuell gar nicht auf dem Markt
auftritt. So entsteht politischer Handlungsbedarf. Da die Wirtschaftsmedien
davon ausgehen, dass die "Märkte" immer recht haben, steht nun ein Staat
als hochriskanter Schuldner dar. Also fragt sich auf einmal alle Welt, was
zum Beispiel in Griechenland los ist.
Dabei kommt dann naturgemäß einiges zutage, aber selten etwas wirklich
Neues: Vetternwirtschaft, schlechte Steuermoral, ein aufgeblähter
öffentlicher Sektor. Was bedeutet dies für den betroffenen Staat? Er hätte
ein akutes Problem mit den "Märkten" erst dann, wenn er entweder umschulden
oder neue Schulden aufnehmen müsste. Er hat zweitens jedoch ein Problem mit
seinen "Rettern", der EZB, den anderen Euroländern und dem IWF, die auf
Sanierung der Staatsfinanzen mittels Privatisierungen und drastischer
Sparprogramme pochen. Dummerweise wird dabei der Patient nicht gesund, weil
die Austeritätspolitik die Wirtschaft einbrechen lässt, womit die
Aussichten auf Stabilisierung hinüber sind.
## Die Kollerateralschäden des Spiels treffen alle
Aber war da nicht noch was? Schließlich haben auch solche Staaten, die
zurzeit von den "Märkten" unter Druck gesetzt werden, erst vor zwei, drei
Jahren diese Märkte vor sich selbst gerettet. Und die Regierungen der
reichen Länder haben – zu Lasten der unbefragten Steuerzahler – Unsummen in
das Finanzsystem gesteckt. Wie kommt es, dass die "Märkte" jetzt den Spieß
umdrehen können? Wie konnte aus der Finanz- und Bankenkrise eine
Fiskalkrise auch der reichen Länder werden?
Viele Staaten sind so enorm verschuldet, weil die Regierungen unter Verweis
auf das berühmte systemische Risiko (too big to fail) "ihre" Banken retten
mussten. Das sind bekanntlich Institute, die sich ansonsten als Global
Players geben und ihre Steuern gern dort zahlen, wo sie am niedrigsten
sind. Wie sich im Gefolge der Lehman-Pleite gezeigt hat, genügt der
Bankrott weniger wichtiger Banken, um eine Kettenreaktion auszulösen, die
in den Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems zu münden droht. Ohne
staatliche Interventionen wäre damals wohl die gesamte Weltwirtschaft in
Schockstarre verfallen.
Wenige Jahre später sind die Retter in der Krise. Da die Staaten bei der
Bankenrettung hohe Schulden aufgenommen haben, ist jetzt ihre
Kreditwürdigkeit bei den "Anlegern" beeinträchtigt. Aber wer sind diese
„Anleger“? Womöglich dieselben Akteure im Finanzsystem, die gerade mit
Staatshilfen gerettet wurden? Wir erfahren es nicht. Im wolkigen Gerede von
den "Märkten" bleiben sie unsichtbar. Was wir sehen, ist eine parallel zur
Finanzkrise entstandene Fiskalkrise, die vagabundierend einen Nationalstaat
nach dem anderen ergreift. Weil ein insolventer Staat seine Kreditgeber und
damit die Banken der andern Staaten gefährden kann, deren Rettung wiederum
zu neuen insolventen Staaten führen würde, dreht sich ein gigantisches
Krisenkarussell.
Ebenso gigantisch ist das Dilemma, vor dem damit die Regierungen stehen.
Denn nun müssen die weniger kreditwürdigen Staaten, die eine "Massenflucht"
der "Anleger" aus ihren Schuldenpapieren erleben, von den noch
kreditwürdigen gerettet werden. Die sind zur Hilfe für die Wackelkandidaten
schon deshalb genötigt, weil sonst "ihre" Banken erneut gefährdet wären.
Hier läuft vor unseren Augen, aber auf abgehobener Ebene, ein
undurchsichtiges Geschehen ab: Die Spekulation geht weiter, die Börsen
fahren Achterbahn. Und die politischen Akteure sehen hilflos zu, weil sie
nicht verstehen oder verstehen wollen, was ihnen passiert.
## Weggucken geht nicht
Dummerweise können wir uns als staunendes Publikum nicht schulterzuckend
abwenden. Denn die Kollateralschäden dieses Spiels treffen uns alle, und
sie kommen teuer. Die seit langem anhaltende Globalisierungs-,
Deregulierungs- und Privatisierungsmanie hat bewirkt, dass es – jedenfalls
im entwickelten Teil der Welt – fast niemanden mehr gibt, der in dieses
Spiel nicht eingebunden wäre. Auch wer kein großes Vermögen, sondern nur
ein Bankkonto und ein paar Rücklagen besitzt, verspürt die Krise als
persönliche Bedrohung. Von den früher oder später eintretenden Folgen für
den Arbeitsmarkt ganz abgesehen.
Was tun? In einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind wir auf Koordination
und Kooperation angewiesen, darauf, dass andere etwas für uns und wir etwas
für andere tun. Deshalb gibt es keine einfachen Lösungen, wie etwa die
Abschaffung der Spekulation oder der Banken oder gar des Geldes. Aufgrund
wechselseitiger Abhängigkeiten müssen wir auch im Bereich der Wirtschaft
unsere Interessen von Repräsentanten, etwa von sachkundigen Geldverwaltern,
wahrnehmen lassen.
Im Bereich der Politik erwarten wir, dass sich eine gewählte Kaste
gegenüber den Interessen des Volkes, das sie zu vertreten vorgibt, nicht
allzu weit verselbständigt. Nötigenfalls muss sie abgemahnt oder abgewählt
werden. Aber genauso sollten wir auch die Akteure auf den Finanzmärkten als
Repräsentanten unserer Wirtschaftsinteressen zurückpfeifen können. Ottilie
und Otto Normalverbraucher möchten nicht, dass jemand unbeauftragt mit
ihren Ersparnissen spekuliert. Und schon gar nicht, dass sie, wenn es
schiefgeht, von ihren politischen Repräsentanten gezwungen werden, mit
ihren Steuern für immense Spekulationsverluste geradezustehen.
Die "Märkte", gegenüber denen sich die Politik ohnmächtig stellt, sind ein
Fetisch. In Anlehnung an den trotzigen Ruf: "Wir sind das Volk!" ist es
Zeit für den Ruf: "Wir sind der Markt!"
Das bedeutet, die „Märkte“ in die Verfügung derjenigen zurückzuholen, die
sie ermöglichen und zugleich von ihnen betroffen sind. So wie wir
politische Repräsentanten haben wollen, die auf vernünftige Weise unsere
langfristigen Interessen wahrnehmen, brauchen wir Finanzinstitutionen, die
sich verantwortlich um unser Geld kümmern. Die sollen also nicht nur den
Geldwert stabil halten, sondern die Spekulation durch Entschleunigung,
Besteuerung und Reregulierung in sozialverträgliche Grenzen bannen.
Fußnoten:
(1) Die Zitate stammen aus der "FAZ und dem "Tagesspiegel vom 27.
bezeihungsweise 29. August 2011.
(2) Arbitragegeschäfte funktionieren so: Ein Eurobesitzer möchte Schweizer
Franken (CHF) kaufen. Für einen Euro bekäme er 1,10 CHF. Gleichzeitig kann
er für einen Euro 1,40 US-Dollar kaufen. Wären die Wechselkurse konsistent,
bekäme man für einen Dollar (1,10/1,40=) 0,78 CHF. Wenn man aber für einen
Dollar 0,80 CHF kaufen kann, lohnt sich der indirekte Tausch. Man wechselt
erst Euro in Dollar, dann Dollar in Schweizer Franken und bekommt so für
den Euro 1,12 CHF.
(3) Die Baisse-Spekulation kann so früh einsetzen, dass sie die Bildung
einer „Blase“ verhindert. Deshalb ist die Institution Börse
erst durch Baisse-Spekulation dauerhaft möglich.
(4) Pigsi ist die um Italien erweiterte Gruppe der ursprünglichen
Pigs-Staaten Portugal, Irland, Griechenland, Spanien.
(5) Wie errechnet sich der Anstieg der Erträge? Sagen wir, der Marktwert
einer Staatsanleihe sinkt von 100 auf 80 Euro, weil es mehr Aussteiger als
Anleger gibt. Der Zinssatz bei Ausgabe, zum Beispiel 3 Prozent, wird nun
auf den gesunkenen Marktwert von 80 Euro bezogen. Die Verzinsung steigt
damit effektiv auf 3,75 Prozent – allerdings nur für neue Käufer. Dagegen
machen die Verkäufer, die noch zum Nennwert von 100 Euro gekauft haben,
einen Verlust von 20 Euro. Für den Staat ändert sich nichts: Er hat 100
Euro Schulden und muss 3 Prozent Zinsen zahlen.
©[1][Le Monde diplomatique], Berlin
23 Oct 2011
## LINKS
[1] http://www.monde-diplomatique.de
## AUTOREN
Heiner Ganssmann
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