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# taz.de -- Erste freie Wahlen in Tunesien: Es naht der Arabische Herbst
> Neun Monate nach der Revolution gibt es freie Wahlen. Die Unzufriedenheit
> über das Ausbleiben des Wandels dürfte den Islamisten nützen.
Bild: Die rund 80.000 Tunesier in Deutschland können bereits ihre Stimme abgeb…
GAFSA taz | "Unser Held", stellt die Gruppe junger Erwachsener Mahmoud
Raddadi vor, als dieser an den Tisch im Garten des Kulturzentrums in Gafsa
tritt. Der hagere Mann in einem abgewetzten Blazer lächelt schüchtern.
"Held? Nein!" Er habe nur getan, was er tun musste.
Der 40-Jährige Berufsfotograf hielt mit seiner Videokamera fest, was hier
in Gafsa im Zentrum Tunesiens als "der eigentliche Beginn der Revolution"
gilt. Raddadi filmte die monatelangen Proteste der Bevölkerung im
Phosphatabbaugebiet in der Wüste und gab die Aufnahmen an Satellitensender
weiter. "Ich musste doch die Welt informieren", sagt er bescheiden.
Das war 2008. Die staatliche Phosphatgesellschaft CGP hatte in Raddadis
Heimatort Redeyef 68 Arbeiter eingestellt. Als die Listen veröffentlicht
wurden, stellte sich heraus: Die Jobs gingen alle an Familienangehörige der
Chefs, des Gouverneurs der Region sowie an Mitglieder der Regierungspartei
des damaligen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali.
Es kam zu einem Auflauf vor dem Gewerkschaftshaus. Tag für Tag gingen immer
mehr Menschen gingen auf die Straße. Erstmals wurden Parolen gegen das
Regime gerufen. "Bewegung der Würde" tauften sie ihre Proteste.
Dann schlug die Polizei erbarmungslos zu. Vier Menschen kamen durch Schüsse
ums Leben, mehrere Dutzend wurden verletzt, Hunderte verhaftet, 38 als
Rädelsführer zu langen Haftstrafen verurteilt.
"Darunter auch ich", berichtet Raddadi, der für die Verbreitung der
Schreckensbilder vier Jahren Haft bekam. Nach 18 Monaten wurde er zusammen
mit den anderen begnadigt. Seine beschlagnahmte Studioausrüstung hat er bis
heute nicht wieder gesehen, er ist seither arbeitslos.
"Seit den Tagen von Redeyef ist in Tunesien nichts mehr, wie es war",
erklärt Raddadi. Skira, Sfax, Ben Gardane sind nur einige der Orte, in
denen es zu Protesten und Unruhen kam, bevor schließlich die
Selbstverbrennung eines Arbeitslosen in Sidi Bouzid am 17. Dezember 2010
die tatsächliche Revolution auslöste. Am 14. Januar 2011 floh Diktator Ben
Ali nach 23 Jahren an der Macht aus Tunesien nach Saudi-Arabien, sein
Regime wurde vom Volk gestürzt. Es war der Beginn des Arabischen Frühlings.
## Ein historischer Tag
Die Wahlen am Sonntag sind Grund genug für die Gruppe im Garten des
Kulturzentrum, um Resümee zu ziehen. Alle waren 2008 dabei, alle waren sie
2011 wieder auf der Straße, und alle nahmen auch an den beiden Besetzungen
der Kasbah, dem Platz vor dem Regierungsgebäude in der Hauptstadt Tunis
teil, die zum Rücktritt belasteter Politiker aus der Übergangsregierung
führten und zum Zugeständnis, jetzt eine verfassungsgebende Versammlung zu
wählen.
"Sonntag ist ein historischer Tag", sagt der 30-jährige Rachid Abdaoui.
"Erstmals kann das tunesische Volk seinen Willen frei zum Ausdruck
bringen."
Was hat sich seit Januar in Tunesien geändert? "Wir können frei reden, ohne
über die Schulter schauen zu müssen", sagt die einzige Frau in der
achtköpfigen Runde, Dalel Khdiri (27).
"Ansonsten ist so gut wie alles beim Alten." Sie ist Französischlehrerin
und arbeitslos,. Außer wenigen hohen Beamten seien die alten Kader von Ben
Alis aufgelöster Partei RCD weiterhin im Amt, und es gebe noch immer keine
Jobs. In Gafsa sind 34 Prozent ohne Arbeit. Zwei Drittel davon sind junge
Akademiker.
## Eine neue Verfassung
"Und draußen in den Bergarbeiterdörfern ist auch alles beim Alten", fügt
Mahmoud Raddadi hinzu. Tunesien ist der viertgrößte Phosphatlieferant
weltweit. Doch das Einnahmen kommen der Region um Gafsa nicht zugute,
beschwert er sich. Es werde nur in den Tourismus an der Küste investiert
Allen hier ist klar, dass sich die angespannte soziale Lage nicht so
schnell verbessern wird. Die neue Regierung, die jetzt gewählt wird, ist
wieder nur provisorisch. Und das Parlament hat hauptsächlich die Aufgabe,
eine neue Verfassung auszuarbeiten.
Alle Gesprächspartner in Gafsa haben sie vor allem eine Befürchtung: "Dass
die Islamisten von Ennahda zu stark werden und wichtige Rechte wie die der
Frauen zurücknehmen", wie Khdiri es zusammenfasst.
Ennahda, die unter Ben Ali noch verbotene islamistische Partei Tunesiens,
füllt im Wahlkampf große Hallen und mancherorts gar Fußballstadien. Keiner
zweifelt daran, dass sie als stärkste Kraft in die Versammlung einziehen
wird. Die restliche politische Landschaft ist stark zersplittert.
In Gafsa stehen über 60 Parteilisten zur Wahl. "Das neue Parlament wird ein
Mosaik sein", ist sich Raddadi sicher. Er hofft, dass die nichtreligiösen
Parteien nach der Wahl ein Bündnis eingehen, um Ennahda die Stirn zu
bieten. Raddadi selbst will einer kleinen linken Liste seine Stimme geben.
22 Oct 2011
## AUTOREN
Reiner Wandler
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