# taz.de -- Historiker Pohl über Holocaust: "Wir reden von 200.000 Tätern" | |
> Vor allem bei Morden an jüdischen Männern plagte sie überhaupt kein | |
> schlechtes Gewissen: Historiker Dieter Pohl über Täter im | |
> Nationalsozialismus. | |
Bild: "Die Wehrmacht hat vielfach bei Massenmorden abgesperrt und die Opfer reg… | |
taz: Herr Pohl, gibt es den typischen deutschen Täter beim Völkermord im | |
Osten nach 1941? | |
Dieter Pohl: Nein. Aber es gibt die Kerntätergruppen von SS und Polizei. | |
Die sind hoch motiviert und ausgeprägte Antisemiten. Wir haben es mit | |
Männern zu tun, die zwischen 30 und 45 Jahre alt sind. Sie gehören zur | |
Kriegsjugendgeneration, die im Ersten Weltkrieg aufgewachsen ist, aber zu | |
jung für den Krieg war. Diese Gruppe hat schon vor 1933 eine Affinität zum | |
Nationalsozialismus und ist danach Teil des NS-Systems. Es gibt also | |
biografische Muster. | |
Wie groß ist diese Tätergruppe? | |
Ich schätze, dass wir beim Holocaust insgesamt von 200.000 Tätern reden, | |
fast alles Männer. Der Anteil der Frauen ist verschwindend gering. Im Osten | |
sprechen wir für die Zeit 1941 bis 1944 von mehreren zehntausend Tätern. | |
Die größte Gruppe sind tatsächlich durchschnittliche Deutsche, die in der | |
Wehrmacht, der Zivilverwaltung, der Ordnungspolizei arbeiten. | |
Ganz normale Deutsche, keine ausgeprägten Antisemiten? | |
Ja, wobei ja seit Mitte der 1930er die gesamte deutsche Gesellschaft dem | |
verschärften Antisemitismus der Nazis folgt. Es gibt 1941 nicht mehr den | |
NS-Ideologen hier und dort den Durchschnittsdeutschen, sondern hier den | |
NS-Ideologen und dort Deutsche, die Antisemitismus für etwas | |
Selbstverständliches halten, ohne ihm eine zentrale Bedeutung zu geben. Der | |
Historiker Raul Hilberg hat schon 1961 geschrieben, dass die Täter | |
verstanden, warum sie es taten. Das gilt auch für die Durchschnittstäter. | |
Hatten die Täter ein schlechtes Gewissen? | |
Das ist ex-post schwer zu sagen. Es gibt wenig brauchbare Aussagen von | |
Tätern darüber. Ich denke, dass es bei der Ermordung jüdischer Männer | |
keinerlei moralische Zurückhaltung gab. Als Herbst 1941 die massenhafte | |
Tötung von Frauen und Kindern beginnt, empfinden - das zeigen | |
Feldpostbriefe - viele Wehrmachtssoldaten das als Problem. Es gibt | |
Diskussionen. Bei den Einsatzgruppen ist das anders. Dort gibt es keine | |
Hemmung bei der Tötung von Kindern. Die Einsatzgruppen, deren Daseinszweck | |
die Durchführung der Massaker sind, umfassten nur 3.000 Mann, die | |
Polizeibataillone knapp 5.000. | |
Welche Rolle hat die Wehrmacht beim Holocaust gespielt? | |
Die Wehrmacht hatte nicht den Auftrag, die Juden umzubringen. Das zentrale | |
Verbrechen der Wehrmacht war deren Umgang mit den sowjetischen | |
Kriegsgefangenen, die in ihrer Obhut waren und zu Millionen starben. Die | |
Wehrmacht hat die besetzten Gebieten der UdSSR über weite Strecken | |
beherrscht. Daher war sie direkt an der Enteignung, Entrechtung, | |
Ghettoisierung der Juden beteiligt. Die Wehrmacht hat vielfach bei | |
Massenmorden abgesperrt und die Opfer registriert, Wehrmachtssoldaten haben | |
an Massakern teilgenommen. Die Wehrmacht schirmte den Holocaust ab. | |
Gab es Widerstand in der Wehrmacht gegen das Mitmachen beim Holocaust? | |
Es gab Einzelfälle, in denen Soldaten Juden gerettet haben, etwa Anton | |
Schmid. Aber das war sehr selten. Wenig bekannt ist, dass die Wehrmacht im | |
Hinterland fern der Front jüdische Zwangsarbeiter hatte. Da gibt es relativ | |
viele Fälle, in denen die Wehrmacht zu Gunsten der Zwangsarbeiter | |
interveniert hat. | |
Wissen wir alles über die Massenmorde der Nazis 1941 bis 1944? | |
Für Deutschland ja. Für Russland wissen wir nur punktuell, welche Taten wo, | |
wann, von wem begangen wurden. | |
Gibt es noch mehr weiße Flecken? | |
Das Verhalten der Juden ist weitgehend unbekannt. Es gibt dazu wenig | |
Quellen, weil der Judenmord in der UdSSR nach 1945 weitgehend tabuisiert | |
wurde. Es gab keine systematischen Befragungen von Überlebenden. Wir wissen | |
auch wenig über die Kollaboration der Einheimischen mit den Nazis oder wie | |
sich die ukrainischen, russischen oder weißrussischen Nachbarn der Juden | |
verhalten haben; wie die orthodoxe Kirche, die ja kulturelle Leitinstanz | |
war, reagiert hat. Seit Herbst 1941 waren immer einheimische Hilfskräfte an | |
den Morden beteiligt, auf dem Gebiet der Sowjetunion insgesamt mehr | |
Einheimische als Deutsche. In einer typischen ukrainischen Kleinstadt gab | |
es ein drei, vier deutsche Polizisten und 50 ukrainische Hilfspolizisten. | |
Wenn dort eine Einsatzgruppe anrückte, räumten auch ukrainische Polizisten | |
das Ghetto, sperrten die Erschießungsstätte ab, schossen manchmal auch | |
selbst. | |
Gewinnt man nach der Lektüre der 331 Quellen des Bandes 7 ein umfassendes | |
Bild? | |
Wir haben versucht alle Perspektiven zu berücksichtigen, von der deutschen | |
Staatsführung bis zum jüdischen Gefangenen, von jenen, die vor ihrer | |
Ermordung Tagebuch schrieben, bis zur Reaktion der internationalen | |
Öffentlichkeit. Mehrere tausend Massenerschießungen in den besetzten | |
sowjetischen Gebieten können in einem Band nicht aufgenommen werden. Band 7 | |
ist ein Mosaik von exemplarischen Dokumenten. | |
9 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
St. Reinecke | |
Chr. Semler | |
## TAGS | |
Wehrmacht | |
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