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# taz.de -- Debatte Antisemitismus: Hurra, wir knicken ein!
> Wer aus der Nazizeit nur gelernt hat, dass man keine Juden diskriminieren
> darf, aber andere Minderheiten verachtet, der hat daraus nichts gelernt.
Aus der Studie einer Expertenkommission, die am Mittwoch dem
Bundestagspräsidenten Norbert Lammert übergeben wurde, geht hervor, dass
der Antisemitismus in Deutschland zugenommen hat. Zugleich haben gleich
drei Vorfälle der letzten Wochen gezeigt, dass das Thema hierzulande
keineswegs auf die leichte Schulter genommen wird - im Gegenteil, schon
allein der Vorwurf des Antisemitismus wiegt sehr schwer. Wie passt das
zusammen?
Vor zehn Tagen entfernte der Martin-Gropius-Bau in Berlin über Nacht die
Videoinstallation eines polnischen Künstlers aus seiner laufenden
Ausstellung, ohne diesen oder die Kuratorin zuvor über diesen Schritt zu
informieren. Davor hatte sich der Leiter des Berliner Centrum Judaicum,
Hermann Simon, bei seinem Museumskollegen über den Kurzfilm empört, der
nackte Frauen und Männer beim Fangenspiel in einer ehemaligen Gaskammer
zeigen soll.
Wenige Tage später beschwerte sich Charlotte Knobloch, Expräsidentin des
Zentralrats der Juden, beim Berliner Piraten-Abgeordneten Gerwald
Claus-Brunner über dessen Kopftracht, ein Palästinensertuch. Das Tuch sei
"Ausdruck einer antijüdischen Gesinnung", schrieb sie ihm in einem offenen
Brief.
Und am vergangenen Sonntag setzte der Jugendsender des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB), Radio Fritz, die
Sendung seines langjährigen Moderators Ken Jebsen kurzerhand aus. Grund
waren Anschuldigungen, die der Krawallpublizist Henryk M. Broder im
Internet veröffentlicht hatte. Nun darf Jebsen wieder senden - die Vorwürfe
waren "haltlos", wie der Sender einräumt.
## Tanz auf dem KZ-Gelände
Zugegeben: Man kann die Videoarbeit "Berek" des polnischen Künstlers Artur
Zmijewski geschmacklos finden. Man darf aber nicht den vergleichbaren
Videoclip vergessen, mit dem der 90-jährige Holocaust-Überlebende Adolek
Cohn im vergangenen Jahr im Internet für Furore sorgte.
Darin tanzte er im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz zu den Klängen
des Popschlagers "I will survive" mit seiner Tochter - dieser Tabubruch
wurde allenthalben, etwa im Spiegel, als "Botschaft des Überlebenswillens"
gelobt.
Auch lässt sich darüber streiten, ob ein Palästinensertuch in ein deutsches
Parlament gehört, und man kann den RBB-Moderator Ken Jebsen für eine
nervige Quasselstrippe halten. Falsch ist es aber, gleich den Kopf
einzuziehen, sobald der Vorwurf des Antisemitismus ins Spiel kommt.
Erschreckend ist, wie schnell manche in vorauseilendem Gehorsam bereit
sind, die Meinungs- und Kunstfreiheit zu opfern, nur um nicht in den Ruch
zu geraten, antisemitische Vorurteile zu fördern.
Vorauseilender Gehorsam war schon immer ein Kennzeichen des deutschen
Untertanengeists. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass er jetzt im
politisch korrekten Gewand auftritt.
## Toleranztest für Muslime
Dem Kampf gegen Antisemitismus wird damit ein Bärendienst erwiesen. Denn
mit ihrem ängstlichen Bemühen, bloß keinen Anstoß zu erregen, leisten die
Verantwortlichen damit dem Vorurteil Vorschub, Juden besäßen in Deutschland
eine besondere Macht. Davon kann keine Rede sein: Ihr Anteil an der
Bevölkerung ist klein, und damit auch ihr Einfluss.
Anzumerken ist auch, dass weder der Museumschef Hermann Simon die
Entfernung des umstrittenen Kunstwerks noch Broder die Absetzung der von
ihm angegriffenen Sendung gefordert haben wollen. Die Verantwortung für
diese Entscheidungen liegt demnach allein bei den Leitungen des Berliner
Martin-Gropius-Baus sowie des Radiosenders Fritz, die ihren eigenen
Mitarbeitern in den Rücken gefallen sind.
Zum Vergleich: Wenn Muslime sich über Mohammed-Karikaturen empören oder die
Thesen eines Exbundesbankers kritisieren, dann wird ihnen von deutscher
Seite routiniert die Kunst- und Meinungsfreiheit vorgehalten. Die
Teilnehmer der ersten "Islam-Konferenz" wurden vom damaligen
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sogar genötigt, sich eine
Operninszenierung anzusehen, in welcher der Prophet Mohammed symbolisch
geköpft wurden, um ihre "Toleranz" unter Beweis zu stellen.
Doch kaum steht ein Antisemitismus-Vorwurf im Raum, wird dieses Prinzip
kurzerhand außer Kraft gesetzt. Selbst der Grundsatz "im Zweifel für den
Angeklagten" wird auf den Kopf gestellt, wenn nicht diejenigen, die Zensur
ausüben, sondern diejenigen, die zensiert werden, sich erklären müssen.
Es ist natürlich eine gute Nachricht, dass Antisemitismus-Vorwürfe
hierzulande nicht bagatellisiert werden. Aber nicht jeder Vorwurf des
Antisemitismus ist berechtigt. Charlotte Knobloch etwa fand schon jene
"Stolpersteine", die vielerorts zum Andenken an deportiere jüdische Bürger
ins Straßenpflaster eingelassen werden, "unerträglich", weil damit ihrer
Meinung nach deren Andenken "mit Füßen getreten" werde.
## Zweierlei Sensibilität
Auch wäre eine solche Sensibilität wie gegenüber dem Antisemitismus bei
allen Formen der Menschenfeindlichkeit angebracht. Wer den wieder
aufkeimenden Antisemitismus in Deutschland wirksam bekämpfen will, der muss
sich gegen jede Form der Diskriminierung wenden.
Wer aus der Nazizeit nur gelernt hat, dass man keine Juden diskriminieren
darf, aber andere Minderheiten verachtet, der hat daraus nichts gelernt.
Gegen antijüdische Klischees anzugehen wird jedenfalls kaum gelingen, wenn
man etwa bei Vorurteilen gegen Muslime ein Auge zu drückt. Wer hier einen
doppelten Maßstab anwendet, macht sich von vornherein unglaubwürdig.
Das bedeutet nicht, sich in vorauseilender Selbstzensur zu üben, um allen
möglichen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Im Gegenteil: Streit ist nicht
zu vermeiden und gehört ausgetragen. Der Nahost-Konflikt sollte im
Schulunterricht behandelt werden, fordern etwa die Experten, die den
Antisemitismus-Bericht für die Bundesregierung verfasst haben. Und auch
über Kunst und Geschmack muss man geteilter Meinung sein dürfen.
Der Einzige, der sich in dieser Frage richtig verhalten hat, war deshalb
der Piraten-Abgeordnete Gerwald Claus-Brunner. Er ließ Charlotte Knobloch
wissen, dass er die Dinge ganz einfach anders sehe als sie.
11 Nov 2011
## AUTOREN
Daniel Bax
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