# taz.de -- Nährboden der rechten Gewalt: Der Ober- und der Untergrund | |
> Die Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" ist ein Produkt von | |
> deutscher Einheit, rechtsstaatlichem Vakuum und offizieller | |
> Ausländerfeindlichkeit. | |
Bild: Den Nazis gehörte Anfang der 1990er im Osten die Straße. | |
Im Jahr 1998 führte ein bekanntes deutsches Nachrichtenmagazin ein Gespräch | |
mit dem damaligen Innenminister Otto Schily (SPD). Es ging um Ursachen | |
rechtsextremer Gewalt in Deutschland. | |
Diese hatte sich nach 1989 und dem Ende der DDR rasant ausgebreitet. Über | |
150 Todesopfer werden rechtsradikalen Tätern seit der Vereinigung | |
zugerechnet. Hinzu kommen Schwerverletzte, Brand- und Bombenanschläge, | |
pogromartige Ausschreitungen wie in Rostock (1992) oder Hoyerswerda (1991). | |
Das Nachrichtenmagazin fragte also 1998 den damals frisch gekürten | |
Innenminister: "Es drängt sich der Eindruck auf, dass im Osten der Staat | |
zurückgewichen ist." Der Innenminister erwiderte: "Der Vorwurf ist nicht | |
haltbar. Bestimmte Strukturen müssen dort erst mühsam aufgebaut werden, | |
Polizei und Justiz. | |
Zehn Jahre sind eine relativ kurze Zeit. Es gibt im Osten außerdem bei | |
vielen Menschen noch kein unbefangenes Verhältnis zum Staat. Sich | |
einzumischen, Zivilcourage zu zeigen, ist nicht sonderlich ausgeprägt." | |
Das erstmals seit der Vereinigung von der SPD geführte Ministerium | |
versuchte 1998 das Problem mit der rechten Gewalt gar nicht mehr zu | |
leugnen. Das schien ein echter Fortschritt - im Jahre 1998, dem Jahr, als | |
sich die drei vom Thüringer Heimatschutz, Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und | |
Uwe Böhnhardt, in den Untergrund absetzten, um, wie es die Ermittler heute | |
sagen, eine für die Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Mordserie zu | |
beginnen. | |
## Rückschau: DDR und NSU | |
Die drei aus Jena, so viel ist klar, stammen aus einem nach dem | |
Zusammenbruch der DDR verunsicherten autoritär-nationalistischen Milieu. | |
Und auch schon vor dem Fall der Mauer gab es eine Naziszene im Osten, die | |
sich nach 1989 schnell mit der des Westens verband. In der alten BRD hatten | |
sich bereits in den 1980er Jahren Antifagruppen gegründet, um die Attacken | |
auf Punks, Linke, Homosexuelle und Obdachlose abzuwehren. | |
Zu den brutalsten Nazi-Formationen zählten damals FAP, Nationale Front, | |
Wiking Jugend, Blood & Honour, die Parteien waren/sind NPD, Republikaner | |
und DVU. Schily sprach 1998 von einer "seelischen Verrohung", die in den | |
1990er Jahren erschreckende Ausmaße angenommen habe. Und er appellierte an | |
Staat und Gesellschaft: "Zu glauben, ich bin der Teufelsaustreiber der | |
Nation, der in der Lage ist, den Rechtsextremismus über Nacht aus der Welt | |
zu schaffen, ist falsch. | |
Eher muss man fragen, was haben wir für ein Menschenbild, was vermitteln | |
die Medien? Was kommt bei diesen jungen Menschen an, die sagen, ich hasse | |
Juden oder ich hasse Fremde?" Im Osten brüsteten sich die Nazis damals | |
ganzer "national befreiter Zonen", im Westen schlugen sie eher punktuell | |
und heimlich zu wie in Mölln (1992) oder Solingen (1993). | |
An vielen Orten im Osten gehörte Anfang der 1990er den Nazis die Straße. | |
Jugendliche Antifaschistinnen stellten sich ihnen vor allem in den Städten | |
entgegen. Auch in Bezirken wie Berlin- Prenzlauer Berg marschierten | |
FAP-Kader am helllichten Tag mit Abzeichen über die Plätze und griffen | |
zusammen mit Hools die wenigen Migranten und die Alternativszene an. | |
Erst durch eine brachiale Gegenwehr der linken Szene wurde dem vielerorts | |
Einhalt geboten, lange bevor die damals schlimmste Nazi-Organisation | |
staatlicherseits endlich verboten wurden. | |
## Einbürgerung wurde möglich | |
Otto Schily und Rot-Grün waren nicht die Teufelsaustreiber, aber sie | |
beendeten die jahrelange Propaganda der Kohl-CDU, dass Deutschland kein | |
Einwanderungsland sei und die Gefahr von links käme. Den in großer Zahl ins | |
Land geholten türkischen Arbeitskräften wurde die Einbürgerung erlaubt und | |
die jahrelange miese Polemik um diese Bevölkerungsgruppe beendet. | |
Bis dahin wurden Arbeitsmigranten in der öffentlichen Diskussion ähnlich | |
schlechtgeredet wie die vor der faktischen Abschaffung des Asylrechts ins | |
Land drängenden Flüchtlinge, gegen die sich der rechte Hass in den 1990er | |
Jahren an allererster Stelle richtete. | |
Die psychopathischen Killer von der NSU sind Kinder der 1990er Jahre, | |
aufgewachsen mit typisch zonalen Minderwertigkeitskomplexen und | |
großdeutschen Allmachtsfantasien. Sie holten sich ihre Opfer aus der | |
proletarisch-migrantischen Unterschicht, gegen die sich deutsch-völkische | |
Nationalisten aller Couleur in den 1980er und 1990ern so ausdauernd | |
wandten. | |
Wie andere Gruppierungen vor ihnen, scheint die NSU im Untergrund | |
ideologisch stillgestanden und die gesellschaftlichen Veränderungen um sie | |
herum nicht mitbekommen zu haben. Hätte sie sich nur einmal versucht, zu | |
erklären, statt nur mit sich selbst und Paulchen Panther zu kommunizieren, | |
es wäre aus mit ihr gewesen. | |
## Gespenster der Kohl-Ära | |
Jenseits der polizeilichen Ermittlungsarbeit, die jetzt aufklären muss, wie | |
polizeibekannte Leute mit klarem Täterprofil als Verdächtige der Mordserie | |
nicht zugeordnet werden konnten, und jenseits des nun hoffentlich zu | |
erwartenden Mitgefühls für die Opfer und ihre Angehörigen, ist ein Blick | |
auf die "geistigen Brandstifter" jener Jahre so bitter wie notwendig. | |
Wo auch die Innenminister der Kohl-Ära Nazis von ganz normalen deutschen | |
Nachbarjungs bisweilen kaum zu unterscheiden wussten, wird die Thüringer | |
Verfassungsschutzbehörde nicht die einzige gewesen sein, wo es drunter und | |
drüber ging, sich der Ober- in den Untergrund verkehrte. | |
Kanzler Kohl musste noch den Kommunismus mit Deutschtum besiegen. Rot-Grün | |
hat diese finstere Ära hinter sich gelassen. Ebenso die Merkel-CDU, die | |
sich heute zu einem offenen Deutschland bekennt. Doch den Worten müssen | |
jetzt Taten folgen. | |
Die seit den 1990er Jahren gelegten Strukturen im Kampf gegen den Nazismus | |
müssen überprüft werden. Der Druck auf die Szene, aus der die NSU stammt - | |
Freie Kameradschaften, NPD etc. - muss mit dem Ziel von Verbot und | |
Zerschlagung erhöht werden. Auch verbotene Nazigruppen lassen sich | |
infiltrieren und überwachen, sind aber in ihren Möglichkeiten stark | |
eingeschränkt. | |
Die NSU-Leute konnten die 14 Jahre im Untergrund nur überleben, da sie auf | |
ein legal operierendes Netzwerk zurückgreifen konnten - und weil der | |
Staatsschutz auf dem rechten Auge blind war. Soll die NSU ein furchtbares | |
und isoliert auftretendes Gespenst aus den 1990ern bleiben, muss hier | |
sofort und prinzipiell gehandelt werden. | |
19 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
## TAGS | |
Rechte | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Mutmaßliche Neonazis vor Gericht: Nicht mehr als eine Geldstrafe | |
Acht Rechtsradikale, die ein Paar aus Hoyerswerda vertrieben, sind nur | |
wegen Bedrohung und Beleidigung angeklagt. Die Polizei griff kaum ein. | |
Rechtsterrorismus in Jena: Zeitzeuge Nummer 1 | |
Lothar König und seine Junge Gemeinde Stadtmitte warnten bereits in den | |
90er Jahren vor gewalttätigen Neonazis in Jena. Bis letzte Woche wollte das | |
keiner hören. | |
Ermitttlungen zum Rechtsterrorismus: Netz der Nazi-Terroristen wächst | |
Täglich ergeben sich neue Details zur rechten Terrorgruppe NSU. Wie viele | |
Helfer hatte das Trio? Wo versagten die Behörden? Was sind Fakten, was | |
Gerüchte? | |
Rechtsextreme Produkte sind erfolgreich: "Killer Döner nach Thüringer Art" | |
Rechtsextreme Kleidung ist gefragt, das Geschäft brummt. Einige Anbieter | |
können von dem Verkauf hasserfüllter T-Shirts sogar ihre Familie ernähren. | |
Krisengipfel zum Neonazi-Terror: Zwei weitere Neonazis beschuldigt | |
Innen- und Justizminister von Bund und Ländern diskutieren über die | |
Pannenserie bei Fahndung zum Zwickauer Neonazi-Terrortrio. Unterdessen gibt | |
es zwei weitere mutmaßliche Zellenmitglieder. | |
Polizeibehörde und Naziszene: Fahnder fotografierten Nazi-Terroristen | |
Zielfahnder des Landeskriminalamtes Thüringen spürten die Terroristen des | |
NSU bereits drei Jahre nach ihrem Abtauchen aufauf. Warum folgten keine | |
Taten? | |
Akteneinsicht beim Nachrichtendienst: "Wir sind doch ein Geheimdienst!" | |
17 Verfassungsschutzämter beobachten die rechte Szene. In den Nachrichten | |
kommen die Dienste nicht gut weg. Wem nutzt die Behörde eigentlich? |