| # taz.de -- Vor dem Bundesparteitag der Grünen: Zurück zu Kohl | |
| > Umverteilung von oben nach unten, ohne der Wirtschaft wehzutun. Wie soll | |
| > das gehen? Beim Grünen-Parteitag am Wochenende wird vor allem über | |
| > Spitzensteuern gestritten. | |
| Bild: Am Wochenende ist ihre Integrationskraft gefragt: die Grünenvorsitzenden… | |
| BERLIN taz | Helmut Kohl. Ausgerechnet. Sina Doughan, frisch gewählte | |
| Sprecherin der Grünen Jugend, 1987 geboren, hätte sich wohl nicht träumen | |
| lassen, dass sie sich in der Steuerpolitik mal mit dem dicken Alten | |
| verbünden müsste. "Ich hab mir schon anhören müssen, ich sei eine | |
| Kohlianerin – das ist natürlich Quatsch", sagt Doughan. Sie und ihr Verband | |
| wollen auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Kiel einen | |
| Spitzensteuersatz von 53 Prozent durchdrücken. So viel, wie einst unter | |
| Kohl üblich war. | |
| Diese seltsame Übereinstimmung, hier die rebellischen Junggrünen, da der | |
| Oggersheimer, sagt viel über das Treffen am Wochenende, bei dem 900 | |
| Delegierte – neben anderen Themen (siehe Kasten) – vor allem über Finanz- | |
| und Steuerpolitik streiten werden. Im Mittelpunkt steht eine | |
| Richtungsentscheidung: Die Grünen diskutieren, wie viel sie Vermögenden und | |
| der Wirtschaft zumuten, falls sie ab 2013 regieren. Und wie viel ihrer | |
| eigenen, gebildeten Wählerklientel, die überdurchschnittlich verdient. | |
| Der Antrag der Grünen Jugend ist dabei die radikalste Forderung. "Die | |
| Grünen müssen sich bei der Belastung von Spitzenverdienern einfach mehr | |
| trauen", sagt Doughan. Schließlich sei zu Genüge belegt, dass sich die | |
| Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren immer weiter geöffnet | |
| habe. | |
| Dass sich die Junggrünen an dem historischen Wert orientieren, ist kein | |
| Zufall: Sie erinnern daran, dass es die die rot-grüne Koalition unter | |
| Gerhard Schröder war, die die Steuern für Gutverdiener – parallel zu den | |
| Hartz-Gesetzen – zwischen 1999 und 2005 in mehreren Stufen drastisch | |
| gesenkt hat. Den Spitzensteuersatz von 53 auf die bis heute geltenden 42 | |
| Prozent. Zurück zu Kohl wäre also die Korrektur dessen, was Doughan einen | |
| großen Fehler nennt. | |
| Damit hatte die Grüne einen schweren Stand in den Gremientreffen der letzen | |
| Tage, die Parteispitze fertigte sie kühl ab. Denn offensive Bekenntnisse zu | |
| Fehlern stören, wenn man selbstbewusst ab 2013 regieren will. Deshalb ist | |
| es kein Zufall, dass der Vorstand in seinem Leitantrag zur Finanzpolitik | |
| die damaligen Beschlüsse von Rot-Grün mit keinem Wort erwähnt. | |
| Stattdessen versucht sich die Parteispitze mit einer Mischung verschiedener | |
| Maßnahmen an einer strategischen Gratwanderung: mehr Umverteilung von oben | |
| nach unten einerseits, aber ohne der Wirtschaft wirklich wehzutun. Denn die | |
| wollen die Grünen beim ökologischen Umbau nicht vergrätzen. Im | |
| wirtschaftspolitischen Antrag lockt der Vorstand mit Bürokratieabbau, lobt | |
| den leistungsfähigen Mittelstand, preist dessen Innovationen. Eine | |
| rhetorische Umarmung, die früher undenkbar gewesen wäre. | |
| ## Ausgestreckte Hand oder ausgestreckte Faust? | |
| Entsprechend harsch fällt die Absage des Parteivorsitzenden Cem Özdemir an | |
| die Grüne Jugend aus. "Wir wollen auf die Wirtschaft mit der ausgestreckten | |
| Hand zugehen, nicht mit der ausgestreckten Faust." In den Antrag des | |
| Bundesvorstands ist ein sorgsam austarierter Kompromiss zum | |
| Spitzensteuersatz eingebaut: Ab einem zu versteuernden Einkommen von 60.000 | |
| Euro sollen 45 Prozent fällig werden, ab 80.000 Euro 49 Prozent. Firmen | |
| sollen besonders abgeschirmt werden. Özdemir sagt: "Das ist ein kluger | |
| Kompromiss, bei dem sich alle Seiten bewegt haben." | |
| In der Tat: Der Kompromiss löst einen Konflikt, der eine längere | |
| Vorgeschichte hat. Eine Konferenz der FraktionschefInnen aus Bund und | |
| Ländern um Jürgen Trittin hatte sich Ende August nicht auf eine Höhe | |
| einigen können. Jetzt bekommen die einen, zu denen Trittin gehörte, den | |
| höheren Satz. Und die anderen freut, dass dieser erst bei sehr hohen | |
| Einkommen greift. | |
| Özdemir warnte intern immer vor zu hohen Belastungen. Der Realo trifft sich | |
| regelmäßig mit Unternehmern, er gilt als wichtiger grüner Kontaktmann zur | |
| Wirtschaft. Diese sei ein Partner, kein Gegner, betont er. Den jetzigen | |
| Vorstandsvorschlag hält er für zumutbar, weil er nur zwei Prozent der | |
| Arbeitnehmer stärker belaste. | |
| "Auch Gutverdiener haben ein Interesse an einem solide finanzierten Staat, | |
| der soziale Sicherheit garantiert", sagt Özdemir. " Wenn er abends ausgeht, | |
| hat er auch etwas davon, auf dem Nachhauseweg keinen Knüppel über den Kopf | |
| gezogen zu bekommen." | |
| Doch nicht nur bei dem Spitzensteuersatz kann es Überraschungen geben. Ein | |
| weiterer Streit bahnt sich in Kiel bei der Vermögensabgabe oder -steuer an. | |
| Auch hier geht es im Kern darum, wie stark die Grünen Reiche zur Kasse | |
| bitten wollen. Der Vorstand votiert für eine zeitlich befristete Abgabe, | |
| die 100 Milliarden Euro einspielen soll. | |
| ## Landesverbände fordern Vermögenssteuer | |
| Besonders aus den Ländern kommt aber der Ruf nach einer Vermögensteuer. | |
| Denn die würde erstens dauerhaft erhoben, zweitens käme sie nicht dem Bund, | |
| sondern den Ländern zugute. Der Landesvorstand Nordrhein-Westfalen fordert | |
| sie per Antrag, andere Länder unterstützen ihn. | |
| Aus Schleswig-Holstein kommt die Idee, Vermögensabgabe und Vermögenssteuer | |
| zu kombinieren. "Eine Win-win-Situation", sagt die Grünen-Finanzexpertin im | |
| dortigen Landtag, Monika Heinold. Die Abgabe könne sofort erhoben werden, | |
| bis es ein schlüssiges Konzept für die Steuer gibt – eine | |
| Gerechtigkeitslücke werde "sofort und dauerhaft verringert". | |
| Ein Parteitag, der diesen Argumenten folgt, wäre für manchen Realo ein | |
| Horrorszenario. Weil ein solcher Beschluss die Kuschelstrategie mit der | |
| Wirtschaft torpedieren würde. "Wenn die Grünen die Vermögensteuer | |
| beschließen", sagt einer aus dem Realo-Lager, "geht ein Aufschrei durch die | |
| Unternehmen." | |
| Trotz solcher Unwägbarkeiten ist die Erzählung, die die Grünen-Spitze | |
| derzeit entwirft, eindeutig: Die Grünen präsentieren sich seriös und | |
| verantwortungsbewusst. "Wir haben verstanden, dass Unternehmen | |
| Verlässlichkeit brauchen, gleichzeitig haben wir klare Anforderungen, wenn | |
| es um ökologische und soziale Ziele geht", sagt Özdemir. | |
| Das scheint es eine wundersame Fügung, dass sogar der Berliner | |
| Landesverband in letzter Minute zur Ruhe gekommen ist. Der Verband | |
| gefährdete in den vergangenen Wochen die sorgfältig vorbereitete | |
| Seriositätsdemonstration im Bund. Nachdem Koalitionsverhandlungen mit Klaus | |
| Wowereits SPD Anfang Oktober gescheitert waren, entbrannte ein offener | |
| Machtkampf in der Fraktion. | |
| ## Linke Wurzelzwerge gegen Realo-Windeltrolle | |
| Der linke Flügel verweigerte der gewählten Fraktionsspitze die Gefolgschaft | |
| und tat per Pressekonferenz kund, für sich selbst zu sprechen. Alle | |
| brüllten sich wöchentlich im Fraktionssaal im Berliner Abgeordnetenhaus an. | |
| Ein Mediator wurde bestellt, ein genervter Fraktionschef trat zurück. Kurz: | |
| Die Flügel benahmen sich wie zwei Kindergartengruppen, die sich um den | |
| Sandkasten prügeln. Hier die linken Wurzelzwerge, da die | |
| Realo-Windeltrolle. | |
| Der Streit uferte derart aus und fand solche Beachtung in den Medien, dass | |
| er sogar das Image der ganzen Partei anzukratzen drohte. Bundesgrüne | |
| verdrehten jüngst nur noch total genervt die Augen, wenn man sie auf die | |
| Berliner Verhältnisse ansprach. Robert Habeck, Landeschef von | |
| Schleswig-Holstein – in dessen Hauptstadt Kiel der Parteitag stattfindet, | |
| weil dort im Mai Landtagswahlen sind –, beklagte sich öffentlich, derlei | |
| Flügelstreite wirkten lähmend. | |
| Am Dienstagabend schlossen die Lager dann einen wackligen Burgfrieden. Die | |
| bisherige Fraktionschefin Ramona Pop wird die Fraktion allein weiterführen | |
| – mangels eines geeigneten und von allen akzeptierten Kovorsitzenden. "Wir | |
| haben in den letzten Wochen viel Porzellan zerschlagen und müssen | |
| verlorenes Vertrauen wieder zurückgewinnen", sagt Pop. Jetzt würden sich | |
| die Berliner Grünen der Oppositionsarbeit widmen. "Wir sind es unseren | |
| Wählerinnen und Wählern schuldig, jetzt zur Politik zurückzukehren." | |
| Damit hat der Landesverband bereits begonnen, doch dürfte sein Engagement | |
| den Bundesvorstand kaum freuen: Die Berliner unterstützen auf dem Parteitag | |
| den NRW-Antrag – der die vom Vorstand abgelehnte Vermögensteuer fordert. | |
| 24 Nov 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Grünen-Politiker Habeck über 2011: "Dagegen sein ist keine Tugend" | |
| Robert Habeck, Spitzenkandidat der Grünen bei der Schleswig-Holstein-Wahl, | |
| über Winfried Kretschmanns Glanz, die neue ökologische Moderne und Helmut | |
| Schmidt. | |
| Kommentar grüne Netzpolitik: Grüne auf Kaperfahrt | |
| In der Netzpolitik wird sich für die Grünen entscheiden, ob sie der | |
| Piratenpartei ein Alleinstellungsmerkmal nehmen können. Doch sie stecken in | |
| einer Klemme. | |
| Grüne Fraktionschefin Ramona Pop:: "Viel Porzellan zerschlagen" | |
| An einer weiteren Eskalation kann niemand Interesse haben, sagt Ramona Pop. | |
| Sie soll die zerstrittene Grünen-Fraktion nun erst mal ein Jahr lang allein | |
| führen . | |
| Kommentar grüne Richtungssuche: Das Problem mit dem Luxus | |
| Stuttgart 21, Fukushima und Co. – die Wähler liefen 2011 scharenweise zu | |
| den Grünen. Doch die haben bisher keinen Umgang damit gefunden, dass sie | |
| gut ankommen. | |
| Grünen-Politiker zu Koalitionen mit der CDU: "Mit dieser CDU geht grüne Polit… | |
| Der Grüne Daniel Köbler, Fraktionschef in Rheinland-Pfalz, widerspricht | |
| seinem Amtskollegen Robert Habeck aus Schleswig-Holstein: Die Zukunft heißt | |
| Rot-Grün. | |
| Kommentar Ende von Rot-Grün in Berlin: Mit Vollgas in die Vergangenheit | |
| Der Auftrag der WählerInnen war klar: Doch Rot-Grün wird es in Berlin nicht | |
| geben. Wie immer sind natürlich die anderen Schuld. Und das Konzept einer | |
| offenen Stadt ist gefährdet. | |
| Debatte Steuern: Der Pakt mit den Reichen | |
| SPD und Grüne wollen den Spitzensteuersatz anheben. Doch ein Blick auf ihre | |
| Arbeit im Bundesrat lässt die Versprechen zweifelhaft erscheinen. |