# taz.de -- Debatte Afghanistans Zukunft: Das Desaster am Hindukusch | |
> Der Westen sorgt jetzt dafür, dass sich neue Milizen bilden. Die werden | |
> bald ernste Probleme machen, zumal das politische System versagt. | |
Bild: Parolen gegen die USA: Demonstrant in Kabul. | |
Afghanistan ist ein Failed State - aber der beste, den wir je hatten", | |
scherzte kürzlich der Geschäftsführer des Afghan Civil Society Forum bei | |
einer Veranstaltung in Berlin. Zehn Jahre nach der ersten | |
Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg, wo die politischen Weichen | |
für die Zeit nach dem Regime der Taliban gestellt wurden, sind sich alle | |
einig: In Afghanistan wurde ein gescheiterter Staat durch einen neuen | |
gescheiterten Staat ersetzt. Dabei ist der neue Staat nur ein wenig besser | |
als der alte. Und das, obwohl 2002 alles so gut begonnen hatte. | |
Afghanistan hatte mit der "Loja Dschirga" (Große Ratsversammlung aller | |
Stämme und gesellschaftlichen Gruppen) eine bewährte Tradition, um wichtige | |
Entscheidungen auf breiter gesellschaftliche Grundlage zu fällen. Doch | |
schon damals mischte sich der US-Botschafter deutlich zugunsten von | |
Präsident Hamid Karsai ein und bootete den greisen König Sahir Schah gegen | |
den Willen vieler Paschtunen aus. | |
Inzwischen ist offensichtlich, dass diese Dschirgas sich nicht zu auch nur | |
halbwegs funktionierenden demokratischen Kräften entwickelt haben. Statt | |
den Präsidenten und die Regierung effektiv kontrollieren zu können, ist das | |
Parlament als Ausdruck des Volkswillens heute kontur- und bedeutungslos. | |
## Niemals auf den Patron setzen | |
Afghanistan leidet heute an einer stark auf Patronage beruhenden | |
personifizierten Politik. Deren sichtbarster Ausdruck ist Präsident Karsai. | |
In dem auf ihn zugeschnittenen System geht es um seine politische Macht und | |
die befreundeter Warlords und Clans. Unabhängige Institutionen und vor | |
allem politische Parteien spielen keine Rolle mit Ausnahme jener, die | |
bewaffnete Gruppen repräsentieren. | |
Bis heute hat Präsident Karsai keine eigene organisierte politische Basis. | |
Er lehnte es stets ab, eine eigene Partei zu gründen oder einer | |
beizutreten. Doch zugleich entscheidet er allein über die Gouverneure der | |
Provinzen, die folglich auch nur ihm verantwortlich sind. Die gewählten | |
Provinzräte sind dabei noch machtloser als das nationale Parlament. | |
In dieser Politik wurde er von der US-Regierung bestärkt, die einen | |
direkten Draht zu einem mächtigen Präsidenten einer mühsameren | |
Berücksichtigung divergierender parlamentarischer Interessen vorzieht. Von | |
Beginn an hat Washington mit diskreditierten Warlords gekungelt statt | |
demokratische Kräfte zu stärken. Ohnehin wollte Washington am Hindukusch | |
nie Nationbuilding betreiben. Genau das rächt sich heute. Denn der Westen | |
droht in Afghanistan nicht nur militärisch zu scheitern. Er ist politisch | |
bereits mit dem von ihm installierten System gescheitert, was sich heute | |
auch militärisch rächt. | |
So stützt sich Karsais Macht nach den massiv gefälschten | |
Präsidentschaftswahlen von 2009 weniger auf das Votum der Bevölkerung und | |
anerkannte neutrale staatliche Strukturen, als vielmehr auf die Waffen und | |
den Rückhalt der Nato, das Geld der internationalen Gemeinschaft sowie auf | |
einige Warlords, die sich von seiner Herrschaft die Sicherung ihrer | |
Pfründen sowie juristische Straffreiheit versprechen. | |
## Günstlinge außer Kontrolle | |
So schwächt das System Karsai weiter die afghanischen Institutionen und | |
sorgt dafür, dass sich erst gar keine institutionelle Macht jenseits des | |
Präsidenten und seiner Günstlinge entwickeln kann. Statt der Bevölkerung | |
ein Gefühl von Mitsprache, Teilhabe Gerechtigkeit und staatlichem Schutz zu | |
geben, erlebt sie ein von den Interessen begünstigter Clans und notorischer | |
Kriegsverbrecher okkupiertes, pseudodemokratisches Staatsgebilde, in dem | |
Milliarden an Hilfsgeldern nutzlos versickern. | |
Genau dieses pervertierte politische System ist der Grund dafür, dass sich | |
die meisten Afghanen von dem Experiment mit der Demokratie und dessen | |
westlichen Protagonisten enttäuscht abwenden und in manchen Regionen das | |
krude, aber an klaren fundamentalistischen Prinzipien ausgerichtete | |
Herrschaftssystem der Taliban mangels besserer Alternativen wieder aufleben | |
lassen. | |
## Die Hoffnungsträger | |
Da der Westen in seinem militärischen Kampf gegen die wiedererstarkten | |
Taliban und bei seinen eigenen Abzugsplänen die Warlords und | |
Karsai-Günstlinge dringend braucht, hat er kein Druckmittel mehr in der | |
Hand, um sie auf eine bessere Regierungsführung zu verpflichten. | |
Stattdessen soll das fragile und auf Karsai und Konsorten zugeschnittene | |
politische System künftig durch die massive Aufrüstung und Ausdehnung | |
afghanischer Militär- und Polizeikräfte geschützt werden. Angesichts der | |
Interventions- und Zahlungsmüdigkeit der westlichen Allianz soll den | |
Afghanen jetzt auf die billige Tour gelingen, wozu besser ausgestattete | |
internationale Kräfte nicht in der Lage waren. | |
Das Scheitern dieser Strategie und neue Gewalt sind absehbar. Schon bald | |
wird dem schwachen afghanischen Staat das Geld ausgehen, er wird seinen | |
aufgeblähten Sicherheitsapparat nicht mehr finanzieren können. Dann drohen | |
marodierende Milizen und Kämpfe zwischen Warlord-Fraktionen wie zur | |
Herrschaftszeit der Mudschaheddin 1992 bis 1996. Und es kann noch schlimmer | |
kommen: Sollte Karsai Opfer eines Attentates werden, dann werden Kämpfe um | |
seine Nachfolge ausbrechen. Denn auch diese ist nicht so geregelt, dass sie | |
sich auf institutionellen Rückhalt und ein anerkanntes Verfahren stützen | |
könnte. | |
Eine Demokratie und ein funktionierendes ziviles Staatswesen muss auch von | |
unten wachsen. Es kann nicht allein von oben und außen installiert werden, | |
erst recht nicht, wenn sich die westlichen Installateure nicht einmal mehr | |
für die zweite Ebene interessieren und demokratische Mechanismen selbst | |
immer wieder aushebeln. | |
Dabei gibt es unter jungen Afghanen und Afghaninnen einige ermutigende | |
Beispiele. Trotz aller Widrigkeiten erhielten sie eine gezielte Förderung | |
und sind heute hochqualifiziert. Doch wenn diese Menschen sich nicht | |
konstruktiv für das Gemeinwohl engagieren können, sondern in korrupte | |
Patronagenetzwerke einfügen oder das Land verlassen müssen, dann sind auch | |
diese Hoffnungsträger bald keine mehr. | |
2 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
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