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# taz.de -- Direkte Demokratie: Abstimmung über Lindau 21
> Die Bodensee-Stadt soll ihren Kopfbahnhof verlieren. Eine Initiative hat
> einen Bürgerentscheid erkämpft - ohne eine einzige Demonstration.
Bild: Über einen eigenen Bahndamm fahren derzeit die Züge auf die Insel im Bo…
Karl Schweizer, von allen "Charly" genannt, ist kein Wutbürger. Der
58-Jährige ist ausgesprochen zufrieden mit sich und der Situation in seiner
Stadt. In Lindau, einer Gemeinde mit 25.000 Einwohnern am Bodensee, wird
die Bevölkerung an diesem Sonntag - ebenso wie zuletzt in Stuttgart - über
einen Bahnhof abstimmen. Eine Abstimmung, die es ohne Schweizer und seine
Mitstreiter nicht geben würde.
Wenn Schweizer - orangefarbener Anorak, silberne John-Lennon-Brille,
Pferdeschwanz - die Lage in Lindau erklären soll, verabredet er sich am
Hauptbahnhof, "dem Objekt der Begierde", wie er sagt. Die letzten vierzehn
Jahre hat er sich mit kaum etwas so intensiv beschäftigt. Die
Bahnhofshalle, 1921 im Jugendstil erbaut, ist sein Baby.
Beherzt stößt Schweizer eine hohe Flügeltür mit der Aufschrift "Zutritt
verboten" auf, die von der Ankunftshalle ins Innere des verwinkelten
Bahnhofs führt. "Ich darf das", sagt er und lächelt wie ein Lausbub.
Hinter der Tür liegt ein breiter Gang im Halbdunkel, von dem man erahnen
kann, dass er einmal ebenso repräsentativ ausgesehen haben muss wie die
Wartehalle mit den beiden großen Messingkronleuchtern. Doch das ist viele
Jahre her.
Auch der viereckige Innenhof mit der ehemaligen Gartenterrasse verwittert
in einem seit Jahren währenden Dornröschenschlaf. "Hier wurde seit
Jahrzehnten nichts mehr gemacht", sagt Schweizer bitter.
Genau wie in Stuttgart will die Bahn bei dem Projekt "Lindau 21" den
Kopfbahnhof auf der Insel am liebsten ganz schließen und die wertvollen
Flächen verkaufen. Im Gegenzug soll ein Güterbahnhof an Land zum
Durchgangsbahnhof für den Personenverkehr ausgebaut werden.
## Der historische Bahnhof muss bleiben
Der Stadtrat - seit Jahrzenten in konservativer Hand - sprach sich in den
Neunzigerjahren auch für die Aufgabe des Inselbahnhofs aus. Doch für
Schweizer stand fest: Der historische Bahnhof muss bleiben. "Ich bin Ende
der Sechzigerjahre sozialisiert", sagt er. Für ihn sei die Bahn ein
wichtiger Bestandteil des öffentlichen Nahverkehrs. "Bereits bestehende
Infrastruktur, die gibt man nicht einfach so auf."
Zwar wohnt Schweizer - genau wie die Mehrheit der Bewohner von Lindau - auf
dem Festland. Doch "das gesellschaftliche, kulturelle und soziale Zentrum
der Stadt liegt nach wie vor auf der Insel", sagt er. Der Bahnhof sei auch
für den Tourismus der Region ein wichtiger Anziehungspunkt.
Also gründete Schweizer 1998 die Aktionsgemeinschaft Lindau. Anders als in
Stuttgart haben die Lindauer Durchgangsbahnhof-Gegner aber nie für ihr
Vorhaben demonstriert. Stattdessen sammelten sie Unterschriften für den
Verbleib des Inselbahnhofs, organisierten "Bahnkongresse", zu denen sie
Experten und später auch Mitstreiter aus Stuttgart einluden, und gaben den
"Lindauer Bahnboten" heraus.
Besonders hartnäckigen Gegnern brachte Schweizer die Broschüren persönlich
vorbei. Eine Form der Agitation, die nur in einer kleinen Stadt wie Lindau
möglich ist, in der viel davon abhängt, dass man sich persönlich kennt.
2001 schließlich kam es im Stadtrat bei einer neuen Abstimmung zum Patt: 15
Stadträte waren für die Modernisierung des Inselbahnhofs, 15 für den
Durchgangsbahnhof auf dem Festland. "Danach war zwei Jahre Funkstille", so
Schweizer.
In dieser Zeit meldete sich ein bis heute wichtiger Verbündeter der
Aktionsgemeinschaft zu Wort: Richard Stolze, der heutige Seniorchef des
wichtigsten Hotels am Platz. Auch er wollte den Inselbahnhof unter
touristischen Aspekten erhalten. Gemeinsam mit dem örtlichen Landrat
gründete er einen Runden Tisch und aktivierte den Hotel- und
Gaststättenverband.
## Der Kompromiss: eine Kombilösung
Erst in diesem Jahr stellte der bayerische FDP-Verkehrsminister Martin Zeil
die Kombilösung vor: Der Durchgangsbahnhof kommt und nimmt den Fernverkehr
zwischen München und Zürich auf, aber der historische Kopfbahnhof bleibt
für den Regionalverkehr erhalten. Alle Beteiligten wahren dabei zumindest
einen Teil ihrer Interessen.
Die Bahn ist zwar weiter dafür, dass nur der neue Durchgangsbahnhof bleibt.
Bahnmanager Volker Hentschel: "Ein Festlandsbahnhof bietet für die meisten
Lindauer kurze Wege. Sie müssen nicht vorher hinaus auf die Insel fahren,
um auf den Zug umzusteigen. Und die Bahnreisenden gewinnen ungefähr acht
Minuten, wenn die Züge nicht auf der Insel Kopf machen müssen."
Die Bahn könnte sich jedoch auch mit der Kombilösung anfreunden - unter
einer Bedingung: "Wir haben klargemacht, dass die Bahn die zusätzlichen
Kosten dafür - also für zwei Bahnhöfe - nicht tragen kann", so Hentschel.
Bahn und Stadt haben bereits zugesagt, die benötigten 6,2 Millionen Euro
zuzuschießen.
Das Stadtbauamt Lindau rechnet damit, dass die Kombilösung für den
kommunalen Haushalt insgesamt trotzdem billiger als der alleinige
Durchgangsbahnhof ist - weil bei der Kombilösung auch Züge zwischen dem
Insel- und dem Festlandsbahnhof fahren und die Stadt sonst einen Busverkehr
auf der Strecke anbieten müsste.
Nun ist es an den Lindauern, in einer vom Stadtrat initiierten Abstimmung
über die Kombilösung zu entscheiden. Wie die Abstimmung ausgeht, ist für
Charly Schweizer völlig offen. Er vermutet, dass sich auch in Lindau ein
Teil der Bevölkerung den Durchgangsbahnhof wünscht. "Das ist völlig
unberechenbar", sagt er.
Zudem plant die CSU, nach wie vor die stärkste Fraktion im Lindauer
Stadtrat, ein Bürgerbegehren im Frühjahr, bei dem die Bürger noch einmal
abstimmen können: Statt für die Kombilösung nur für den Durchgangsbahnhof
auf dem Land.
Schweizer wird den Sonntag im Rathaus verbringen, begierig darauf, das
Ergebnis der Abstimmung zu hören. Und auch Bahnmanager Hentschel ist
gespannt: "In Lindau ist es uns wichtig, nach Jahren des Hin und Her nun
endlich eine Entscheidung herbeizuführen."
9 Dec 2011
## AUTOREN
Marlene Halser
## TAGS
Schwerpunkt Stuttgart 21
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