# taz.de -- Nachruf Horst-Eberhard Richter: Der Therapeut der Republik | |
> Der Wehrmachtssoldat, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Horst-Eberhard | |
> Richter war der wichtigste Stichwortgeber der Nachkriegszeit und Star der | |
> Friedensbewegung. | |
Bild: Horst-Eberhard Richter 2002 beim Ostermarsch in Gießen. | |
Kein anderer Intellektueller der Nachkriegszeit hat so häufig bleibende | |
Stichworte in deutsche Debatten geworfen: "Lernziel Solidarität", "Patient | |
Familie" und "Flüchten oder Standhalten" – Horst-Eberhard Richter hat die | |
wichtigsten Chiffren bundesdeutschen Zeitgeistes entworfen. | |
Nicht Habermas, nicht Enzensberger, auch nicht Beck oder Sölle: Richter war | |
der Spiritus Rector eines Landes, das kriegsfern bleiben wollte und | |
gutmütig in einem sehr wichtigen Sinne - dem des | |
antinationalsozialistischen. | |
Horst-Eberhard Richter, der vorgestern im Alter von 88 Jahren in Gießen | |
starb, war der bedeutendste Interpret des Bewusstseins seiner Zeit. Dazu | |
nutzte er das wertvollste intellektuelle Rüstzeug, das in der | |
Nachkriegszeit zu haben war: Psychologie, Einfühlung, auch Empathie und | |
Kritik an dem, was er Versteinerung, Verhärtung, Verpanzerung nannte. | |
Den Rang seiner Arbeit erkennt man, macht man sich klar, dass sein | |
eventuell wichtigster Beitrag zur Verfriedlichung der Bundesrepublik | |
bereits 1962 erschien - "Eltern, Kind und Neurose", das zunächst bei einem | |
psychoanalytischen Fachpublikum avancierte und dann über den Rowohlt-Verlag | |
in hunderttausendfacher Auflage in die geistigen Kapillargefäße der | |
Republik tröpfelte. | |
Über Buchhandlungen, Universitäten, Büchertische in die Köpfe von | |
angehenden Erziehern, Kindergärtnerinnen, Lehrern und Eltern. Man lernte | |
mit dieser eher spröden Schrift, was damals noch keineswegs Mainstream war | |
- unter anderem, dass Kinder Menschen sind und keine Objekte, die der | |
Züchtigung bedürfen, auf dass sie den Härten des Lebens gewachsen sein | |
können. | |
## Mahner und Bedenker | |
Zur historischen Einordnung: Nur mit Mühe, gegen den Widerstand der Union, | |
konnte im Jahr 2000 ein Verbot des Schlagens von Kindern gesetzlich | |
verankert werden. | |
Für Horst-Eberhard Richter, Jahrgang 1923, stand früh fest, dass es ein | |
Übel war, die Männerrolle soldatisch zu definieren, die der Frau als seine | |
Komplizin und Amme seines Nachwuchses. | |
Ende der sechziger Jahre fand kein Diskurs statt ohne Horst-Eberhard | |
Richters Superprominenz als Mahner und Bedenker in der Bundesrepublik. Sein | |
Buch "Flüchten oder standhalten", 1976 erschienen, ein Essay, der sich | |
fehlender psychischer Fähigkeit zum Konflikt widmete, war dem | |
sozialliberalen und linken Kulturestablishment eine perfekte Vorlage zu | |
einem Credo des Widerständigen: Flüchten, so lernten wir, ist doof; | |
standzuhalten ist tapfer und gut, wenn es die richtige, humanitäre Sache | |
betrifft. | |
Den Zenit seines öffentlichen Engagements, von dem er sagte, in seiner | |
Zukunft, der psychoanalytischen, gehöre er zu den wenigen, die sich ein | |
solches leisteten, schaffte er mit der Friedensbewegung der frühen | |
Achtziger: "Alle redeten vom Frieden" hieß eines seiner Bücher - eine | |
Satire 1981 formuliert - machte ihn zum Star der Nachrüstungsgegner. | |
## Gegen die noch lodernde Kriegslust | |
Richter verstand seine "paradoxen Interventionen" gegen, wie er vermutete, | |
unbewusst in der Gesellschaft noch lodernde Kriegslust, nicht als Beitrag | |
gegen den realen Sozialismus oder gegen die Nato - er begriff sich | |
blockübergreifend. | |
Ein Stichwort Carl-Friedrich von Weizsäckers aufgreifend, schrieb er von | |
der "Krankheit Friedlosigkeit", die Menschen befalle, die ihre in frühesten | |
Lebenstagen erlittenen Demütigungen und Kränkungen potenziell kriegerisch | |
ausagieren wollten. | |
Seine eigene Erfahrungen waren traumatisch. In einem Interview mit der taz | |
sagte er, der in der Wehrmacht Soldat in der Sowjetunion war und durch | |
Zufall nicht zu den Toten von Stalingrad gehörte: "Noch immer träume ich | |
selbst vom Krieg." | |
Er erzählt: "Man übergibt mir die Habseligkeiten eines gefallenen Soldaten. | |
Es ist, als würde ich gerade von der Front nach Hause entlassen. Ich soll | |
die Sachen den Angehörigen bringen, aber frage vergeblich und verzweifelt | |
nach deren Adresse. Ich übernehme die Last, aber weiß nicht, wohin damit." | |
## Eine Geste des Vertrauens | |
Richter suchte und fand Wege, mit dieser Bürde fertigzuwerden. Er wurde | |
Arzt, leitete in Westberlin ab 1952 zehn Jahre eine Beratungs- und | |
Forschungsstelle für seelisch gestörte Kinder, gründete in Gießen die erste | |
Klinik für psychosomatische Medizin, war später in einer Fülle | |
internationaler Gremien Sprecher und Promoter der Friedensbewegung. | |
Von 1992 bis 2002 leitete er in Frankfurt am Main das | |
Sigmund-Freud-Institut - eine Ehre und zugleich eine Geste des Vertrauens | |
seiner Zunft, die ihm, dem Popularisierer psychologischer Sichtweisen, sehr | |
viel zu verdanken hat. | |
Im persönlichen Kontakt schildern ihn Kollegen und Zeitgenossen als | |
ausgesprochen umgänglich - aber stets wach und munter. Altersruhestand? | |
Nicht mit Horst-Eberhard Richter. Auf eine gewisse Art war er schließlich | |
auch stets ein wenig nervtötend. | |
Störte ihn das? In der Zeit antwortete er auf diese Frage: "Mag sein. Was | |
klagst du über Feinde - wie sollen die deine Freunde sein, denen du ein | |
ewiger Vorwurf bist?" | |
## Ein persönlicher Auftrag | |
Seine Bemerkungen über Burn-out, die Finanzkrise, George W. Bush, Osama bin | |
Laden, den Islam oder alles, was sonst im zeitgeistigen Strom der Kritik | |
thematisch gerade Mode (wie die einen sagen) oder dringlich zu sagen (so | |
sagten die anderen) war, kommen einer Enzyklopädie des kritischen | |
Bewusstseins gleich: Richter verstand die Ambivalenz der Moderne als | |
persönlichen Auftrag, es nie wieder zu Verhältnissen kommen zu lassen, wie | |
sie hierzulande bis 1945 gang und gäbe, gewiss auch populär waren - mit | |
Männern und Frauen, die zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl zu sein | |
hatten. | |
Gelegentlich gab Richter auch Rätsel auf. Etwa mit seiner beinahe | |
väterlichen Art, wie er sich in die inhaftierte RAF-Terroristin Birgit | |
Hogefeld einzufühlen begann - und für deren Freilassung plädierte. | |
Unreflektiert blieb bei ihm das, wozu Menschen auch fähig sind: zum Bösen, | |
zur absichtsvollen Destruktion. | |
Mit Horst-Eberhard Richter starb einer der wichtigsten Therapeuten und | |
Interpreten der Bundesrepublik. Er war ein Spiegel seiner Zeit. Und er | |
hielt ihn dieser vor. | |
Mehr Aufträge ließen sich nicht für einen, der einst töten musste, im Sinne | |
des Besseren zum Gelingen bringen. | |
20 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## TAGS | |
68er | |
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