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# taz.de -- Debatte Psychoanalyse der "Nach-68er": Kronzeugen fürs Unbewusste
> Für die Selbstaufklärung der Generation "nach 1968" war die Psychoanalyse
> zentral. Doch in ihrer Gesellschaftskritik zeigen sich manche bis heute
> nicht frei von Projektionen.
Was heute in Vergessenheit zu geraten droht: Die 68er-Bewegung war von
einem Höhenflug der Psychoanalyse begleitet, die, ebenso wie der Marxismus,
von den revoltierenden Studenten wiederentdeckt worden war. Eine
triebpsychologisch fundierte Psychoanalyse galt als subversive Kraft beim
Versuch, die spätkapitalistischen Verhältnisse theoretisch wie praktisch
"zum Tanzen zu bringen".
Damals war eine ganze Generation von angehenden Psychotherapeuten,
Medizinern, Soziologen, Pädagogen, Philosophen und Sozialarbeitern
überzeugt davon, dass seelische Erkrankungen aller Art durch die
Verhältnisse verursacht seien. Vom gemeinen neurotischen Unglück bis zum
psychotischen Elend - man glaubte, individuelles Leiden an der sozialen
Wirklichkeit habe im Krankheitssymptom beziehungsweise im abweichenden
Verhalten bloß einen verkehrten Ausdruck gefunden und müsse in kollektiven
Widerstand gegen das System verwandelt werden. In einem "wilden"
Anwendungsdiskurs wurde das klinische Vokabular der Psychoanalyse
schließlich dermaßen überdehnt, dass am Ende die Psychopathologisierung der
Lebenswelt mit einer politischen Instrumentalisierung von Patienten in
psychiatrischen Einrichtungen, von dissozialen Jugendlichen in
Erziehungsheimen oder von Obdachlosen einherging. Der für
Helferprofessionen typische Hang zur Viktimisierung der eigenen Klientel
traf dabei auf die innere Bereitschaft vieler ihrer Klienten, die ihnen
angetragene Rolle des Opfers zu übernehmen, um sie dann gegen die
Täterrolle einzutauschen.
Nach dem Versagen des Proletariats wurden die Marginalisierten dieser Erde
zum revolutionären Ersatzsubjekt ernannt. Ein neues Kampfbündnis wurde
geschmiedet, das unter dem Schlachtruf "Aus der Krankheit eine Waffe
machen!" oder "Macht kaputt, was euch kaputt macht" politisch geradewegs in
die Sackgassen des Linksterrorismus führte, nicht selten auch in die
persönliche Katastrophe. Bezeichnend, dass Ulrike Meinhof, Andreas Bader
und Gudrun Ensslin sich bei der Arbeit mit gesellschaftlichen Randgruppen
trafen und dass die zweite Generation der RAF regen Zulauf aus dem
Heidelberger "Sozialistischen Patientenkollektiv" erhielt. Zusammen mit dem
geschichtsphilosophischen Pathos und dem gesellschafts- und
kulturkritischen Furor jener Zeit sorgte eine hochfahrenden Moral
schließlich dafür, dass eine selbst- und weltverändernde Stimmung in die
klammheimliche Freude über den gelungenen Terrorakt umschlagen konnte.
Die totalitären Ideen, denen wir im Kampf für eine befreite Gesellschaft
selber anhingen; die demonstrative Identifikation mit den Ikonen der
Weltrevolution, die sich später nicht selten als Schlächter ihrer eigenen
Völker entpuppten; die Macht- und Ohnmachtsfantasien, die wir pflegten - im
Rückblick wirken diese Turbulenzen in der Spätadoleszenz der
68er-Generation einigermaßen bizarr. Älter, reifer und klüger geworden,
erzählen wir unseren staunend zuhörenden Kindern, was wir in unserer
verlängerten Jugend alles geglaubt, gedacht und gemacht haben, wo wir uns
irrten und weshalb wir die Dinge heute anders sehen als damals.
An einem der klassischen Psychoanalyse entlehnten Erklärungsmodell hat eine
selbstreflexive Linke allerdings zu Recht festgehalten: Der xenophobe Hass
auf den anderen, der sich zur Vernichtungswut und Mordbereitschaft steigern
kann, erklärt sich aus einem seelischen Abwehrvorgang. Fremdenfeindlichkeit
entsteht nach diesem Modell dadurch, dass gefährliche Strebungen im eigenen
Triebhaushalt vom Ich oder Über-Ich als fremd "erkannt", abgespalten, auf
andere übertragen und dort attackiert werden. Die Gefahr kommt dann nicht
mehr von innen, sondern von außen. In den Tiefen des Unbewussten jedoch ist
der Angriff auf den äußeren Feind ein Angriff auf verdrängte, verleugnete
und schließlich projizierte Anteile des eigenen Selbst. Dieses plausible
Modell ließ sich überzeugend auf tatsächliche Hassphänomene anwenden: auf
den Hass gegen Homosexuelle, auf Frauen- und Ausländerfeindlichkeit, auf
den Antisemitismus.
Ein problematischer Anwendungsfall ist die "Islamophobie", die in einem
angeblichen "Feindbild Islam" begründet sei. Beispielhaft die
Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun. Auf psychoanalytischen
Tagungen wirbt sie für ihre These, die Kritik des Westens an der
Verschleierung der islamischen Frau verschleiere eine offenkundige
Wirklichkeit im eigenen Kulturraum: die zunehmende Entblößung der Frau.
Statt die verleugnete westliche Scham angesichts dieser sexuellen
Zurschaustellung projektiv zu bewältigen, indem wir den Schleier als Symbol
der Frauenunterdrückung anprangern, sollten wir ihn als Schutzmaßnahme der
Frau gegen den schamlosen Blick des Mannes verteidigen. Die Burka als
Festung der weiblichen Unschuld? Könnte es sein, dass sich hier in
selbstkritischer Pose die eigene kulturromantische Projektion gegen ihre
Korrektur durch eine ernüchternde Wirklichkeit sperrt?
Auch Horst-Eberhard Richter, mit einer vorbildlichen Biografie
ausgestatteter linker Psychoanalytiker, neigt dazu, das Modell von Spaltung
und Projektion als selektive Blaupause zu benutzen, solange es seinen
politischen Überzeugungen entspricht. In dieser Zeitung (taz vom 26. 10.
2007) hat der Mentor der 68er-Generation und heutige Sympathisant von Attac
den Russlandfeldzug der deutschen Wehrmacht, an dem er selbst als junger
Schütze teilnahm, mit der militärischen Intervention der internationalen
Gemeinschaft in Afghanistan verglichen. In einem Vortrag vor der Deutschen
Psychoanalytischen Vereinigung beklagte er nun unter Beifall "die
Abspaltung des terroristischen islamistischen Bösen vom westlichen Guten".
Ist es in Wahrheit nicht umgekehrt? Dass nämlich im radikalen Islamismus
xenophobische Denk- und Gefühlsmuster ausgelebt werden, wenn er zur
Vernichtung des dekadenten Westen aufruft. Woher dieser Hass? Eine der
Aufklärung verpflichtete Psychoanalyse würde sagen: weil eine obsessive
Reinheitsfantasie den Islamisten zur projektiven Bekämpfung jenes Unreinen
(im Grunde: des Weiblichen), Heterogenen, Ambivalenten, das sich im Zuge
der Globalisierung immer weiter auszudehnen droht, geradezu nötigt. Dagegen
hilft kein "Krieg gegen den Terror", aber auch kein mentales Appeasement.
Über seine langjährige Therapie mit Birgit Hogefeld hat Richter einen
Aufsatz veröffentlicht, zu dem ihm Reemtsma eine interessante Rückmeldung
gegeben hat: Die verständnisvolle Nähe zu seiner Patientin habe den
Psychoanalytiker dazu verführt, das Angebot der ehemaligen RAF-Kombattantin
anzunehmen, "Kronzeugin für das Weltbild Richters" zu werden. Hier verläuft
eine Linie des Unbewussten von der 68er- zur neuen Protestbewegung:
Altlinke wie Neulinke müssen aufpassen, dass sie sich in ihrer Kritik an
Amerika, am Kapitalismus und an der Globalisierung nicht vom Islamismus
bestätigen lassen.
MARTIN ALTMEYER
4 Dec 2007
## AUTOREN
Martin Altmeyer
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