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# taz.de -- Wider das Revolten-Bashing: Gnade für die 68er
> Über die Revolte ist eigentlich alles gesagt. Trotzdem bewegt sie noch
> immer die Gemüter. Denn ihre Folgen wirken bis heute
Bild: Lag politisch oft daneben und gilt heute gar als Vordenker von Andreas Ba…
"1968 war ein Epochenbruch der deutschen Gesellschaft in Richtung
Egozentrik, Faulheit, Mittelmass. Wir leiden noch immer darunter. 1968
bestimmt unser Leben bis in die letzten Fasern: Staatsgläubigkeit,
kryptosozialistische Versorgungssysteme, Selbsthass, Identitätsverlust."
Kai Dieckmann, Chefredakteur von "Bild", 2007
eunzehnhundertachtundsechzig ist 40 Jahre entfernt. Zwischen jetzt und
damals liegt ein Zeitraum, der mehr als dreimal länger ist als die NS-Zeit
währte. Zwischen 1968 und heute liegt die deutsche Vereinigung, das Ende
des Realsozialismus, das Internet, die Jahrtausendwende, die verschärfte
Globalisierung. Und Rot-Grün, die Ära, in der mit Schröder, Fischer &
Schily symbolisch die "68er" an die Macht kamen. 2001 wurde, fokussiert auf
Joschka Fischer, eine geschichtspolitische Schlacht angezettelt, in der
noch mal alles auf den Tisch kam: die Gewalt, die Selbstheroisierung der
"68er" und die verkrampften Versuche der Rechten, daraus politisches
Kapital zu schlagen.
Mit der Fischer-Debatte ist sogar die Aktualisierung von "68" für
gegenwärtige Zwecke Zeitgeschichte geworden. Ist es jetzt nicht langsam
genug mit "68"? Sind nicht alle Anekdoten erzählt, alle Deutungen
entworfen, alle Abrechnungen publiziert und alle Abgrenzungsrituale der
Jüngeren gegen die übermächtigen "68er" durchexerziert? Kann man die
Revolte nicht endlich, wie die Ostverträge oder die Bildungsreform, in die
Hände von vertrauenswürdigen Fachhistorikern legen, die solide
Interpretationen entwerfen, die niemand mehr wirklich bewegen?
Offenbar nicht. 1968 scheint die Geschichte der Bundesrepublik noch immer
auf wundersame Weise in ein Davor und Danach zu teilen. 1968 geschahen
andernorts, in den USA, Frankreich, Mexico, Polen und der CSSR politisch
viel heftigere Beben und Gewaltexplosionen. Aber nirgends ist "68" zu einer
so wirkungsmächtigen Chiffre geworden wie hierzulande. Es gibt noch immer
keinen völlig abgekühlten Standpunkt von außen (was auch daran liegt, dass
die meisten im Umlauf befindlichen Großrauminterpretationen von - genau -
"68ern" stammen.)
Offenbar ist 1968 etwas geschehen, das bis ins Heute ragt.
Autoritätsverhältnisse in den Familien, Schulen, Betrieben und Ämtern
wurden geschliffen, in der Beziehung zwischen den Geschlechtern galt nicht
mehr, was immer gegolten hatte. Wo fraglose Autoritäten herrschten, gibt es
heute komplexe Aushandlungsprozesse. "1968" symbolisiert eine Veränderung
des kollektiven Sozialcharakters: Steifes wurde gelockert, Starres
verflüssigt. Etwas hat sich verändert, zum Missvergnügen vieler
Konservativer bis heute.
Man kann den Schock, den die Revolte 1968 und der Machtverlust 1969 für die
die konservativ-bürgerliche Elite bedeutete, kaum überschätzen. Denn es war
ja ein Teil des eigenen Nachwuchses, der sich aus heiterem Himmel von
angepassten, strebsamen Jungakademikern in renitente, von Drogen oder
Neomarxismus benebelte Langhaarige verwandelte. Sie lasen Bücher, die ihre
Eltern nicht verstanden und hörten Musik, die nichts als Krach war. Die
Konservativen verloren Ende der 60er Jahre die "kulturelle Hegemonie".
Stolz auf das Wirtschaftswunder, Identifikation mit den guten Siegern, den
USA und Antikommunismus reichten nicht mehr aus. Dass ausgerechnet die USA,
das leuchtende Vorbild, das der Bundesrepublik die Demokratie geschenkt
hatte, in Vietnam einen barbarischen Krieg führten, brachte das Wertesystem
in Wanken.
"68" hat die Wertkonservativen Jahrzehnte nicht los gelassen. Ihr Kritik
klingt seitdem ziemlich gleichtönend: zu viel Freiheit, zu wenig Bindung,
zu viel Hedonismus, zu wenig Verantwortung. Die Psychotherapeutin Christa
Meves - das konservative Pendant zu Horst-Eberhard Richter - hat "68" mit
beachtlicher Ausdauer als Symbol haltloser Libertinage bekämpft. In ihrer
Lesart war die Revolte ein Sündenfall, der der Republik Geißeln wie zu
wenig Kinder, mehr Scheidungen (wegen des Feminismus), weniger
Leistungswille (wegen einer "zerstörerische Gleichheitsideologie" (Meves)
und mehr Abtreibungen einbrachten. "68" hätten Feministinnen gemeinsam mit
linken Ideologen, befördert durch die Freigabe der Pille 1965, die Familien
zerstört. Seitdem gelten Hausfrauen nichts mehr, Männer fürchten sich vor
emanzipierten Frauen, und die haben es mit bindungsschwachen Männern zu
tun. Auch das bei der RAF relativ viele Frauen waren, verbucht Meves als
Emanzipationsschaden: als Ergebnis "einseitig vermännlichte Bildung" und
einer "sexualisierten Lebensweise".
eves erreichte mit diesen grobgeschnitzten Thesen über die Jahrzehnte zwar
hohe Auflagen - aber irgendwie kamen diese Kulturkampfschriften in der
Mitte nie wirklich an. Obwohl stets das Banner des Kampfes gegen linke
Ideologien gehisst wurde, rochen diese Thesen selbst scharf nach
Zwangsbeglückung. Und nach einem muffigen Traum von den 50ern Jahren, in
denen der Frauen Hausfrauen, Kinder brav und Sex & Ehe Synonyme waren.Vor
allem aber war und ist diese konservative Fundamentalkritik unterkomplex.
Was sie ins Visier nimmt, ist viel mehr als "68": Sie richtet sich gegen
die Freiheitsgewinne des individualisierte, flexiblen Kapitalistismus
insgesamt - und setzt hilflos-aggressiv eine reaktionäre Vision von einer
Welt dagegen die es nie gab: heil, behütet und streng patriarchalisch.
Es war insofern kein Zufall, dass es bei dem einzigen Versuch, mit einem
kulturellen rollback von "68" ernst zu machen, bei der Ankündigung blieb.
1983 kündigte Helmut Kohl eine "geistig moralische Wende" an - von der
danach nie wieder die Rede war. Die Konterrevolte gegen Wertezerfall,
sozialistische Gleichheitsideologie und "deutschen Selbsthass" fiel aus.
Irgendwie hatte sich auch das eigene Fußvolk an die Post-68er
Freiheitsgewinne gewöhnt. Die Studentenrevolte hatte, verbunden mit
Pop-Kultur und Hippies eine "Fundamentaliberalisierung" (Jürgen Habermas
1988) in Gang gesetzt, gegen die kein Kraut gewachsen war. Zumal neblig
blieb, wohin die Retroreise führen sollte - zu Adenauer? Angela Merkels
Kritik an den 68ern in der Fischer-Debatte relativierte sich dadurch, dass
sie ohne jene "Fundamentaliberalisierung" kaum CDU-Chefin geworden wäre.
Die zähe Verwandlung der CDU von einem Honorationenclub in eine leidliche
liberale Partei wurde jedenfalls durch den Doppelschock von Revolte und
Machtverlust 1967/69 ausgelöst.
Erfolgreicher als die vergebliche konservative Kulturkrititk erscheint,
zumindest derzeit, die politische Kritik der Revolte. Die
Studentenbewegung, so der CDU-Historiker Gerd Langguth und Herman Lübbe,
hätten die RAF vorbereitet. "68" sei ein Rückfall in utopisches Denken
gewesen, in Verachtung der demokratischen Institutionen und - Höchststrafe
- der Bruch mit dem antitotalitären Konsens der Bundesrepublik. (Wobei der
Antitotalitarismus der 50er einschloss, dass Ex-NS-Richter Recht sprachen,
während Kommunisten in Haft saßen.)
Das konservative 68er-bashing führte lange ein Schattendasein. Auch
Liberalkonservative, wie Richard von Weizsäcker, deuteten die Revolte 1990
als Schub Richtung mehr Demokratie. Vor allem in den 90ern wurden die
"68er" als Protestfolklore ins Selbstbild eingemeidet - verstärkt durch die
heftige Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik, die viele imWesten nach
der Wiedervereinigung erfasste.
Aufwind bekamen die konservative Revolte-Kritik erst seit auch 68er (z.B.
Wolfgang Kraushaar) ähnliche Töne anschlagen und die Revolte als Rückfall
ins Totalitäre deuten. Nun lag die APO damals in der Tat in fast allen
politischen Fragen falsch. Die Notstandsgesetze waren nicht die
Eintrittskarte in den Faschismus, sondern verstaubten in Ablagen. Der
Spätkapitalismus ging nicht, wie theoretisch vorgesehen, unter - im
Gegenteil. Der liberale Kapitalismus erwies seine staunenwerte Kraft gerade
darin, noch seine schärfsten Gegner zu integieren. Der radikaldemokratische
Impuls der Revolte kippte, unter dem Eindruck der selbst mit in Gang
gesetzten Eskalation mit dem Staat, in Rechthaberei.
ber die Mode, Rudi Dutschke als Vordenker von Andreas Baader, die "68er"
more or less als Antisemiten und totalitäre Gefahr zu brandmarken, hat
etwas Unangenehmes. Abrechungen mit eigenen Jugendirrtümern wirken selten
souverän. Und der Gestus des Denkmalsturzes hat selbst etwas 68erhaftes -
so versichert man sich noch ex negativo, dass man doch enorm
geschichtswichtiges Personal war.
Vielleicht sollte man gegen die heißen Abrechnungen einen kühlen Blick von
außen zitieren: "Keine Revolution ist demokratisch. Dafür war die
Bundesrepublik eine gefestigte Demokratie. Die konnte das ab", so der
frühere israelische Botschafter Avi Primor über die Revolte.
Kulturell haben die "68er" gewonnen, weil sie beschleunigten, was in der
Luft lag: die Verwandlung des auf Pflicht und Ordnung fixierten
Fabrikkapitalismus in den individualisierten, auch unsichereren
Kapitalismus der Informationsgesellschaft. Bleibt auch politisch etwas
außer Irrtümern? Am ehesten die Idee des Supranationalen. Und die
Erinnerung, dass globale Gerechtigkeit noch immer uneingelöst auf der
Tagesordnung steht. Heute.
28 Dec 2007
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
68er
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