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# taz.de -- Sozialpolitik in Deutschland: Arbeitslose werden schneller arm
> Nirgends sonst in der EU ist das Armutsrisiko für Arbeitslose höher als
> in Deutschland. Die Gefährdungsquote liegt bei 70 Prozent. Jeder vierte
> neue Arbeitslose erhält direkt Hartz IV.
Bild: Der Gang zur Agentur bedeutet für viele den Abstieg in die Armut.
BERLIN taz | Die Bundesregierung sieht trotz der hohen Zahl Erwerbsloser,
die von Armut bedroht sind, keinen Anlass, die Dauer des Arbeitslosengeldes
I zu verlängern. "Es gibt keine derartigen Pläne in der Koalition", sagte
Heike Helfer, eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums, der taz.
Hintergrund sind [1][neue Zahlen der statistischen Behörde Eurostat].
Demnach sind in Deutschland so viele Erwerbslose wie in keinem anderen
europäischen Land von Armut bedroht. Hierzulande lag für sie die
Armutsgefährdungsquote 2009 bei 70 Prozent. Mehr als sieben von zehn
Arbeitslose waren also armutsgefährdet. Im Durchschnitt aller EU-Länder lag
die Quote bei 45 Prozent.
Als armutsgefährdet gilt laut Statistik, wer weniger als 60 Prozent des
mitlteren nationalen Einkommens zur Verfügung hat. In Deutschland sind das
für einen Alleinstehenden 940 Euro monatlich. Die Armutsgefährdungsquote
misst dabei nicht, wer in einem Länderranking am wenigsten hat, sondern
wieviele Menschen pro Land, gemessen an den dortigen
Einkommensverhältnissen, als arm gelten.
## Die Zahlung von Arbeitslosengeld I ist zu kurz
Eric Seils, Forscher der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, hat die
Eurostat-Daten analysiert. "Zentrale Ursache für das schlechte Abschneiden
Deutschlands ist, dass der Bezug von Arbeitslosengeld I so kurz ist." So
bekommt ein alleinstehender 40-Jähriger, der länger beschäftigt war, in
Deutschland höchstens 52 Wochen Alg I ausgezahlt. In Dänemark erhalten
Arbeitslose vergleichbare Leistungen jedoch für 208 Wochen, in Finnland für
136, in Spanien für 103 und in den Niederlanden für 96 Wochen.
Seils zählt noch einen weiteren Grund für die hohe Armutsgefährdung
hiesiger Arbeitsloser auf: "Die Leistungen, die Arbeitslose im Vergleich zu
ihrem früheren Lohn erhalten, sind niedriger als in manch anderem EU-Land."
Er betont, die deutschen Quote sei auch dann noch außergewöhnlich, wenn man
den Mittelwert der Jahre 2006 bis 2009 bilde.
"Die Quote ist mit 60 Prozent immer noch sehr hoch." Denn natürlich kann
man einwenden, dass bei einem Abbau von Arbeitslosigkeit, wie er derzeit
stattfindet, die Armut unter den verbleibenden Arbeitslosen ansteigt: Denn
vor allem die gut qualifizierten Arbeitslosen, die gute Jobs und damit hohe
Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung hatten, finden rascher wieder
eine Stelle. "Aber die Niederlande haben eine niedrige Arbeitslosenrate und
trotzdem eine geringere Armutsgefährdungsquote als Deutschland", gibt Seils
zu Bedenken.
## Jeder vierte neue Arbeitslose erhält sofort Hartz IV
Auch ein dritter Grund könnte eine Rolle spielen: Hierzulande rutschen
immer Arbeitslose direkt in Hartz IV (Alg II). So erhält mittlerweile jeder
vierte neue Erwerbslose die steuerfinanzierte Grundsicherung, die geringer
ausfällt als die Versicherungsleistung Alg I.
Für den Paritätischen Wohlfahrtsverband sind die Zahlen Grund genug,
deutliche Reformen zu fordern. Diese habe habe man mit der Einführung von
Hartz IV "mutwillig ins Leere laufen lassen", sagte Hauptgeschäftsführer
Ulrich Schneider. Er fordert die Einführung eines Mindestarbeitslosengelds
I für alleinstehende langjährig Versicherte von mindestens 750 Euro. Auch
die maximale Bezugsdauer des Alg I gehöre verlängert. Vor allem für Ältere
ist diese in diversen Reformen gekürzt worden. Seit 2008 liegt die maximale
Bezugsdauer für über 58-Jährige bei 24 Monaten. Unter 50-Jährige können
maximal ein Jahr lang Alg I erhalten.
## Kritik an den Einzahlungsbedingungen
Kritik übt der Paritätische auch daran, dass Arbeitslose innerhalb der
letzten zwei Jahre 12 Monate in die Versicherungskasse eingezahlt haben
müssen, um überhaupt Alg I zu erhalten. Der Wohlfahrtsverband fordert,
diese Frist auf drei Jahre auszudehnen, denn immer mehr Menschen würden
sich mit Unterbrechungen von Job zu Job hangeln.
Für Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen ist hingegen der beste
Schutz gegen Armut, "die Menschen in Arbeit, vor allem auch in mehr Arbeit
zu bringen, wenn sie in Teilzeit tätig sind", hieß es aus ihrem
Ministerium. Auch Heinrich Kolb, Sprecher für Sozialpolitik der
FDP-Fraktion, sagte zur taz: "Der verlängerte Transfer von Arbeitslosengeld
I löst das Armutsproblem nicht, die Menschen müssen schnell wieder in
Arbeit, dabei müssen wir ihnen helfen." Vor einem halben Jahr hatte die FDP
noch gefordert, die längere Bezugsdauer des Alg I für Ältere wieder
abzuschaffen.
10 Jan 2012
## LINKS
[1] http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/refreshTableAction.do;jsessionid=9ea7d…
## AUTOREN
Eva Völpel
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