Introduction
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# taz.de -- Die Vermessung der eigenen Biodaten: Die Körperkontrolleure kommen
> Hirnströme, Mundfeuchtigkeit, Taille – zwei Studenten messen sich.
> Ständig. Sie wollen ihr Leben verbessern. Als Teil der digitalen
> Quantified-Self-Bewegung.
Bild: Referent auf der Quantified Self Europe Conference im November in Amsterd…
Draußen schwanken die Temperaturen an diesem trüben Dezembertag zwischen
drei und neun Grad, und drinnen hat Christian Kleineidam seinen Körper
mittags um zwei schon weitgehend vermessen. Er wiegt 55,6 Kilogramm. Sein
Taillenumfang beträgt 69 Zentimeter. Pro Sekunde ist seine Lunge in der
Lage, 1,85 Liter Luft auszuatmen. Seine Mundfeuchtigkeit auf einer Skala
von 0 bis 7 beträgt 3. Außerdem weiß er, wie er in seinem allmorgendlichen
Intelligenztest abgeschnitten hat.
Kleineidam glaubt, dass ihm diese Kennziffern helfen, er trägt sie in
Dateien ein und druckt sie als Graphen aus. Er glaubt, dass es Menschen
voranbringen würde, wenn sie dasselbe täten. Es geht um ein besseres Leben.
Was Christian Kleineidam macht, nennen Pioniere dieser kleinen digitalen
Bewegung aus den USA Quantified Self, quantifiziertes Selbst. Er fasst sein
Ich in Zahlenreihen und liest sein Leben als Statistik. Er kontrolliert es.
"Es geht darum, sich durch Selbsttests zu hinterfragen", sagt Kleineidam.
"Und erst jetzt gibt es die technischen Möglichkeiten dafür." Seinen dünnen
Körper streckt er durch. Kleineidam ist 25, er studiert Bioinformatik. Die
Zentrale der deutschen Quantified-Self-Bewegung im beschaulichen Berliner
Außenbezirk Spandau ist gut zwanzig Quadratmeter groß. Auf dem Boden liegt
beiger Teppich, den man nicht mit Schuhen betreten darf. Man könnte den
Raum auch das Wohnzimmer von Christian Kleineidam nennen.
Von hier aus wollen er und sein Mitstreiter Andreas Stadler die Idee des
Selbstvermessens in ganz Deutschland populär machen. Das Ziel:
Selbstoptimierung. "Persönlichkeitsentwicklung", sagt Andreas Stadler. Er
fährt sich mit der Hand durch die blonden Locken, streicht über den hellen
Fünftagebart am Kinn. Stadler scannt seinen Teint, überwacht seine
Bewegungen im Schlaf, misst seine Gehirnströme. Wie schnell er tippt. Wann
er am effektivsten für die Uni lernt.
Man kann Christian Kleineidam und Andreas Stadler als Visionäre und
Vorreiter betrachten. Aber eigentlich gehen sie nur da weiter, wo viele
andere längst angekommen sind. Jeder vierte Internetnutzer hat schon einmal
online veröffentlicht, wie viele Kilos er auf die Waage bringt, wie weit er
gejoggt ist oder unter welchen Krankheitssymptomen er leidet, hat eine
Studie des US-PEW-Instituts und der Californian Healthcare Foundation
festgestellt.
## Technikfans, Fitnessfreaks und chronisch Kranke
Es gibt Fitnessstudios, in denen man die Ergebnisse seiner
Bauchmuskelübungen auf Chips speichert, Diätportale, in denen man jeden
gegessenen Joghurt vermerken kann. Die Quantified-Self-Bewegung steht
dafür, es genauer wissen zu wollen – bis zur Infrarotuntersuchung von
Darmregionen. Sie ist eine Mischung aus Technikfans, Fitnessfreaks und
chronisch Kranken.
Deutschland ist bisher Quantified-Self-Entwicklungsland. Das wollen
Christian Kleineidam und Andreas Stadler ändern. Es ist eine Mission, die
zwei ungleiche junge Männer zusammengebracht hat: Kleineidam, ruhig bis an
die Grenze der Schüchternheit. Praktische Funktionskleidung tragend. Seine
Sätze dauern manchmal so lange, dass man Geduld haben muss.
Und dann Stadler, der auch studiert, der sich aber als "Hacker, Künstler
und Hobbywissenschaftler" vorstellt. Der eine Vorliebe für wild gemusterte
Hemden und Spiritualität hat. Dem still sitzen schwerfällt. Der redet,
redet, redet – und seinem Mistreiter schon mal ungeduldig ins Wort fällt.
Kleineidam und Stadler sind zwar gerade erst öffentlich in Erscheinung
getreten, aber sie müssen jetzt schon auf zwei Dinge aufpassen: dass man
sie nicht als Spinner belächelt. Und dass die Angst vorm gläsernen
Patienten ihre Bemühungen nicht vereitelt. Das schlimmste Label, das man
ihnen verpassen könnte, wäre, dass sie für eine Art Digitalesoteriker
gehalten werden, die eine Gesundheitsdiktatur errichten wollen.
## Horrorszenario Gesundheitsdiktatur
Was wäre das für eine Welt, in der Krankenkassen den Versicherten
Ertüchtigung vorschreiben – und das täglich kontrollieren? "Sie haben
leider bereits für zwei Abrechnungsperioden die Mindestanforderungen nicht
vollständig erfüllt. Bitte erfüllen Sie die Vertragsbedingungen, es ist in
Ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Versichertengemeinschaft".
Solche Nachrichten erhält eine fiktive Figur im Buch "Die Datenfresser",
das Constanze Kurz und Frank Rieger geschrieben haben. Auch die
Schriftstellerin Juli Zeh beschwört in ihrem Roman "Corpus Delicti" eine
Gesundheitsdiktatur herauf. Und linke Kritiker der Leistungsgesellschaft
brummeln, was diese ständige Selbstoptimierung soll.
Die Zielgruppe für die neue Technik ist groß: Sie reicht von der Hausfrau,
die ein paar Pfunde verlieren will, bis hin zu den Science-Fiction
fantasierenden Technikfricklern. Christian Kleineidam und Andreas Stadler
rechnen damit, dass die statistische Selbsterkenntnis noch mächtiger wird,
wenn sich all diese Leute online vernetzen.
Kleineidam ist so etwas wie der Pressesprecher der Bewegung. Einen Sommer
lang gab er Interviews, er ließ sich von Zeitungsreportern begleiten.
Spätestens, als Fernsehteams bei ihm anfragten, wurde es ihm alles etwas
viel, er brauchte Entlastung. Er erinnerte sich an Andreas Stadler, den er
von einem Uniseminar kannte, wusste, dass der sich mit Hirnstrommessungen
beschäftigt und gerade von den USA zurück nach Berlin gekommen war.
Zusammen gründeten sie eine Quantified-Self-Gruppe bei Facebook und
richteten im Herbst ein Profil bei dem Online-Organisationsdienst "Meet-Up"
ein.
In seiner Wohnung schiebt Kleineidam einen DIN-A4-Ausdruck in die Mitte des
Tisches. Ein Koordinatensystem mit vielen blauen Punkten. Jeder davon
repräsentiert seine Lungenleistung an einem bestimmten Tag, ausgeblasene
Luft in Litern pro Sekunde. Seit etwa eineinhalb Jahren macht er das. Seit
einer Operation ist seine Atmung eingeschränkt. Auf dem Zettel sieht er,
wann es seiner Lunge gut ging: an Tagen, an denen Kleineidam besonders viel
Stress hatte, Adrenalin ausschüttete, weil er einen Zug verpasste, ein
Interview gab. Oder nach einer entspannenden alternativen Heilmethode.
Hätte er sich nicht täglich getestet, sondern nur auf die Messungen beim
Arzt, alle paar Wochen oder Monate, vertraut, wäre ihm das nicht
aufgefallen. Seine Hausärztin habe ihn ermutigt, mit seinen Messungen
weiterzumachen. Der Lungenarzt war skeptischer. "Versicherungstechnische
Probleme", murmelt Kleineidam.
## Die Emanzipation vom Arzt
Er ist der Prototyp eines Patienten, der mithilfe von Quantified Self sein
Leiden in den Griff bekommen will. Migräne, Persönlichkeitsstörung,
Schlaflosigkeit, Asthma – es gibt viele Krankheiten, über die sich Anhänger
der Szene austauschen. Für sie ist das eine Form der Emanzipation vom Arzt,
der sie nur alle paar Wochen ein paar Minuten lang durchcheckt und eine
Standardbehandlungsmethode empfiehlt.
Kleineidam nennt das Aufklärung, im Sinne Immanuel Kants, des großen
Philosophen.
Es könnte eine kleine Revolution des Gesundheitssystems werden: Ein
souveräner Patient, der seine Daten in die Arztpraxis mitbringt und sich
mit dem Doktor auf Augenhöhe austauschen will. Was wäre aber, wenn
Krankenkassen die Kalorienzufuhr, den Alkoholgenuss und das Fitnesspensum
ihrer Versicherten überwachen?
Die Infrastruktur dafür wächst schon. Fast jede Krankenkassen-Community hat
ihren Online-Fitnesscoach. "Selftracking geht aber weit über Medizin
hinaus", sagt Andreas Stadler. Er ist ein Bastler, der sich für Technik und
das Science-Fiction-Potenzial von Selbstvermessung interessiert.
Dann erzählt er, wie er mit seiner Ernährung experimentiert hat, um seine
Allergien in den Griff zu bekommen. Er stochert in einem Plastikschälchen
mit Ananas-Stückchen herum. "Wenn ich Ananas esse, merke ich, wie die
Neurotransmitter sich verändern", stellt er fest. Und dass sich durch
Nahrung verändern würde, wie er Farben sehe.
## Transhumanismus und EEG-Stirnbänder
Eigentlich würde er am liebsten mit "Metamind Evolution" angesprochen, sagt
Stadler, so sei er im Netz bekannt. Andreas Stadler spricht viel von
Transhumanismus. Laut dieser Denkrichtung kann der Einsatz von Technik die
Lebensqualität verbessern. Er hat ein Stirnband mit EEG-Sensoren
entwickelt, die elektrische Hirnströme messen und auf Bildschirmen
darstellen. So könne man lernen, seine Hirnströme zu kontrollieren,
erläutert er.
Manchmal klingt das, was er sagt, wie Science-Fiction. Aber die Technik
entwickelt sich zurzeit so rasant. Was heute wie Spinnerei klingt, könnte
es morgen schon in irgendeinem Onlineshop geben. In anderen Momenten kann
Stadler ganz bodenständig erklären, was er tut. "Eigentlich ist das, was
wir machen, wie ein Kaffeekränzchen", sagt er. "Nur professioneller."
Es gehe um den Austausch. Zentralorgan der internationalen Selbstvermesser
ist [1][quantifiedself.com] – in den Foren besprechen hunderte
Selbstvermesser Projekte. Man sieht dort, wie in den vergangenen Monaten
die Zahl der Treffen überall auf er Welt zunimmt. Im November wurde eine
Quantified-Self-Konferenz in Amsterdam veranstaltet. In San Francisco gibt
es schon länger Treffen von Selbstoptimierern.
Oktober 2011. Im Co-Working-Space "Parisoma", einem dieser Gebäude, wo
Programmierer und Entwickler zusammenarbeiten. Im Erdgeschoss sind alle
Stühle besetzt, als Leo Babauta über "Habit Design" spricht –
Verhaltensänderungen dank akribischer Selbstbeobachtung. Es geht auch um
Technik, aber es geht vor allem um das Prinzip.
Dort, wo tagsüber Jungunternehmen ihre neuen Geschäftsideen mit Filzstiften
an Wandtafeln skizzieren, sitzt Babauta mit schlenkernden Beinen auf einem
Barhocker, breite Schultern im olivgrünen T-Shirt. Vor sechs Jahren sei er
tief verschuldet gewesen. Ein gestresster, rauchender, fetter
Fastfood-Junkie. Dann habe er begonnen, Marathon zu laufen. Besser zu
essen, zu organisieren. So dass Beruf und sechs Kinder in sein schlankeres
Leben passen.
Babauta grinst in die Runde, die Hände entspannt im Schoß, den Rücken
durchgedrückt. "Vereinfachen", predigt er seinen Zuhörern. Das eigene
Verhalten analysieren – und sei es nur mit Zettel und Stift. Sich immer nur
einen Lebensaspekt vornehmen. Babauta verdient jetzt Geld damit, anderen
Leuten zu helfen, sich selbst zu ändern. Ein Mann in der ersten Reihe nickt
bei jedem Satz.
## Übergewicht als gemeinsamer Nenner
Unzufriedenheit mit der Krankheit, mit dem Körper, das ist die Motivation,
die die Bewegung wachsen lassen könnte. Das Übergewicht als gemeinsamer
Nenner. Später referieren andere Zuschauer spontan ihre
Selbständerungsprojekte. Es wird diskutiert, es gibt Wein.
Mitte Dezember laden auch Christian Kleineidam und Andreas Stadler in
Berlin zum ersten Treffen von Quantified Self in Deutschland. Sieben Gäste
finden an diesem verregneten Samstagnachmittag den Weg aus dem Internet in
die Räume des Chaos Computerclubs. Eine Frau stellt gleich zu Beginn eine
Frage wie eine Mauer in den Raum. Sind die Sorgen angesichts dieser
dauernden Selbstüberwachung nicht berechtigt?
Dann laufen die Dinge doch gut für die Vermessungsaktivisten, schon weil
dieselbe Frau von einem Kurs an der Universität der Künste erzählt: "Bei
uns im Seminar waren anfangs alle dagegen. Und dann haben sie lauter
Geschäftsmodelle dafür entwickelt."
Ein Langhaariger fragt, ob jemand Tipps für die Messung von
Körpertemperatur habe – er wolle prüfen, ob Menschen, die sich nur von
Rohkost ernähren, wirklich eine niedrigere Körpertemperatur hätten. Ein
Körper, der viel Gekochtes verdaue, besage eine Theorie, befinde sich
ständig in einem leichten Fieberzustand. Bislang seien nur Rektalmessungen
exakt gewesen. Aber das sei etwas unpraktisch, alle halbe Stunde das
Thermometer in den Po.
Die Leute nicken interessiert, als Andreas Stadler erzählt, wie er vor fünf
Jahren angefangen hat, seine Hirnströme zu vermessen: "Da sahen die aus wie
bei einem ADHS-Patienten." Auch als er referiert, wie er gelernt hat, seine
Hirnströme bewusst zu steuern, wie man mit deren Hilfe elektronische Musik
erzeugen kann, Depressiven helfen und in ein paar Jahren vielleicht sogar
das Computerspiel Counterstrike über das Hirn steuern kann, steigen sie
nicht aus. Am Ende fordern sogar einige Hausaufgaben – Tipps, welche
Trackingmaßnahme sie bis zum nächsten Treffen ausprobieren könnten. Das
Interesse ist da, die Sache läuft langsam an.
Ein paar Tage später müssen sie in der Facebook-Gruppe einen kleinen
Rückschlag diskutieren. Die Bild-Zeitung hat Quantified Self entdeckt. Und
fragt: Kann man davon süchtig werden? Sie beschließen, das als Zeichen
journalistischer Inkompetenz zu betrachten.
Immerhin haben sie einen mächtigen Mitspieler, der ihre Bemühungen
unterstützt: den Markt. Investoren aus dem Silicon Valley pumpen Millionen
in die Branche. Große Sportartikelhersteller wie Nike und Adidas verkaufen
Geräte, mit denen Jogger Laufgeschwindigkeit oder Herzschlag erfassen, auf
Homepages statistisch auswerten und mit der Community teilen. Allein bei
Nike nutzen diese Form der Selbstbeobachtung mehr als vier Millionen
Menschen. Zahllose andere Apps und Geräte versprechen Knackärsche und ein
gesünderes Leben. Den persönlichen Fitnesstrainer gibt es als Stick für die
Hosentasche.
## Auf dem Sprung in den Massenmarkt
Je leistungsfähiger und preiswerter Chips und Sensoren werden, desto mehr
Geräte fluten den Markt. Es gibt Armbänder, die vibrieren, wenn ihr Träger
sich zu lange nicht bewegt hat. Apps, mit denen man seine Stimmung oder den
Redeanteil in einem Gespräch messen kann. Selbst der Apple Store verkauft
digitale Blutdruckmesser. Quantified Self stehe "vor dem Sprung von der
Nische in den Massenmarkt", erklärt Florian Schumacher, 31 Jahre alt.
Er nutzt viele dieser Geräte und Apps. Wenn er morgens aufsteht, steckt er
sich sein Fitbit an - ein Schrittzähler, so lang und breit wie ein Finger.
Jeden Abend kann Schumacher feststellen, wie viel er an diesem Tag gelaufen
ist. Er betrachtet das als Ansporn. Durchschnittlich läuft er sechs bis
sieben Kilometer pro Tag. Und immer mehr Treppen. "So habe ich Fitness in
meinen Alltag integriert", sagt er – als träte er im Werbefernsehen auf.
Schumacher ist der Münchner Vertreter der Bewegung. Beim ersten Berliner
Treffen war er per Skype zugeschaltet. Wenn Florian Schumacher sich
schlafen legt, schnallt er sich ein EEG-Gerät namens Zeo um den Kopf, das
misst, wie lange er wie fest geschlafen hat. Er merkte, dass er tiefer
schläft, wenn er bis spät in die Nacht gearbeitet hat, anstatt einen Film
zu schauen. "Sensoren testen, darüber bloggen, das ist für mich ein Hobby",
sagt er. Als Unternehmer und Produktentwickler arbeitet er im Umfeld der
Selbstvermesserbranche.
Die Mehrheit der Menschen in seinem privaten Umfeld finde das noch
"befremdlich". Aus Angst vor Überwachung eben, glaubt Schumacher. Oder weil
es "pedantisch" wirke, sich selbst so diszipliniert zu beobachten.
Christian Kleineidam argumentiert dagegen an. Seine Tante habe sich
gesorgt, dass er zu sehr in die Welt der Zahlen abtauche. Bis er ihr
erklärte, dass er über die Selbstvermessung mit vielen Gleichgesinnten in
Kontakt käme, über Ergebnisse und Gefühle spräche. Die Kritik am gemessenen
Selbst kommt nicht nur von technikfernen Tanten, sondern auch aus der
Netzcommunity.
Manche kanzeln alles als blödsinnige Spielerei ab. Wird man gar
technikhörig? Wem gibt der Selbstvermesser recht, wenn er sich morgens gut
erholt fühlt, sein Sleepcoach ihm aber eine miese Nacht bescheinigt? Und
natürlich die Datenschutzfragen. Wem gehören die sensiblen selbst erhobenen
Gesundheitsdaten? Wer darf auf sie zugreifen? Wie verhindert man, dass
Staat und Wirtschaft sie missbrauchen?
Bisher dürfen Krankenkassen in Deutschland wegen strenger Gesetze wenig mit
Kundendaten anfangen. Personalisierte Auswertung von digitalen
Fitnesscoaches ist verboten. Aber muss das so bleiben?
## Auch Sex wird vermessen
Bei der US-Firma Fitbit konnten Nutzer auch Sex als körperliche Aktivität
in ihr Community-Profil eintragen. Wie lange, wann, wie anstrengend – all
das konnte jeder einfach googeln. Da standen plötzlich tausende nackte
Nutzer im Netz. Fitbit reagierte sofort und schaffte die Rubrik ab. Der
Imageschaden blieb. "Das ist wie Kernenergie: Man kann das falsch nutzen.
Muss man aber nicht", sagt Andreas Stadler.
Ihm sind die Datenschutzrisiken von Quantified Self bewusst. Für ein
kommerzielles Unternehmen sind diese sensiblen Gesundheitsinformationen am
Ende nur Teil eines Geschäftsmodells. Darum setzt sich Stadler dafür ein,
Geräte und Software zu nutzen und zu entwickeln, die Open Source sind.
Produkte mit freier Software, hinter der meist keine großen Firmen stehen,
so dass der Nutzer die Kontrolle über seine Daten behält. Quantified Self
soll dem Einzelnen mehr Macht durch Selbsterkenntnis verleihen. Und ihn
nicht im Dienste anderer komplett überwachen.
Stadler und Kleineidam ist trotzdem klar, dass das Interesse an den
Körperdaten der Selbstvermesser zunehmen wird. Wer trinkt, raucht, wer
bewegt sich zu wenig, wer isst zu viel? Wer hört auf den Arzt? Wer nicht
gesund genug lebt, könnte irgendwann einmal bei der Krankenversicherung
mehr zahlen oder auf andere Art sanktioniert werden. "Wenn die Technik da
ist, wird das kommen", sagt Stadler und nickt. Auch er spricht von einer
"gesundheitlichen Diktatur". Umso wichtiger sei der Open-Source-Gedanke.
"Wir müssen da eine zivilgesellschaftliche Stimme aufbauen", ergänzt
Kleineidam. "Politisch mitgestalten."
Dann, Ende Dezember, ihr großer Auftritt: Kleineidam und Stadler halten
beim Jahrestreffen des Chaos Computer Clubs einen Vortrag. Ein Leben mit
Zahlen dürfte den versammelten Hackern nicht fremd erscheinen, sie sind
zwischen Nullen und Einsen zu Hause. Ein scheinbar perfektes Forum für die
beiden Selbstvermessungsmissionare.
## "Bizarre Show"
Aber es läuft nicht. Kleineidam quält sich auf Englisch durch ein Projekt,
bei dem jemand festgestellt hat, dass er Mathematikaufgaben schneller löst,
wenn er 60 Gramm Butter am Tag isst. "Glaubt mir nicht! Testet es selbst!"
steht auf einer Folie seiner Präsentation. Als Andreas Stadler beginnen
will, streikt die Technik. Er hat eine dunkle Sonnenbrille vor den Augen
und seinen Hirnstrommesser auf dem Kopf. Er wird nervös, rast durch seine
Präsentation, verschluckt halbe Sätze. Im Publikum beugen sich die Leute
über ihre Smartphones und Rechner, um bei Twitter über diese "bizarre Show"
zu lästern. Fragen, ob das "Comedy" sein solle.
Um Mitternacht ist der Vortrag vorbei. Die restlichen Zuhörer verlassen
kopfschüttelnd den Raum. "Nicht unbedingt komplett ideal gelaufen",
analysiert Stadler später in der Facebook-Gruppe. Dafür aber, sagt
Christian Kleineidam, sei es am Ende dann doch wieder "ganz gut gelaufen".
Es habe auch positives Feedback gegeben.
Noch im Januar will er zum nächsten Treffen von Quantified Self in Berlin
einladen. Und vor ein paar Tagen kam die Nachricht aus München: Am 1.
Februar wird es dort das erste Treffen geben – organisiert von Florian
Schumacher und zwei Mitstreitern. Sie werden mehr.
21 Jan 2012
## LINKS
[1] http://quantifiedself.com/
## AUTOREN
Meike Laaff
## TAGS
Roboter
Quantified Self
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