# taz.de -- Debatte Stasi-Aufarbeitung: Die Macht des Lesesaals | |
> Die Öffnung der Stasiarchive vor 20 Jahren war ein fauler Kompromiss, | |
> schrieb Klaus Bästlein in der taz. Damit verkennt er die Dimension der | |
> Aktenöffnung. | |
Bild: Noch viel zu entdecken: Zerstörte Stasi-Unterlagen. | |
Zwanzig Jahre nach seinem Inkrafttreten wird das Stasiunterlagengesetz | |
(StUG) als Erfolg gefeiert. Zu Unrecht, [1][meint Klaus Bästlein], | |
Mitarbeiter beim Berliner Landesbeauftragten für die | |
Stasihinterlassenschaft. Das Gesetz sei vielmehr ein fauler Kompromiss, | |
letztlich hätten sich die westdeutschen Eliten durchgesetzt, die aus guten | |
Gründen mit der Veröffentlichung der Akten die Enthüllung zahlreicher | |
Skandale fürchten mussten. | |
Sosehr Bästlein im Detail die Erarbeitung des Gesetzes, die anschließende | |
personelle Besetzung der Behörde und den beschränkten Zugang zu den Akten | |
für die Forschung zu Recht kritisieren mag, so verfehlt er doch die | |
Dimension, die mit dem Zugang zu den Stasiakten einherging. Schließlich war | |
unmittelbar nach der Wende gar nicht sicher, ob es überhaupt eine | |
Offenlegung des Geheimdienstnachlasses geben sollte. | |
Der Öffnung der Akten ging eine heftige Kontroverse voraus. Nicht wenige, | |
darunter der letzte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel, forderten, die | |
illegal angehäuften Erkenntnisse umgehend zu vernichten. Die Gegner einer | |
Offenlegung befürchteten eine "Lynchstimmung" gegen frühere | |
Stasimitarbeiter; mit dem Zugang zu den Papieren werde das | |
gesellschaftliche Klima nach der Überwindung der SED-Diktatur dauerhaft | |
vergiftet. Selbst Mord und Totschlag wollten sie für den Fall der | |
Veröffentlichung nicht auszuschließen. | |
Die anderen, zumeist Mitglieder der Bürgerbewegung, stritten für den freien | |
Zugang. Ihr Argument: Das in 35 Jahren angesammelte Herrschaftswissen im | |
SED-Staat müsse an die Bevölkerung zurückgegeben werden. Wer die Akten | |
vernichte, behindere nicht nur den notwendigen gesellschaftlichen | |
Heilungsprozess, er vernichte auch die Chance auf eine Aufarbeitung der | |
SED-Herrschaft. | |
## Stasi-Verbindungen zur RAF aufgedeckt | |
Begleitet wurde die Debatte von immer neuen Meldungen, die aus dem | |
Schattenreich des früheren Machtinstrumentes drangen. Noch vor der Öffnung | |
der Stasiarchive gab es Meldungen über die jahrzehntelangen | |
millionenschweren Ost-West-Geschäfte des obersten DDR-Devisenbeschaffers | |
und Offiziers im besonderen Einsatz, Alexander Schalck-Golodkowski. | |
Mit der RAF-Stasi-Connection flog weiterhin auf, dass der | |
Staatssicherheitsdienst Mitte der Achtzigerjahre zehn kampfesmüden | |
Mitgliedern der terroristischen Roten Armee Fraktion ein Asyl in der DDR | |
gewährt hatte. | |
Und immer wieder stolperten Prominente über ihre frühere Spitzeltätigkeit | |
für die Stasi: Ibrahim Böhme etwa, Gründungsmitglied und Hoffnungsträger | |
der Ost-SPD, oder Wolfgang Schnur, der als Anwalt führende Dissidenten | |
vertreten hatte. Auch CDU-Ministerpräsident Lothar de Maizière zog sich aus | |
der Politik zurück, nachdem eine Karteikarte der Stasi ihn als den Zuträger | |
mit dem Decknamen "Czerny" auswies. | |
Rund 158 Kilometer Akten hat der Geheimdienst nach seiner Auflösung | |
hinterlassen. Die monströsen Ausmaße der MfS-Überwachung schlugen sich | |
sogar in der Architektur der Stasigebäude nieder. Wände und Böden des | |
neunstöckigen Zentralarchivs mussten verstärkt werden, damit es den | |
Belastungen durch die gewaltigen Papiermassen überhaupt standhalten konnte. | |
## Akten halfen beim Ermitteln | |
Hat sich der ganze Aufwand der Aktenöffnung gelohnt? Knapp 100 Millionen | |
Euro umfasste 2011 der Etat der Behörde, die mit rund 1.800 Mitarbeitern | |
heute noch mehr Personal beschäftigt als das Bundesinnenministerium, das | |
die Dienstaufsicht über die Aktenbehörde wahrnimmt. | |
Statistisch ist die Öffnung der Stasiakten ein Erfolg. Mehr als 6,6 | |
Millionen Ersuchen und Anträge gingen seit 1991 beim Bundesbeauftragten | |
ein, darunter 2,83 Millionen Anträge von Bürgern auf Auskunft, | |
Akteneinsicht und -herausgabe, davon 80.611 noch 2011. | |
Und wenn sich die Gegner der Offenlegung durchgesetzt hätten? Ein Beispiel: | |
Johannes Weinrich, rechte Hand des mittlerweile in Frankreich inhaftierten | |
Top-Terroristen Carlos, wäre nicht wegen seiner Beteiligung am | |
Sprengstoffanschlag auf das Maison de France 1984 in Berlin verurteilt | |
worden. Jahrelang traten die Ermittler auf der Stelle, erst die Auswertung | |
der Stasiakten ermöglichte den Prozess. | |
Die Befürworter der Aktenöffnung mussten sich allerdings bald der | |
Bürokratie beugen. Bürgerbewegte, Kirchen und Stasiauflöser hatten stets | |
darauf beharrt, dass jede Stasiverstrickung nur im konkreten Einzelfall | |
bewertet werden könne. Individuelle Umstände sollten in Rechnung gestellt | |
werden, etwa wenn eine Person zur Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit | |
erpresst worden war. Die Hoffnung war, über diese Diskussionen | |
zivilgesellschaftliche Normen entwickeln und der postkommunistischen | |
Gesellschaft ein demokratisches Korsett anlegen zu können. | |
## Prognostizierte Lynchstimmung ist ausgeblieben | |
Stattdessen wurden im Bereich des öffentlichen Dienstes Fragebögen | |
eingeführt, in denen Stellenbewerber eine mögliche Stasitätigkeit | |
anzukreuzen hatten. Einem falsch gesetzten Kreuz folgte regelmäßig die | |
Entlassung - nicht wegen der früheren Arbeit für die Stasi, sondern wegen | |
falscher Angaben bei der Anstellung. Die öffentliche Hand verkehrte so die | |
Intentionen, die mit der Öffnung der Archive verbunden waren. | |
Zwanzig Jahre nach der Öffnung der Stasiakten darf aber schon die | |
Normalität, in der die Aktenbehörde ihren Auftrag erfüllt, als Bestätigung | |
des beispiellosen Experimentes gelten. Die prognostizierte Lynchstimmung | |
ist ausgeblieben, und Anfeindungen gegen die Behörde als Produzentin | |
gesellschaftlichen Unfriedens unterbleiben inzwischen weitgehend. | |
Die schlagzeilenträchtige Enttarnung Prominenter ist längst durch die | |
unspektakuläre Akteneinsicht Tausender ehemaliger Untertanen abgelöst. | |
Einmal gewährt, ist das Recht, den von staatlicher Willkür verzerrten Teil | |
der individuellen Biografie kennen zu lernen, nicht rückholbar. Warum auch? | |
Was in den Lesesälen der ehemaligen Stasizentrale stattfindet, ist | |
Staatsbürgerkunde der einprägsamsten Art. Die gesellschaftliche Resistenz | |
gegen autoritäre und nostalgische Verlockung lässt sich sicherer als in der | |
Konfrontation mit den Akten wohl kaum fördern. | |
3 Feb 2012 | |
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## AUTOREN | |
Wolfgang Gast | |
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Stasi-Unterlagen | |
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