# taz.de -- Arbeitsmigranten in der Türkei: Willkommen im Busbahnhof | |
> Ein Daueraufenthalt mit der Aneinanderreihung dreimonatiger Touristenvisa | |
> ist nicht mehr möglich. Tausende Arbeitsmigranten aus den Nachbarländern | |
> sind betroffen. | |
Bild: Auch Kinder arbeiten als Gastarbeiter in der Türkei. | |
ISTANBUL taz | Der Busbahnhof erscheint wie ein Relikt aus der | |
Vergangenheit. Keine Halle mit elektronischen Abfahrts- und Ankunftszeiten, | |
keine Perrons, neben denen sich die Überlandbusse in ihre Boxen schieben, | |
und keine Männer und Frauen, die für die kommende Fahrt ihr Laptop | |
aufklappen. Stattdessen ein einziges Gewusel und Durcheinander von Bussen | |
und Reisenden, die versuchen, noch einen Platz zu ergattern. Riesige | |
Gepäckberge, mit Klebeband verschnürt, warten darauf, in einen Bus | |
gequetscht zu werden, apathisch blickende Männer stehen in Trauben | |
zusammen, während einige Frauen unsicher zwischen den Bussen herumirren. | |
Willkommen im Istanbuler "Emniet Otogar", dem Umschlagplatz für Reisende, | |
die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Von hier gehen Busse nach | |
Jerewan, nach Baku, nach Tiflis und etliche andere Orte im Transkaukasus. | |
Aber auch Bulgarien, Rumänien und Moldowa stehen auf dem Programm. | |
Heute ist Baku-Tag. Sechs Busse drängen sich auf dem engen Platz, die alle | |
gleichzeitig am Nachmittag die lange Fahrt ans Kaspische Meer aufnehmen | |
werden. Am Morgen zuvor ging es nach Jerewan. Da war der Andrang noch | |
größer. Zwölf Busse reichten gerade, um alle Rückkehrer nach Armenien | |
aufzunehmen. Wer hier für rund 60 Dollar ein Ticket zur Rückfahrt in den | |
Kaukasus oder ans Schwarze Meer löst, gehört in aller Regel zur Gruppe | |
illegaler ArbeiterInnen, die in Istanbul ihren Lebensunterhalt zu | |
verdienen. | |
In diesen Tagen ist der Andrang auf die Busse deshalb so groß, weil am 1. | |
Februar eine Neuregelung für den Aufenthalt in der Türkei in Kraft getreten | |
ist, die vielen dieser Menschen das Leben enorm erschweren wird. Bisher | |
durften Menschen mit einem Touristenvisa drei Monate legal bleiben. Gingen | |
die drei Monate zu Ende, musste man lediglich zur nächstgelegenen Grenze | |
fahren, auf die andere Seite gehen und dort einen Kaffee trinken, um dann | |
erneut in die Türkei einreisen zu dürfen. Das ist jetzt nicht mehr möglich. | |
## Wiedereinreise erst nach 90 Tagen | |
Die neue Verordnung sieht vor, dass erst nach 90 Tagen eine Wiedereinreise | |
möglich ist. Ein quasi Daueraufenthalt mit der Aneinanderreihung | |
dreimonatiger Touristenvisa ist damit nicht mehr möglich. Eine echte | |
Aufenthaltsgenehmigung oder gar Arbeitsgenehmigung ist praktisch nicht zu | |
bekommen. Die illegalen Jobber in kleinen Textilklitschen oder auf den | |
vielen Baustellen haben keine Chance auf eine reguläre Arbeitsgenehmigung. | |
Dasselbe gilt für viele Frauen aus Moldawien oder Armenien, die in Istanbul | |
als Pflegerinnen oder Haushaltshilfen arbeiten. Gerade für diese Frauen | |
wird es jetzt extrem schwierig. Wer als Pflegerin für einen alten Menschen | |
engagiert ist, kann seine Arbeit nicht einfach mal für drei Monate | |
unterbrechen und dann wiederkommen. | |
Die türkische Regierung will mit der Neuregelung die Arbeitsmigration aus | |
den umliegenden Ländern besser kontrollieren. Seit die Wirtschaft am | |
Bosporus boomt, ist aus dem Transitland für Flüchtlinge in die EU selbst | |
ein Zielland geworden. Die Arbeitslosigkeit ist aber auch unter Türken nach | |
wie vor hoch und die Illegalen drücken die Löhne auf dem Bau und in anderen | |
Sektoren, in denen ungelernte Arbeiter Jobs finden können. Besonders | |
betroffen von der Neuregelung sind Menschen aus Armenien. | |
## Bei Armeniern wird als gute Geste ein Auge zugedrückt | |
Bisher, so hatte Ministerpräsident Erdogan noch vor zwei Jahren verkündet, | |
drücke der türkische Staat bei Armeniern ein Auge zu, als Geste des guten | |
Willens im Zuge eine Annäherungspolitik an das Nachbarland. Anders als | |
illegale Einwanderer aus anderen Ländern durften armenische Kinder zum Teil | |
auf die Schulen der armenischen Minderheit gehen. "Diese Kinder sind | |
praktisch hier aufgewachsen. Ihr Leben wird völlig auf den Kopf gestellt, | |
wenn sie nun zurück nach Armenien müssen", sagte Karekin Barsamyan, | |
Leiterin einer armenischen Schule. | |
Pastor Krikor Agabaloglu von der armenisch-protestantischen Kirche im | |
Stadtteil Gedikpasa wirft der Regierung vor, mit der Neuregelung vor allem | |
Armenier treffen zu wollen. "Die Regelung ist zwar universell", sagte er | |
der Daily News, "aber das Ziel sind die Armenier." Ein Reisender auf dem | |
Emniet-Busbahnhof sieht das deutlicher gelassener. "Wir werden schon einen | |
Weg finden, damit umzugehen." | |
5 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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