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# taz.de -- Berlin-Mitte vor dem Mauerfall: Archäologie der Unruhe
> Hier wurde das neue Berlin erfunden: Eine Ausstellung zeigt Berlin-Mitte
> kurz vor und nach der Wende. Das Image Berlins fußt auf Verhältnissen,
> die es nicht mehr gibt.
Bild: Fast reklamefreie Fassadengestaltung: "In der Auguststraße", Berlin-Mitt…
Alles steht still, nur die Kinder sind lebendig wie eh und je. Zwei Jungs
in kurzen Hosen stürmen auf die Kamera zu. Der eine trägt ein
Ringel-T-Shirt, der andere keine Socken unter den Leinenschuhen. Sie
trotzen dem Blick des Fotografen. Hinter ihnen liegt die leere, ruhige
Auguststraße. Sie ist sauber, aber geflickt. Teerflächen aus
unterschiedlichen historischen Perioden liegen nebeneinander. Ein paar
Wartburgs und Trabants parken an den Straßenrändern. Kein Müll liegt auf
dem Gehweg, keine Reklame hängt an den Häusern. Nur eine Wäscherei bietet
auf einem Schild ihre Dienste an.
Im Mai 1979, es muss ein Frühling mit viel Sonne gewesen sein, hat Hans
Martin Sewcz in rund 30 Schwarz-Weiß-Panoramafotos die Straßen von
Berlin-Mitte aufgenommen. Wer heute durch das Viertel streift auf dem Weg
zur Collection Regard in der Steinstraße, wo Sewcz Bilder derzeit zu sehen
sind, kann sich nur schwer vorstellen, dass dies einmal ein abgeschiedener
Ort gewesen sein soll.
Heute sind die Straßen rund um den Hackeschen Markt und Rosenthaler Platz
geschäftig. Seit 1943 sind die jüdischen Bewohner, inzwischen auch die
Proletarier, Händler und Handwerker, die Trinker, Hooligans und
Kleinkriminellen verschwunden, die hier hundert Jahre lang anzutreffen
waren. Jetzt gibt es süddeutsche Backwaren, Schmuckgeschäfte und Galerien.
Nicht mehr ganz junge Erben aus Westdeutschland leben hier. Ihre
Geländewagen parken dicht an dicht. Die Touristen stört es nicht.
Als Hans Martin Sewcz die Straßen von Mitte fotografierte, war die Gegend
in einem Zustand, "der Motive mystisch bis abstrakter Bildfindung zuließ",
erinnert er sich. Jetzt laden seine Bilder zum Nachdenken darüber ein, was
einmal war, wer hier gelebt hat und was der Verlust der Abgeschiedenheit
bedeutet.
## Noch in den 70-ern den Nachkriegszustand konserviert
Sewcz wurde in Halle an der Saale geboren, zwanzig Jahre ist er alt, als er
1975 nach Berlin zieht. Er bezieht eine Wohnung in der Tucholskystraße, in
der Spandauer Vorstadt, dem ehemals billigeren, ärmeren Teil der Berliner
Innenstadt. In den späten Siebzigern ist hier noch der Zustand der
unmittelbaren Nachkriegszeit konserviert. Der Schutt der wenigen zerbombten
Häuser wurde weggeräumt. An ihrer statt wurden kleine Parks angelegt oder
behelfsmäßige Baracken aufgestellt.
Die Menschen auf den Fotos von Sewcz wirken deplatziert und doch ganz bei
sich. Als gehörten sie gar nicht hierher - und als gäbe es außer diesen
Straßen nichts. Mitte steht still, wie ein Dornröschenschloss, in dem die
Leute durch einen irgendwie fehlerhaften Zauber schlafwandeln. So wird es
bleiben bis 1989. Dann hält der Schlafzauber aus dem Politbüro dem Aufruhr
der Körper nicht mehr stand. Der Leviathan, der Staat, zu dem sich diese
Körper laut dem Philosophen Thomas Hobbes vereinen, ist ein sterblicher
Gott.
Auf der Auguststraße, die auf Sewcz Aufnahmen noch so ordentlich aussah,
steht nun ein ausgeschlachtetes Auto hinter dem anderen. Anderswo liegt ein
Obdachloser auf einer Bank. Leute stehen vor "Lutz Brutzelhütte". Auf dem
Alex zocken Hütchenspieler Männer in Karottenhosen ab. Gut zehn Jahre nach
Hans Martin Sewcz hat Ben de Biel dieselben Straßen fotografiert.
Orte sollen
Im HBC, dem ehemaligen Ungarischen Kulturzentrum am Berliner
Alexanderplatz, werden de Biels Bilder jetzt erstmals ausgestellt. Ein
passenderer Ort lässt sich nicht finden. Im HBC hat sich noch einmal die -
mangels geeigneter Objekte sonst weitgehend verschwundene -
Mitte-spezifische Praxis der Aneignung von Räumen verwirklicht. Ihr ging es
darum, vorgefundene Orte unter weitgehender Erhaltung ihres
innenarchitektonischen Charakters für genreübergreifende, offene
Kulturarbeit zu nutzen.
## Besetzte Ost-Häuser aus der Zwischenzeit
De Biels Ausstellung beginnt mit dem großformatigen Abzug eines Fotos, auf
dem ein Besetzer mit Dreadlocks und ein kleines Kind unter einem
Honecker-Porträt frühstücken. Es sind die Mitbewohner de Biels. Aus Hamburg
kommend, ist er kurz nach der Wende in das besetzte Haus in der Kleinen
Hamburger Straße eingezogen. Auf dem Milchkarton heißt es programmatisch:
"Guten Morgen Berlin!"
Ein paar Ecken weiter, in der Rosenthaler Straße 68, ist der "Eimer", ein
besetztes Haus. Die Brache daneben ist besenrein gefegt. Noch steht hier
kein Asia-Imbiss. Kein Gebrauchtwagenhändler präsentiert seine Ware. Kein
Easyjet-Hotel bietet der Jugend Europas ein warmes Bett. Leute aus dem
Umfeld der Ostberliner Bands Freygang, Ich-Funktion und Die Firma haben das
Haus am 17. Januar 1990 besetzt. Ben de Biel ist 23, als er es
fotografiert.
Die Ruhe und die kompositorische Kraft, die in Sewcz Bildern sichtbar
werden, finden sich in den Fotos von de Biel nicht wieder. Die Temperamente
der Fotografen sind unterschiedlich gefärbt, ihre stilistischen Differenzen
aber auch durch den jähen Wechsel der historischen Aggregatzustände
bedingt. De Biel fotografiert den Übergang nicht als Beobachter, sondern
als Teil der Szene. Heute ist er in Berlin als Betreiber des erst vor
kurzem geschlossenen Clubs Maria am Ufer bekannt.
## Momente kreativer Kraft
Er hält in seinen Bildern Momente fest, in denen das Vorgefundene,
Übriggebliebene, eben noch Stillgestellte von der kreativen Kraft der alten
und neuen Bewohner umgeformt wird. Mitte ist zu einem Unruheherd geworden,
in dem ein das Image Berlins prägender Zusammenhang von Künstlern,
Hausbesetzern, Clubbetreibern, Galeristen, Aktivisten, DJs und Ravern
entsteht.
Sie nutzen die herrenlose Dingwelt des untergegangenen Staats als Material
für Installationen und Inneneinrichtungen von Bars, Clubs und Wohnzimmern.
Die Straßen sind in diesen Tagen voll von Dingen, die ausgemustert werden,
"nur weil DDR draufstand", erinnert sich de Biel. Die Bewohner der Kleinen
Hamburger Straße bekommen vom letzten Kürschner Mittes einen Container
voller Felle. Sie statten ihre Winterklamotten mit Fellen aus und
verkleiden die Straßenlampe vor ihrem Haus damit.
De Biel fotografiert seine Mitbewohnerin Dagmar "bei unser
Lieblingsbeschäftigung: gucken, was die anderen weggeschmissen haben".
Dagmar, in Stulpenstiefeln und Minirock, reckt sich auf Zehenspitzen. Kopf
und Arme sind schon fast im Inneren des Müllcontainers verschwunden, den
sie inspiziert.
## Der real existierende Sozialismus ist unfreiwillig nachhaltig
Als Hans Martin Sewcz die Straßen von Mitte festgehalten hat, sind noch
nicht einmal die Plattenbauten in der Linienstraße oder in der Großen
Hamburger Straße gebaut. Der real existierende Sozialismus ist, was den
Umgang mit Stadt umgeht, höchstens unfreiwillig nachhaltig. Auch in Mitte
soll die marode Substanz bürgerlicher Architektur modernen Wohnblocks
weichen. Die Besetzer wissen das. Schon vor der Wende haben sich einzelne
in leere Häuser eingemietet, um den Abriss zu verhindern.
Wie kaputt die Häuser der Linienstraße sind, dokumentiert de Biel durch
einen Blick in seinen Hinterhof. Teils sind die Wohnungen bewohnt, teils
ausgebrannt. Auf einem der Häuser wächst ein Baum. Ein anderes Foto zeigt
ein Graffito, das Besetzer an eine ruinierte Fassade geschrieben haben:
"Was der Krieg verschonte, überlebt im Sozialismus nicht."
## Kampf gegen Spekulanten
Die Besetzer suchen den Charakter ihrer Straßen zu bewahren, den
Spekulanten sind die alten Häuser im Weg. Nach einem Brand in den
Nachbarhäusern des Tacheles fotografiert de Biel Besetzer, die mit dem
Kontaktbereichsbeamten von Mitte, Hauptkommissar Egon-Joachim Kellotat, auf
der Straße diskutieren. Dorthin haben sie gerettet, was das Löschwasser an
Brauchbarem übrig gelassen hat. Sie vermuten, dass sie einem heißen Abriss
zum Opfer gefallen sind. Manche Stadträte in Mitte versuchen die
Spekulation zu bremsen und nicht jeden Investor mit einem "Filetgrundstück"
zu beglücken. Aber ganz oben im Senat wird ganz groß, also ganz provinziell
gedacht.
Wolf Jobst Siedler, scharfer Kritiker der autogerechten Stadt und
historistischer Scheußlichkeiten wie des Doms am Schlossplatz
gleichermaßen, beklagte schon 1998, dass Berlin den eigenen Grund und Boden
als Notgroschen betrachte. Angesichts der unverhohlenen Ankündigung, das
"Tafelsilber" zu verscherbeln, hoffte Siedler auf einen Immobilienruin am
Horizont. Seit der Wiedervereinigung der Stadt hat der Senat fast alle
Liegenschaften verkauft, die Berlin in Alt-Mitte besaß.
Gestaltungsmöglichkeiten hat die Stadt nicht mehr.
Hans Martin Sewcz Bilder zeigen uns, mit wie viel innerstädtischem Raum
Berlin nach der Wende beschenkt wurde. Ben de Biel hat festgehalten, mit
wie viel jugendlicher Energie dieser Raum wieder zum Leben erweckt worden
ist.
Berlin-Mitte Mai 1979. Frühe Fotografien von Hans Martin Sewcz. Collection
Regard, bis 2. März Ben de Biel: Berlin 1990-93. HBC, bis 18. Februar
6 Feb 2012
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
Ulrich Gutmair
## TAGS
Geschichte Berlins
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