# taz.de -- Drama um Geschwisterliebe: Menschliche Krähen | |
> In "Delta" vermag es eine dörfliche Gemeinschaft nicht hinzunehmen, dass | |
> zwei Menschen sich geltenden Normen entziehen wollen. Eine meditative | |
> Reise. | |
Bild: Filmszene aus "Delta" von Mundruczó Kornél. | |
Wie sehr dürfen sich Bruder und Schwester lieben? So sehr definitiv nicht, | |
wie in Kornél Mundruczós preisgekröntem Film "Delta". Zumindest nicht nach | |
Meinung der Dorfbewohner eines entlegenen Ortes in Rumänien. In jenes Dorf | |
im Donaudelta kehrt ein junger Mann eines Tages von seiner Weltreise | |
zurück, und erfährt, dass er eine Schwester hat, die er nicht kannte. | |
Der Mann ist verträumt, wortkarg, gleicht einem Jesus Christus mit blonden | |
Haaren, blauen Augen. Seine Schwester, eine Anspielung auf Maria Magdalena, | |
erscheint dünn und blass, mit einem wachen, bohrenden Blick. | |
In der Dorfkneipe arbeitet sie hinter der Theke. Der archaische Kontrast | |
fällt sofort ins Auge – hier die Reinheit der zarten, jungen Frau und dort | |
die Brutalität der ausgelaugten Männerkundschaft, die in deren raue | |
Gesichtszüge geschrieben steht. Ohne ein Lächeln, mit brennender | |
Feindseeligkeit starren die Bauer den eintretenden jungen Mann an. Es wird | |
nicht viel gesprochen in dem Film, auch hier in der Kneipe wird stattdessen | |
durch lange Blicke und Schweigen kommuniziert. | |
Pálinka will er, der junge Mann, also Schnaps, den er in sein Exil | |
außerhalb des Dorfes mitnimmt. Dort in der Natur will er sich ein Haus | |
bauen, er hat offensichtlich Geld. Als er die Kneipe verlässt, folgt ihm | |
seine Schwester entschlossen und wortlos. Ab dann leben sie in einer | |
verfallenen Hütte am Fluss in der Natur, und fangen an, mitten im Wasser, | |
weit weg von allen, ein Haus zu bauen. | |
## Unnatürliche Beziehung | |
Diese Rousseausche Idylle bleibt nicht ungerührt, die Dorfbewohner können | |
das Zusammenleben und die angenommene unnatürliche Beziehung des | |
Geschwisterpaares nicht akzeptieren. | |
Das äußert sich wiederum eher in Bildern als in Worten. Einmal nähern sich | |
die Leute des Dorfes dem Domizil der beiden in Booten, weil sie einen Toten | |
zu Grabe tragen. Der Leichenzug sieht aus wie ein Schwarm schwarzer Krähen, | |
nicht laut allerdings, sondern still und bedrohlich. Kameramann Mátyás | |
Erdély lässt sich Zeit für langsame Einstellungen, die man aus Béla Tarrs | |
filmischer Welt kennt. | |
Das Thema ist nicht Inzest per se, sondern der Mut, den es verlangt, eine | |
natürliche Anziehungskraft zu akzeptieren. Ein von der Norm abweichendes | |
Verhalten bringt in dieser stilisierten Dorfwelt mehr Hürden mit sich, als | |
es Freiheiten gibt; im Ringen um ureigenste menschliche Regungen ist eine | |
Tragödie unausweichlich. | |
Es gehört zu Kornél Mundruczós künstlerischer Herangehensweise, | |
grundsätzliche Themen des Seins auf stilisierten, entlegenen, fast | |
surrealen Orten zu bearbeiten. Die mangelnde Fähigkeit des Sprechens | |
verursacht Aggression. Die Konflikte werden nicht thematisiert und | |
diskutiert, sondern in brutalen Handlungen ausgedrückt. | |
## Wortlose Welt voller Gewalt | |
Der Stiefvater der jungen Frau demütigt und vergewaltigt sie aus | |
Eifersucht. Und es wird sichtbar, dass die Magersüchtige schon immer in | |
dieser wortlosen Welt voller Gewalt lebte, und ihr Entsetzen nach innen | |
wachsen ließ, statt es zu äußern. "Einmal habe ich ein Jahr lang nicht | |
gegessen.", sagt sie zu ihrem Bruder. "Ich hatte keinen Hunger." | |
Sie ist das Opfer einer Gesellschaft, die es sich erlaubt, andere zu | |
verurteilen und selbst viel größeres Unheil anzurichten. Die sehr gelungene | |
Filmmusik ist von dem Protagonisten und Musiker Félix Lajkó selbst | |
geschrieben, und unterstützt die in der Natur ruhende Bilderwelt. Um | |
wirkliche Charaktere geht es hier nicht, viel mehr um Impressionen. Die | |
Protagonisten werden in ihrem Ist-Zustand dargestellt und nicht erklärt. | |
Eine eineinhalbstündige meditative Reise, die neugierig macht auf eigene | |
Abgründe und Scheinheiligkeit. | |
"Delta", Dienstag, 14.02.2012, 0.25 Uhr, ZDF | |
13 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Anna Frenyo | |
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