# taz.de -- Debatte Religionsunterricht: Das Okay der Sittenwächter | |
> In NRW soll es ab 2013 islamischen Religionsunterricht geben. Das ist ein | |
> Fortschritt, auch wenn die Details liberalen Muslimen die Zähne klappern | |
> lassen. | |
Der Pluralismus dieser Gesellschaft zeigt sich in nur wenigen Punkten so | |
konfliktträchtig wie beim Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Die | |
einen wollen, dass ihre Kinder nicht nur ethnologisch über religiöse | |
Bräuche informiert, sondern auch in den Inhalt des Glaubens eingeführt | |
werden; die anderen halten das Reden über Gott für wenig sinnhafter als das | |
über den Osterhasen und sehen darin ein Überbleibsel aus alten Zeiten. | |
Trotzdem kann man an beide Seiten appellieren, den Konflikt nicht | |
existenzieller zu machen, als er ist. An ihren Schulen sollen Kinder all | |
das mitbekommen, was für ein selbstbestimmtes Erwachsenenleben und für | |
gesellschaftliche Teilhabe als unerlässlich gilt. Dazu gehören neben Wissen | |
auch das Einüben sozialen Verhaltens sowie die Beschäftigung mit Sport, | |
Kunst und Musik. | |
Wenn nun einige Eltern meinen, auch der Glaube an Gott sei unerlässlich für | |
das Gedeihen der jungen Menschen, ist dies kein Problem, solange der | |
Religionsunterricht nicht obligatorisch ist, sondern es säkulare | |
Alternativen wie das Fach Ethik gibt. Im Gegenteil kann man sagen, dass | |
religiöse Familien sogar ein Recht auf Religionsunterricht haben, im selben | |
Maße wie auf anderen der Persönlichkeitsentwicklung dienenden Unterricht. | |
Wie viel komplizierter wird es aber, wenn es nicht mehr nur um christliche, | |
sondern auch um islamische Inhalte geht! Beim islamischen | |
Religionsunterricht (IRU) gehen viele Religionsgegner erst recht auf die | |
Barrikaden, ja man hat den Eindruck, das Thema IRU habe die allgemeine | |
Debatte über den Religionsunterricht in den letzten Jahren überhaupt erst | |
wieder beflügelt. Dabei stehen viele Diskussionen unter dem Vorzeichen | |
einer latenten bis manifesten Islamophobie - und zwar auch bei den | |
Befürwortern. | |
## Schreckensbild Hinterhof | |
So hört man oft, der IRU sei notwendig, um Kindern informierten Islam zu | |
vermitteln; man müsse den Islamunterricht "aus den Hinterhöfen | |
herausholen". Allein das Beschwören dieses Hinterhofschreckensbildes zeugt | |
von dem Misstrauen, mit dem sich Muslime in Deutschland konfrontiert sehen. | |
Die Einführung des IRU ist weniger motiviert vom Recht auf Bildung als von | |
Misstrauen; statt des Interesses der Eltern und Kinder wird das der | |
Gesellschaft an "kompatiblen" Mitgliedern in den Vordergrund gestellt. | |
Tatsächlich müsste es aber um Gleichberechtigung gehen - um die leicht | |
wohlwollende, aber inhaltlich neutrale Haltung, die das Grundgesetz allen | |
Religionen garantiert. Eine Vielzahl von Gesetzen regelt diese Haltung in | |
verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, in denen Staat und organisierte | |
Religionen kooperieren. | |
Diese Regelungen sind im Laufe von mehreren hundert Jahren sozusagen der | |
Organisationsform der christlichen Kirchen auf den Leib geschneidert worden | |
- ihre Anpassung an andere Religionen ist kompliziert. So muss etwa eine | |
Religion, um an Schulen bekenntnisorientierten Unterricht anbieten zu | |
dürfen, die spezifische rechtliche Form einer Religionsgemeinschaft | |
angenommen haben. Aus diversen formalen Gründen ist dies "dem Islam" in | |
Deutschland, also seiner Vielzahl von Verbänden, nicht geglückt. | |
## Konservativer geht es kaum | |
Während einige Bundesländer bislang Ersatzlösungen, etwa "neutralen" | |
Islamkundeunterricht, angeboten haben, verkündeten in den vergangenen | |
Wochen zwei Bundesländer einen rechtlichen Durchbruch. Als erstes will | |
Nordrhein-Westfalen und ab dem Schuljahr 2013/2014 auch Niedersachsen einen | |
regulären IRU anbieten. | |
Das wirklich Phänomenale an dieser Entwicklung ist, dass sich hier Länder | |
und Religionsvereine zusammengesetzt haben, um ein den Kirchen nicht exakt | |
entsprechendes, aber analoges Modell zu schaffen, das mit denselben Rechten | |
bezüglich eines bekenntnisgebundenen Unterrichts ausgestattet werden kann. | |
Ein Streit, der jahrelang ideologische Züge angenommen hatte, ist damit | |
endlich einer konstruktiven Lösung näher gebracht worden. Während man in | |
Nordrhein-Westfalen das Schulgesetz um einige Passagen ergänzt hat, wurde | |
in Niedersachsen ein Beirat muslimischer Verbandsvertreter gebildet, der | |
individuell über die Erteilung der Lehrerlaubnis entscheiden wird - die | |
Ijaza. | |
Die Details der neuen "Ijaza-Ordnung" allerdings lassen einer liberalen | |
Muslimin wie mir die Zähne klappern. Die männlichen Bewerber müssen die | |
regelmäßige Teilnahme am Freitagsgebet, die Frauen hingegen Gemeindearbeit | |
nachweisen - und sämtliche Bewerber eine "fortwährende islamische | |
Lebensweise nach der rechten islamischen Lehre und den guten Sitten". | |
Konservativer geht es kaum. | |
## Einfach jammerschade | |
Wer entscheidet über die "rechte" Lehre, was sind "gute" Sitten? Müssen | |
dafür in den Vorgesprächen Topoi wie voreheliche Jungfräulichkeit, strenge | |
Alkoholabstinenz und, wer weiß, der unerschütterliche Glauben an den | |
exakten Bauplan der Arche Noah abgeklopft werden? Der Fall homosexueller | |
KandidatInnen oder überhaupt unverheiratet zusammenlebender Paare wird zwar | |
nicht explizit erwähnt, aber man kann sich schwer vorstellen, dass ein | |
Beirat diesen Partnerschaften eine Übereinstimmung mit "der rechten | |
islamischen Lehre und den guten Sitten" bescheinigen wird. | |
Dennoch: Solche Arten von Gender Bias und Diskriminierung sind rechtlich so | |
wenig zu beanstanden wie ähnliche Vorgänge in der katholischen Kirche. Wenn | |
deutsche Muslime nicht wollen, dass ihre Kinder eine konservative, "rechte" | |
muslimische Lebensweise als einzig wahre beigebracht bekommen, müssen sie | |
sich in nennenswerter Zahl organisieren. Solange dies nicht geschieht, ist | |
es völlig korrekt, dass die Länder die mitgliederreichsten Verbände als | |
ihre kirchenanalogen Partner installieren. | |
Aus staatsbürgerlicher Perspektive muss man die Entwicklung in | |
Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen als bedeutenden Schritt zur | |
Gleichberechtigung der Religionen anerkennen - auch wenn mir zugleich als | |
Muslimin das Herz blutet. Dass die ersten Islamlehrer in meinem Bundesland | |
Niedersachsen auf das Okay traditioneller Sittenwächter angewiesen sein | |
werden, ist einfach jammerschade. | |
23 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Hilal Sezgin | |
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