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# taz.de -- Referendum in Syrien: Abstimmen unter Beschuss
> Zwischen Tod und Trümmern lässt Präsident Assad über eine neue Verfassung
> abstimmen. Eine Farce, sagt die Opposition. Sie will keine andere
> Verfassung, sie will einen anderen Präsidenten.
Bild: Abstimmen? Von wegen! Protest in einer nordsyrischen Stadt.
BEIRUT dpa | Syrien hat gerade andere Sorgen als seine Verfassung: Das Land
versinkt immer tiefer in bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Auch am
Wochenende lagen die Städte Homs und Hama, Hochburgen der Opposition, unter
Beschuss der Regierungstruppen. Die Verfassungsreform, über die Präsident
Baschar al-Assad die Syrer am Sonntag abstimmen ließ, ist da nach
Einschätzung von Experten kaum geeignet, die seit fast einem Jahr
andauernde Krise zu lösen.
Nach dem Entwurf für die neue Verfassung soll die bisherige Monopolstellung
der seit Jahrzehnten regierenden Baath-Partei fallen. Auch der Sozialismus
wird aufgegeben. Aber politische Aktivitäten auf Basis der Religion oder
der Stammeszugehörigkeit sind untersagt. Gleichzeitig wird betont: "Die
islamische Jurisprudenz ist die Hauptquelle der Gesetzgebung". Auch darf
nur ein Muslim Präsident werden. Viele Kritiker sehen in diesen
Festlegungen einen Widerspruch. Stimmberechtigt waren nach Angaben der
Regierung 14,6 Millionen registrierte Wähler.
Die Opposition hat den Verfassungsentwurf als Augenwischerei zurückgewiesen
und erklärt, dass sie nichts anderes akzeptieren will als den Rücktritt
Assads, dessen Familie das Land seit 42 Jahren regiert.
Der Verfassungsentwurf ebne zwar erstmals den Weg zu einem politischen
Pluralismus in Syrien, räumen Aktivisten und Experten ein. Gleichzeitig
zementiere er aber die weitreichenden Vollmachten des Präsidenten –
darunter auch die Befugnis zur Auflösung des Parlaments, der Zustimmung zu
Gesetzen und der Berufung der Regierung.
## Assads absolute Macht
"Die neue Verfassung bewahrt dem Präsidenten die absolute Macht", sagt
Mohammed Faour vom Carnegie Middle East Research Centre in Beirut. Und er
fragt: "Wie kann dieses Referendum erfolgreich sein, wenn ein Teil des
Volkes im Aufstand gegen das Regime ist?"
Die Opposition geht davon aus, dass unter der neuen Verfassung nur solche
Parteien vom Assad-Regime zugelassen werden, die loyal zur Baath-Partei
stehen. Sie verweisen auf Artikel 3, wonach ein Präsidentschaftskandidat
schon mindestens zehn Jahre in Syrien leben muss und nur mit einem Syrer
verheiratet sein darf. Damit wären politische Gegner Assads ausgeschaltet,
die seit Jahren im Exil leben und oft mit Ausländern verheiratet sind.
Als haarstäubend bezeichneten es Beobachter, dass Assad die Volksabstimmung
stattfinden ließ, während so viele Städte von Regierungstruppen belagert
sind. So liegen die Viertel der sunnitischen Muslime in Homs schon seit 20
Tagen unter Granatenbeschuss. "Ein Referendum sollte es erst dann geben,
wenn die Regierung die vorgeschlagene Verfassung mit der Opposition
diskutiert und alle Gewalt eingestellt hat", sagt der libanesische Analyst
Amin Kammourieh.
## Dschumblatt spricht von "Ketzerei"
Der prominente libanesische Politiker Walid Dschumblatt, einst ein
Verbündeter Syriens, hat das Referendum als "Ketzerei" bezeichnet. "Der
Verfassungsentwurf stinkt nach dem Leichengeruch und den Trümmern in Homs
und anderen Orten in Syrien", schrieb Dschumblatt in der Zeitung Al Anbaa.
Seit Beginn der Protestbewegung im März 2011 sind nach einer Schätzung der
Organisation Syrian Observatory for Human Rights mit Sitz in London mehr
als 7500 Menschen getötet worden. Der Konflikt nimmt immer mehr die Züge
eines Bürgerkriegs an, sunnitische Rebellen der Freien Syrischen Armee
kämpfen gegen Regierungstruppen, deren Kommandeure wie Assad der
schiitischen Religionsgemeinschaft der Alawiten oder Nusairer angehören.
"Die neue Verfassung enthält massive Widersprüche", sagt der libanesische
Analyst Saad Kiwan. "Einerseits verbietet sie die Bildung politischer
Parteien oder politische Aktivitäten auf der Basis der Religion, der Volks-
oder Stammeszugehörigkeit. Andererseits bestimmt sie eindeutig, dass der
Präsident ein Muslim sein muss und dass das Recht der islamischen Scharia
die Grundlage der Gesetzgebung sein soll." Kiwan fügt hinzu: "Anstelle
dieses Referendums hätte das Regime erkennen sollen, dass es Leute im Land
gibt, von denen es nicht mehr akzeptiert wird."
26 Feb 2012
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