| # taz.de -- Wahlkampf in der indischen Provinz: Gandhi bleibt unberührt | |
| > Im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh kämpft Rahul Gandhi um die Stimmen | |
| > der unteren Kasten. Er verspricht Reis. Wählen werden ihn die | |
| > Unberührbaren dennoch nicht. | |
| Bild: Namhafter Kandidat: Rahul Gandhi versucht für seine Kongresspartei Stimm… | |
| MAURAVA taz | Ganz still ist der Morgen. Vor der Lehmhütte eines | |
| Ziegenhirten in dem Unberührbaren-Dorf Maurava stehen vier Ziegen an einen | |
| Pflock gebunden. Ein junges Mädchen im bunten Sari wirft ihnen grünes Gras | |
| hin. Die 14-jährige Poonam Pasi hat keine Ahnung, was sie an diesem Tag | |
| noch erwartet. | |
| „Gandhi – den Namen kenne ich nicht“, sagt Poonam. Neben ihr steht ihr | |
| Großvater und erklärt, Rahul Gandhi käme heute in ihr Dorf und er sei der | |
| Urenkel Mahatma Gandhis. Das stimmt allerdings nicht. Rahul ist der Urenkel | |
| des indischen Republikgründers Jawaharlal Nehru – doch Gandhi war halt bei | |
| den Unberührbaren immer beliebter als Nehru. | |
| Auf einer großen Wiese außerhalb der Siedlung findet am Nachmittag eine | |
| Großveranstaltung mit Rahul Gandhi statt. Der 41-jährige Gandhi ist Indiens | |
| unumstrittener Kronprinz: jüngster Erbe der berühmten Nehru-Gandhi-Dynastie | |
| und bereits Generalsekretär der regierenden Kongresspartei. | |
| Die meisten Inder glauben, dass er einmal Premierminister wird. Doch das | |
| will gelernt sein, und Gandhi will sich das Amt verdienen. Also machte er | |
| in den letzten Wochen Wahlkampf in Indiens größtem Bundesstaat Uttar | |
| Pradesh, genannt UP. | |
| Wie zuvor keiner seiner Vorfahren aus dem Eliteclan kämpft Gandhi für eine | |
| neue Bindung zwischen Volk und Führung. Er will nicht mehr auf die | |
| Dorfoberen aus seiner eigenen, hohen Kaste der Brahmanen angewiesen sein. | |
| Sie besorgten der Kongresspartei früher die Stimmen auf dem Land, indem sie | |
| den Dorfbewohnern der niedrigen Kasten befahlen, welche Partei sie zu | |
| wählen hatten. Seit Jahren schon bereist Gandhi ihre Dörfer, trinkt Tee mit | |
| den Allerärmsten. In Delhi belächelt man ihn deswegen. | |
| ## Keine Straße, kein sauberes Wasser, keine Schule | |
| Maurava liegt etwa 500 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Delhi. Rahul | |
| Gandhi absolviert hier einen seiner letzten Wahlkampfauftritte, ihm schlägt | |
| wenig Begeisterung entgegen. „Wir haben keine Straße und kein sauberes | |
| Wasser, keine funktionierende Schule und kein Krankenhaus. Die Politiker | |
| haben nie etwas für uns getan“, sagt Maya Kumari, eine Unberührbare und | |
| Mutter von vier unterernährten Kindern. | |
| Sie sind für ihr Alter viel zu klein und dünn. Maya ist wie die meisten | |
| ihrer Kastenangehörigen einfache Landarbeiterin. Mal arbeitet sie auf dem | |
| Feld, mal im Straßenbau, mal ist sie arbeitslos. Hoffnung auf Veränderung | |
| hat sie nicht. Allerdings spürt sie, dass Gandhis Besuch etwas Besonderes | |
| ist. | |
| „Na los, lauf schon“, sagt sie zu ihrem Ältesten, als von oben aus der Luft | |
| Hubschrauberlärm ertönt. Seit dem Morgen hat sich die Wiese langsam mit | |
| Menschen gefüllt. In alten Bussen und auf offenen Ladeflächen von Treckern | |
| und Lastwagen sind die Bauern und Landarbeiter der Umgebung nach Maurava | |
| gekommen. | |
| Manche von ihnen schwenken kleine Fahnen der Kongresspartei. Aber die | |
| meisten kommen aus Schaulust. Als der Hubschrauber mit Rahul Gandhi auf der | |
| Wiese landet, schart sich die Menge um den Landeplatz, kreischt vor Freude, | |
| auch dann noch, als die Rotoren große braune Staubwolken aufwirbeln. | |
| ## „Er sieht weiß und dick aus“ | |
| Die Leute müssen ihre Gesichter mit Tüchern verdecken. Mitten im Gewühl | |
| aber steht Mayas Ältester, 10 Jahre alt, das frische Hemd schon wieder | |
| staubverdreckt, und strahlt. Einen Hubschrauber hat er schon mal gesehen, | |
| aber noch nie von so nah. | |
| Der Moment der Freude ist schnell verstrichen. Als Gandhi in einfacher, | |
| weißer Bauernkluft und Turnschuhen mit jugendlichem Elan auf eine Holzbühne | |
| springt, schweigt die Menge still. „Er sieht weiß und dick aus“, sagt | |
| Poonam, die Tochter des Ziegenhirten. Das Mädchen drückt noch unbefangen | |
| aus, was die Erwachsenen nur im Stillen denken. | |
| Mit „weiß“ meint sie Gandhis helle Hautfarbe. Er ist der Sohn der | |
| gebürtigen Italienerin Sonia Gandhi, die heute die Kongresspartei führt. | |
| Weiße Hautfarbe aber ist für die dunkelfarbigen Landbewohner in Uttar | |
| Pradesh immer noch ein Zeichen höherer Gesellschaftsstellung. Auch „dick“ | |
| meint die kleine Poonam positiv: Sie erkennt auf den ersten Blick, dass er | |
| gut genährt ist – anders als die mageren Gestalten in ihrem Dorf. | |
| Gandhi spricht 20 Minuten lang. „Ich werde dafür sorgen, dass jede arme | |
| Familie die ihr gesetzlich zustehenden 35 Kilo Korn und Reis im Monat | |
| bekommt“, verkündet er über Lautsprecher. Damit erntet er zum ersten Mal | |
| Applaus. 35 Kilo Grundnahrung garantiert der Staat jeder armen Familie in | |
| Indien, doch überall verhindert die Korruption die Auslieferung. | |
| Gandhis Rede streift die große Politik, kritisiert den politischen Gegner. | |
| Daran kann sich die Landarbeiterin Maya später nicht erinnern. Davon | |
| versteht sie nichts, denn sie ist Analphabetin wie 35 Prozent der | |
| Bevölkerung von UP. Und das werden ihre Kinder voraussichtlich auch | |
| bleiben: „Essen ist wichtiger als Erziehung“, sagt Maya. „Erst muss ich d… | |
| Bäuche meiner Kinder füllen. Fürs Schuldgeld bleibt nicht mehr übrig.“ | |
| ## Kastenparteien dominieren auf dem Land | |
| Professor Hilal Ahmad Naqvi nickt nur auf die indische Art, mit | |
| Kopfschütteln, als er Mayas Geschichte hört. Naqvi ist Sprecher der | |
| Kongresspartei in Lucknow, der Hauptstadt von Uttar Pradesh. Er ist ein | |
| 40-jähriger, hochgewachsener, eloquenter Moslem, der in seinem Hauptberuf | |
| als Wirtschaftsprofessor an der renommierten Kanpur-Universität in Lucknow | |
| lehrt. | |
| Typen wie ihn gab es früher nicht in der Kongresspartei von UP, und es | |
| spricht für Rahul Gandhis neuen Stil, dass Naqvi geradewegs sagt: „Ich | |
| weiß, dass die Leute da draußen seine Rede kaum verstehen.“ Naqvi stammt | |
| selbst vom Land in UP. Er erzählt von der Krise der Landwirtschaft, von | |
| massenhafter Unterernährung und hoher Kindersterblichkeit. | |
| Er kennt die Zahlen. „Niemand bei euch im Westen und nur wenige in Delhi | |
| können sich vorstellen, mit was für einer Bevölkerung wir es hier zu tun | |
| haben: 200 Millionen ohne Essen und Arbeit, ein Brutplatz für den | |
| Terrorismus von morgen“, warnt der Professor. | |
| Naqvi empfängt in einem alten, marmorbelegten Kolonialpalast in Lucknow, | |
| dessen Toilettenspülungen nicht funktionieren. Das riesige, inzwischen | |
| heruntergekommene Gebäude ist Hauptsitz der Kongresspartei in der Provinz | |
| und zeugt vom verblichenen Glanz einer Ära, in der die Gandhi-Partei | |
| unangefochten von den 50er bis in die späten 80er Jahre den Bundesstaat | |
| regierte. | |
| Dann aber schlug die Stunde der neuen Kastenparteien, die seit 22 Jahren | |
| den Bundesstaat führen. Derzeit regiert die Partei der Unberührbaren unter | |
| ihrer charismatischen Führerin Mayawati Kumari. Ihr stärkster Rivale ist | |
| die Partei der einfachen Landarbeiterkasten, die im täglichen Leben kaum | |
| über den Unberührbaren stehen. Gemeinsam stellen Unberührbare und niedrige | |
| Kasten knapp zwei Drittel der Bevölkerung von UP. | |
| ## Auswirkung auf Delhi | |
| Abgeschlagen landete die Kongresspartei bei den letzten Wahlen in UP auf | |
| dem vierten Platz mit nur noch 8 Prozent der Stimmen. Mit ihrem Niedergang | |
| in ihrer ehemaligen Hochburg aber verlor die Kongresspartei auch im | |
| nationalen Parlament ihre absolute Mehrheit. | |
| Seither muss sie in Delhi mit wackligen Koalitionen auskommen, die | |
| inzwischen jede neue Gesetzesinitiative unmöglich machen. Ebendeshalb hat | |
| Gandhi Uttar Pradesh zu seiner Bewährungsprobe erkoren: Denn nur wenn seine | |
| Partei hier wieder Fuß fasst, kann sie auch in der Hauptstadt ihre | |
| Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. | |
| Doch die neuen politischen Verhältnisse sind in den Dörfern bereits tief | |
| verankert. Auch in Maurava. Früher wählten Mayas Eltern und Großeltern | |
| immer die Kongresspartei. Heute sagt öffentlich keiner im Dorf, welche | |
| Partei er wählt. Auch Maya nicht. Vermutlich wählt sie die Partei ihrer | |
| Kaste. | |
| Die neuen Parteien haben der Landbevölkerung bisher nichts eingebracht. | |
| UP-Regierungschefin Mayawati gilt als korrupt. Die Landarbeiterin Maya | |
| kennt indessen nicht einmal die Vorwürfe gegen sie. An ihr ist die | |
| Herrschaft der Unberührbaren-Partei genauso spurlos vorbeigegangen wie | |
| früher die Regierungszeit der Kongresspartei. „Die Landarbeiter ergeben | |
| sich schlicht ihrem Schicksal“, sagt Professor Naqvi in Lucknow. | |
| Gandhi will die Leute aufwecken – und seiner Partei neue Wählerschichten | |
| erschließen. Während seiner Rede versucht er immer wieder, die Menschen | |
| direkt mit einfachen Fragen anzusprechen. Es funktioniert nicht. | |
| Wahrscheinlich könnte Gandhi mit seinem Einfluss in Delhi wirklich eine | |
| Menge für den Bundesstaat erreichen. Doch so denken die Bewohner Mauravas | |
| nicht. Sie sind Gefangene eines Elends, an dem bisher alle Gandhis nichts | |
| geändert haben. | |
| An diesem Tag ist der vermeintliche Erlöser nach einer halben Stunde wieder | |
| davongerauscht. Kaum ist Rahul Gandhis Hubschrauber entflogen, löst sich | |
| die Menge in Windeseile auf. Jeder muss heute noch seine Schale Reis | |
| verdienen. | |
| 5 Mar 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Blume | |
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