# taz.de -- Neue Bücher zur Buchmesse: „Kentucky Schreit Ficken“ | |
> Leidenschaft unter Bildungsbürgern: Anna Katharina Hahns Roman „Am | |
> Schwarzen Berg“ ist ein Meilenstein im literarischen Mainstream unserer | |
> Tage. | |
Bild: Das Bildungsbürgertum bei der Arbeit: Schlossplatz in Stuttgart. | |
„Dein Pferdeschwanz, wie der dem Fontane zwischen die Dünndruckseiten | |
baumelte, so aufdringlich, hennarot und selbstvergessen, das hat mir | |
gefallen.“ So geht Anmache auf Stuttgarterisch, jedenfalls in Anna | |
Katharina Hahns neuem Roman. | |
Wir haben es offenkundig mit der Leidenschaft von Bildungsbürgern zu tun, | |
Bibliothekarinnen, Ärzten und einem Lehrer namens Emil, der Hermann Lenz | |
stalkt. Der Roman selbst kann seine Zugehörigkeit zu dieser Sphäre nicht | |
verbergen: Er entwickelt großes Vergnügen an Mystifikationen um Mörikes | |
Biografie; das Wort „Grunge-Outfits“ dagegen schreibt er mit d vor dem g. | |
Aber vielleicht spielt hier auch ganz subtil ein grudge mit rein, | |
schließlich ist Stuttgart der Ort, in dem aus dem Bildungs- der Wutbürger | |
wurde. Und Hahn gibt eine Menge Stuttgart aus: eine ausführliche Fahrt | |
durch die Stadt, Staatsgalerie und Landesbibliothek, die besseren | |
Wohnviertel an den Hängen und die schlechteren unten in Wangen; selbst die | |
Wilhelma wird besucht, und im Schlossgarten engagiert sich Peter gegen | |
Stuttgart 21. | |
Peter, um dessen Lebenskrise sich die Romanhandlung dreht, wird als | |
Einzelkind gefördert, umsorgt und behütet nicht nur von seinen Eltern, | |
sondern auch vom kinderlosen Nachbarehepaar Emil und Veronika, aus deren | |
Perspektive zumeist erzählt wird. Seinen zwei Söhnen im Vorschulalter ist | |
er ein liebevoller Vater, „alles, was nach Leistung roch“, hält er von | |
ihnen fern und sieht auch selbst keine Notwendigkeit für Karriere und | |
Vollzeitjob, die ihn Quality Time mit der Familie kosten würden. | |
## Schutzgeister fürs Versagertum | |
Seine Frau Mia aber will, als Unterschichtskind, genau das Gegenteil. Wo | |
der Bürgersohn den entspannten Citoyen geben kann, sieht der Lebensplan der | |
unehelichen Tochter einer Putzfrau den sozialen Aufstieg vor. Sie hat kein | |
Verständnis für die Rolle des Neuen Mannes, sein Engagement im | |
Schlossgartendreck und schon gar nicht für „seine Schutzgeister, die das | |
ganze Versagertum verständnisvoll abnickten“. Als sie ihn mit den Kindern | |
für einen Fernsehredakteur mit Haus im Tessin verlässt, bricht Peters Welt | |
zusammen. | |
Nicht nur die Personenkonstellation ist hier originell, das ganze | |
bürgerliche Bildungskonzept rückt im Verlauf der Lektüre in ein neues, | |
durchaus unerwartetes Zwielicht. Wo unsere populär-realistische Erzählkunst | |
von Schlink über „Das Leben der Anderen“ bis Kehlmann die kanonische | |
Bildung zum Wert schlechthin erklärt, da zieht ausgerechnet dieser | |
vermeintlich brave Stuttgart-Roman eine ganz andere, radikal ungewohnte | |
Verbindung: die von Bildung und Verwahrlosung. | |
Die literarische Tradition ist hier einmal nicht selbstverständlicher | |
Kulturbestand des Bürgers, sondern wird zum Arcanum, dem man detektivisch | |
nachspüren muss. Im Ernst tun so was nur Exzentriker, Literaturfreaks. Die | |
Mitte der Gesellschaft kommt allenfalls in die Staatsbibliothek, um | |
Referate vorzubereiten – die wahren Literaturkenner sind die Säufer und | |
Obdachlosen, die Veronika mit den Worten verteidigt: „Robert Walser oder | |
Hölderlin hätten Sie wohl auch Hausverbot erteilt!“ | |
Auch sie und Emil, in ihrem gemütlich-chaotischen Haus am Hang, sind | |
Alkoholiker. Von ihnen hat Peter seine Leidenschaft für Natur und | |
Literatur, die ihn zum Businessman untauglich macht, gerade weil sie echt | |
ist und kein bloßes Mittel bürgerlichen Distinktionsgewinns. Was aber | |
anderswo schlicht die bürgerlich-elitäre Autorposition wäre, wird in diesem | |
Roman zum Problem. Denn Hahn verrät ihre Figuren nicht, weder die Alten | |
noch Mia, deren Kleinbürgersehnsüchte genauso ernst genommen werden wie | |
Peters grün-bürgerliche Leistungsverweigerung. | |
## Papa liebt uns nicht mehr | |
Dass es Hahn hier ums Ganze geht, zeigt sich in Mias überraschender | |
Überlegenheit gerade auf jenem Gebiet, das eigentlich fest im Besitz der | |
Gegenseite zu sein scheint, dem Gebiet der narrativen Fiktion. Sie ist | |
selbst verblüfft von der „Wucht ihrer Geschichte“, mit der sie die ganz auf | |
den tollen Vater gepolten Jungen auf ihre Seite zieht: Papa hat eine | |
andere, er liebt uns nicht mehr. | |
Die prägende Kraft der Erzählung, so lernen wir betroffen, ist nicht | |
zwangsläufig eine Eigenschaft guter, komplexer Literatur. Eine einfache | |
Lüge tut’s auch. Die tatsachenverdrängende Wirkung von Narrationen ist der | |
gemeinsame Nenner der Literaturfreaks, die allmählich für die Alltagswelt | |
untauglich werden, und des Erfolgs von Mias verzweifelter List. | |
Ein Großteil unserer preisverdächtigen Erzählliteratur bedient schlicht die | |
bildungsbürgerliche Nachfrage nach gehobener Unterhaltung und | |
Authentizität. „Am Schwarzen Berg“ wäre demnach ein | |
metabildungsbürgerlicher Roman. Er entzieht gerade jenem sympathischeren | |
Teil der Bourgeoisie, dem Autorin und Leser selbst zugehören, die | |
Selbstverständlichkeit, indem er nachfragt: Bildet Literatur wirklich das | |
Humanum aus, das im Zentrum unserer bürgerlichen Gesellschaft stehen | |
sollte, oder erzieht sie uns zu lebensfremden Exzentrikern? Oder gehört | |
gerade dieser Art von Exzentrik die Zukunft, weil sie Baumhäuser baut statt | |
einen neuen Tiefbahnhof mit Shopping-Mall? | |
Wie die Antworten darauf ausfallen könnten, hängt stark von der Bedeutung | |
ab, die man der Figur Mia zuerkennt. Was ihren Namen angeht, beweist Emil | |
eine feine Witterung: „Er fand ihn affig und gewollt, es roch nach | |
Plattencover und Filmabspann.“ Bingo! Nicht nur Narrative haben | |
weltprägende Kraft, auch die Popkultur hat sie. Als Mias Mutter auf die | |
Geburt wartet, läuft Abba im Radio, „Mamma Mia“, und da denkt die von ihrem | |
türkischen Lover längst verlassene Frau: „Mama und Mia, ganz allein auf der | |
Welt.“ | |
Sofort wird kommentiert: „Beschissener und kitschiger geht es wohl nicht. | |
Das kann man niemand erzählen“. Niemand in einer Stuttgarter oder Tessiner | |
Villa vielleicht, aber da steht es nun einmal, wenn es auch einen | |
sentimentalen Effekt erzielt – zum Kitsch fehlt denn doch das Geläufige. | |
## Synthese von schwäbischer Hoch- und internationaler Popkultur | |
Keineswegs popliterarisch gehäuft, gelegentlich noch unsicher (Grundge!) | |
und mit spitzen Fingern, aber doch mit einer gewissen Konsequenz integriert | |
Hahn die Gegenwartskultur auch über das Vokabular in ihren Text. Man freut | |
sich über Yoko Onos Apfelshampoo, über TKKG, Masters of the Universe, | |
Dreiwettertaft, das Graffito „Kentucky Schreit Ficken“ und eine Katze | |
namens Orangina. Liedzeilen von Cat Stevens treffen auf Verse aus | |
Klopstocks Oden und Mörikes Lyrik. | |
Ein fiktiver Mörike-Aufsatz stammt von einem gewissen Dr. Peter Fox, | |
Berlin. Zu Abba wird geboren, zu „Denk es, o Seele!“ gestorben: Cross the | |
border, close the gap. Die Synthese von schwäbischer Hoch- und | |
internationaler Popkultur ist sicher noch nicht die Antwort auf die Fragen | |
zum Status des Bürgertums und seiner Literatur, die Hahn hier aufwirft, | |
aber zumindest den ästhetischen Vorschein einer Lösung könnte man schon | |
darin erkennen. | |
Ich gebe zu, dass ich diesen Roman eigentlich doof finden wollte – es ist | |
mir nicht gelungen. Sicher, die Dialoge sind nicht seine Stärke, der | |
Schluss ist etwas zu vorhersagbar. Aber im Kern ist dies ein grandioses | |
Buch, im literarischen Mainstream unserer Tage womöglich ein Meilenstein | |
wie die Proteste um Stuttgart 21 im politischen. In Hahns „Am Schwarzen | |
Berg“ wird sich der bildungsbürgerliche Roman seines Problems bewusst – und | |
tut damit den ersten Schritt zu seiner Lösung. | |
Anna Kathrina Hahn: „Am Schwarzen Berg“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 236 | |
Seiten, 19,95 Euro. | |
14 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Moritz Bassler | |
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