# taz.de -- Kindeswohl: "Für uns war es nicht zu sehen" | |
> Nach dem Tod des Mädchens Chantal in Hamburg wird wieder über | |
> Kinderschutz diskutiert. Ein Gespräch mit der Mitarbeiterin eines | |
> Jugendtreffs, den auch Chantal besucht hat. | |
Bild: Werden von einer Trauergruppe auf- und von Chantals Familie weggestellt: … | |
taz: Hat es nach dem Tod des Mädchens Chantal greifbare Konsequenzen bei | |
den Jugendämtern gegeben, Frau Walter? | |
Friederike Walter: Ich finde es schwierig, abschließend etwas dazu zu | |
sagen. Ich habe nur ab und zu Kontakt mit dem Jugendamt – was auf der einen | |
Seite gut ist, weil die Kinder freiwillig zu uns kommen und wir nur dann | |
etwas weitergeben, wenn es etwas Außergewöhnliches gibt. | |
Was wäre so etwas „Außergewöhnliches“? | |
Es ging um den Verdacht auf häusliche Gewalt und einmal hatten wir einen | |
Verdacht auf sexuellen Missbrauch. | |
Die Frage, wann und woran man Kindesmisshandlung merken kann, wird seit | |
Jahren diskutiert. Zeigt sich das in Ihrem Arbeitsalltag? | |
Ich bin seit zwei Jahren in der Arche dabei. Wir versuchen als Mitarbeiter | |
die Informationen, die wir über die Kinder haben, auszutauschen. Zum | |
Beispiel, wenn sich in der Familie etwas verändert, eine Partnerschaft | |
auseinandergeht oder ein Baby kommt. Das ist unsere Konsequenz aus dem Tod | |
von Chantal. Wir versuchen auch vermehrt, mit den Familien in Kontakt zu | |
treten. Das gelingt auch – natürlich je nachdem, ob die Leute es wollen, | |
wir drängen uns da nicht auf. | |
Ist das Heikle nicht, dass gerade Familien mit Problemen keinen Besuch | |
wollen? | |
Ich komme von keiner Behörde, ich bin komplett unabhängig, weil die Arche | |
keinerlei öffentliche Mittel in Anspruch nimmt. Daher komme ich als | |
Privatperson beziehungsweise als Nachmittagsbetreuerin der Kinder. | |
Haben Sie schon die Erfahrung gemacht, unerwünscht zu sein? | |
Ja. Einmal hatte ich eine Einladung abzugeben und einmal auch eine Sache zu | |
klären, da wurde ich jeweils nicht hereingebeten. | |
Ist nicht gerade das ein Alarmzeichen? | |
Das ist schwierig. Ich möchte auch nicht meine Kompetenzen überschreiten. | |
Bei einem Kind hatte ich den Verdacht auf häusliche Gewalt und das | |
Jugendamt, das selbst auch nachgucken wollte, hatte mich gebeten, ebenfalls | |
Kontakt aufzunehmen. Ich kam an die Eltern aber nicht heran, das haben wir | |
zurückgemeldet, aber danach habe ich vom Jugendamt nichts mehr gehört. | |
Haben Sie da nachgehakt? | |
Ja, aber ich habe keine Auskunft bekommen. | |
Mit welcher Begründung? | |
Ich habe damals auf einen Anrufbeantworter gesprochen und keinen Rückruf | |
bekommen. Ich weiß nicht mehr, ob ich dann noch einmal nachgehakt habe. | |
Dann ist aber auch das Kind nicht mehr zu uns gekommen. | |
Geht Ihnen so etwas nach? | |
Auf jeden Fall. Ich habe das Kind später noch einmal getroffen und gefragt | |
und es sagte mir: „Nein, nein, es ist nicht mehr so, es hat sich alles | |
gebessert.“ Das muss ich dann so stehen lassen. Kinder schützen ihre | |
Familien, selbst wenn dort Gewalt vorkommt – das muss ich dann ein Stück | |
weit respektieren. | |
Wie häufig sind solche Verdachtsfälle bei Ihrer Arbeit? | |
Es ist eher die Ausnahme. Aber seit dem Tod von Chantal sind wir wirklich | |
aufgeschreckt. Sie war jemand, den wir ganz bestimmt so nicht im Blick | |
hatten. Offensichtlich sieht man es eben doch nicht. Das ist ja das, was | |
alle im Nachhinein erstaunt hat und ich glaube, dass Menschen, die in der | |
Nähe wohnten, mehr gemerkt haben als wir, eine Einrichtung, die dreimal pro | |
Woche nachmittags geöffnet hat. | |
Haben Sie sich persönlich gefragt, warum Sie nichts gemerkt haben? | |
Dass sie in schwierigen Lebensumständen war, war klar. Dass kann sich jeder | |
denken, der weiß, dass ein Kind in einer Pflegefamilie ist – das ist das | |
Ende einer ganz langen Geschichte, die das Jugendamt mit einer Familie und | |
einem Kind hat. Ich hatte nicht all die Informationen, die ein Jugendamt | |
hat, da geht man dann nach dem eigenen Eindruck. | |
Und wie war der? | |
Ich habe die Pflegefamilie als organisiert erlebt, da kamen die Gelder für | |
Ausflüge rechtzeitig an, da hat sich die Pflegemutter nach Vorfällen, die | |
hier waren, erkundigt. Die Eltern hatten ein hartes Leben, das hat man | |
gesehen, aber eine Vernachlässigung war von mir nicht zu erkennen. Die | |
Kinder waren gut angezogen, sie waren sauber, sie haben nicht unmäßig | |
gegessen, so dass man den Eindruck gehabt hätte, sie bekämen sonst nichts. | |
Woran haben Sie das harte Leben der Pflegeeltern festgemacht? | |
Am Äußeren. | |
Und wonach hat sich die Pflegemutter erkundigt? | |
Bei einer Gelegenheit hatte ein Kind Geld gestohlen und die Beute mit zwei | |
Jungen geteilt, einer davon vor der leibliche Sohn der Pflegefamilie. Der | |
ist dann mit einer Spielzeugpistole nach Hause gekommen, die Mutter | |
bemerkte das und so kam die Geschichte heraus. Sie hat mir dann einen Brief | |
geschrieben und ihrem Sohn die fünf Euro mitgegeben, die er bekommen hatte. | |
Die sollten dem bestohlenen Kind zurückgegeben werden. | |
Also eine Mutter, die sich kümmert. | |
Natürlich. Bei den anderen hat das eine Kind gezahlt, nachdem ich zur | |
Familie hingegangen war und beim dritten passierte gar nichts. | |
Es klingt so, als wäre das Fazit für Sie, dass man nichts hätte anders | |
machen können. | |
Ich kann nur für mich sprechen und von dem, was ich gesehen habe, war es | |
nicht möglich. Wir haben im Mitarbeiterkreis eine regelmäßige Supervision, | |
wo wir darüber gesprochen haben und eigentlich haben wir alle gesagt: Es | |
ist furchtbar, das sagen zu müssen, aber für uns war es nicht zu sehen. | |
Wie waren die Reaktionen in Wilhelmsburg? | |
Gestern stand im Wochenblatt, dass es eine Trauergruppe gibt, die sich | |
jeden Mittwoch in einem Café trifft und Chantal betrauert und vor dem | |
Fenster Kerzen und Plüschtiere aufstellt – die die Pflegefamilie wegräumt. | |
Es hat hier eine Art Kleinkrieg angefangen und ich möchte der Familie nicht | |
zu nahe treten. | |
Ihr Eindruck war ja ein positiver. | |
Natürlich war mir klar, dass das Leute sind, die eine Vergangenheit haben. | |
Aber ich habe nie groß darüber nachgedacht, ich dachte, wenn das Jugendamt | |
dort Pflegekinder hineintut, dann wird da jemand im Blick haben, was in der | |
Familie läuft. | |
Wie ist aus Ihrer Sicht die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt? | |
Sehr wechselhaft. Einmal war ich vorstellig geworden, da bekam ich einen | |
Termin, man nahm sich Zeit und hat Sachen zu Protokoll genommen. Wenn ich | |
nur anrief oder Briefe schrieb, habe ich keine Antwort bekommen. Das eine | |
Mal, als ich dort war, konnte ich die Aktenberge bei der Sachbearbeiterin | |
sehen, das ist grotesk. Nach dem bisschen, was ich dort gesehen habe, kann | |
ich mir gut vorstellen, dass die Mitarbeiter heillos überarbeitet sind. | |
29 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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