# taz.de -- Griechische Bauern in der Krise: Zauber der Kartoffeln | |
> Die Wucherpreise im Supermarkt kann sich der 69-jährige Nikolaos Tsipis | |
> nicht mehr leisten. Jetzt kauft er seine Kartoffeln direkt beim Bauern am | |
> Straßenrand. | |
Bild: Hier wird nicht verhandelt, hier wird verkauft. Kartoffelbauer in Thessal… | |
Im Akkord greift Nikos Gallopoulos nach Kartoffelsäcken und reicht sie | |
seinen Kunden. Zeit zum Durchatmen bleibt ihm kaum. Es ist kurz nach 9 am | |
Morgen. Der 32-jährige Kartoffelbauer steht schon seit zwei Stunden mit | |
seinem Lkw auf dem Parkplatz des alten Athener Flughafens im Stadtteil | |
Elliniko im Norden der griechischen Hauptstadt. Um ihn herum hunderte | |
Menschen, alte Männer und Frauen, die sich über die letzten Rentenkürzungen | |
aufregen, aber auch viele junge Mütter und Väter, mit ihren Kindern an der | |
Hand. | |
Alle reden durcheinander. „Es ist die Hölle los! Das, was hier passiert, | |
ist unglaublich, wir haben uns entschieden, die Kartoffeln billig zu | |
verkaufen, und die Resonanz der Leute ist riesig“, freut sich Nikos | |
Gallopoulos. Der junge Familienvater hat kurze dunkle Haare und trägt einen | |
einfachen schwarz-weiß-gestreiften Pullover und eine Jeans. „Die Menschen | |
gucken auf die Preise. Sie wollen gute Qualität, aber gleichzeitig müssen | |
die Produkte preiswert sein. Und genau das bieten wir ihnen: gute und | |
preiswerte Produkte.“ | |
Nikos Gallopoulos kommt aus Nevrokopi – ein Ort in den Bergen an der | |
bulgarischen Grenze. Nevrokopis Stolz sind seine Kartoffeln, mit denen die | |
meisten der rund 8.000 Einwohner in der Region ihr Geld verdienen. „Ich | |
arbeite seit meinem sechzehnten Lebensjahr auf dem Acker“, erzählt | |
Gallopoulos. „Und auch meine drei Kinder erwartet das gleiche Schicksal. | |
Denn bei uns gibt es nur den Kartoffelanbau – sonst nichts“. | |
32 Cent pro Kilo kosten Gallopoulos Kartoffeln im Direktvertrieb. „Darin | |
enthalten sind die Fahrt- und Verpackungskosten“, erklärt er. Netto blieben | |
ihm nicht mehr als 10 bis 13 Cent pro Kilo, ungefähr so viel, wie ihm die | |
Zwischenhändler zahlen würden. „Die Händler drücken seit Jahren die Preis… | |
Mit den paar Krümeln, die sie uns geben, können wir nicht einmal unsere | |
Unkosten decken“, klagt der Bauer. Viele seiner Kollegen würden sich | |
mittlerweile weigern, ihre Ernte zu diesen Preisen abzugeben, und würden | |
sie lieber wegschmeißen, sagt er. | |
Gallopoulos und die anderen Bauern von Nevrokopi hoffen jetzt, dass sie die | |
Zwischenhändler durch die Direktvermarktung zum Umdenken zwingen können. | |
„Sie müssen einsehen, dass sie mit ihrer Taktik, unsere Ware für Peanuts zu | |
kaufen, um sie dann teuer weiterzuverkaufen, nicht weitermachen können“, | |
sagt er. Tatsächlich landeten die Kartoffeln aus Nevrokopi in den Regalen | |
der Supermarktketten für rund 70 Cent das Kilo, mehr als doppelt so teuer | |
wie im Direktvertrieb. | |
## Luxusgut Kartoffeln | |
Kein Wunder, dass so viele herbeiströmen, um säckeweise Kartoffeln mit nach | |
Hause zu nehmen. Unter ihnen ist auch der 69-jährige Nikolaos Tsipis, ein | |
schlanker Mann mit weißem Haar und tiefen Falten im Gesicht. Er hat gleich | |
drei Zentner Kartoffeln bestellt: „Nicht nur für mich, auch für meine | |
Töchter, Schwiegersöhne und Enkelkinder“, erklärt er. Es klingt so, als | |
müsse er sich entschuldigen. „Die Kartoffeln im Supermarkt sind so teuer, | |
dass wir sie uns nicht mehr leisten können“, klagt er. „Mit den ganzen | |
Sparmaßnahmen zwingt uns der Staat dazu, dass wir uns in diese lange | |
Schlange stellen. Und das für Kartoffeln!“, sagt er und zeigt auf die | |
Menschen. | |
Paraskevi Psychia, eine ältere Frau, mischt sich ein: „Es ist zwar | |
anstrengend, hier anzustehen, aber im Vergleich zu unseren anderen | |
Problemen ist das eine Kleinigkeit“, sagt sie. Sie zieht ein Wägelchen für | |
ihre Kartoffeln hinter sich her, 20 Kilo hat sie bestellt. „Das ist ein | |
sehr gutes Angebot“, fügt sie zufrieden hinzu. 550 Euro Rente bekommt die | |
ehemalige Buchhalterin im Monat, nach fast vierzig Arbeitsjahren. | |
„Persönliche Einkäufe kann ich ganz vergessen. So etwas habe ich seit | |
langem nicht mehr getan“, sagt sie und guckt verlegen zu Boden. | |
Weil es vielen Griechen so geht, hat die „Bewegung der Kartoffel“ Erfolg. | |
Angefangen hatte alles Ende Februar in Katerini, einer Stadt in | |
Nordgriechenland am Fuße des Olymp. Eine Bürgerinitiative bestellte eine | |
Lkw-Ladung Kartoffeln und lud die Bürger Katerinis ein, Kartoffeln übers | |
Internet zu bestellen. „Innerhalb von zehn Stunden waren sie ausverkauft“, | |
erinnert sich Ilias Tsolakidis, einer der Initiatoren der Aktion. | |
## Die „Kartoffel-Bewegung“ | |
Es folgten viele weitere Lkws. Die griechischen Medien berichteten | |
ausführlich über die Kartoffeln aus Nevrokopi. Es meldeten sich immer mehr | |
interessierte Städte, Vereine und kommunale Parteien bei den | |
Kartoffelbauern, die bei der „Kartoffel-Bewegung“ mitmachen wollten. | |
„Auch wir wollen unseren Mitbürgern günstige Lebensmittel anbieten“, sagt | |
Giannis Konstandatos, Mitorganisator der Aktion am alten Athener Flughafen | |
und Mitglied einer kommunalen Partei im Athener Vorort | |
Argyroupoli-Elliniko. Allein dort haben 1.250 Bürgerinnen und Bürger | |
Kartoffeln bestellt, insgesamt 52 Tonnen nur für diesen Tag, sagt | |
Konstandatos sichtlich stolz. Und alle Helfer würden es ehrenamtlich tun. | |
„Nicht nur Mitglieder unserer Partei, sondern auch zahlreiche einfache | |
Bürger. Es haben sich wirklich viele bei uns gemeldet, um heute bei der | |
Verteilung auszuhelfen.“ Und diese Helfer haben es wirklich nicht leicht: | |
Sie flitzen von einem Kunden zum nächsten. Um in der Menge erkennbar zu | |
sein, tragen sie neongelbe Westen. Einige nehmen die Bestellungen entgegen | |
und stellen Quittungen aus, andere lotsen die Autofahrer zum Lkw und helfen | |
beim Transport der Kartoffelsäcke bis zum Kofferraum. | |
Es ist inzwischen Mittag. Die Warterei zerrt an den Nerven. Einem wartenden | |
Kunden um die fünfzig geht es nicht schnell genug: Er beschwert sich | |
darüber, dass Bauer Gallopoulos telefoniert. „Junge, soll ich deine | |
Sekretärin spielen, damit es schneller geht?“, keift er. Ein paar Schritte | |
weiter beschwert sich eine Frau laut darüber, dass es keine 10-Kilo-Säcke | |
mehr gibt: „Was verstehen Sie nicht? Ich habe 10 Kilo Kartoffeln bestellt, | |
und Sie sagen mir, dass es nur noch 20- und 30-Kilo-Säcke gibt!“, schreit | |
sie einen der Helfer an. | |
## Das Warten zahlt sich aus | |
Währenddessen hat sich an der Einfahrt zum ehemaligen Flughafen ein | |
kilometerlanger Stau gebildet. Einige Fahrer hupen, als würde es dadurch | |
schneller gehen. Mittendrin die 41-jährige Vicky Akermanidou. Die gepflegte | |
Frau mit den langen blonden Locken hat die Fensterscheibe heruntergedreht | |
und versucht ruhig zu bleiben. „Auch wir Griechen müssen lernen zu warten“, | |
sagt sie. 30 Kilo Kartoffeln habe sie bestellt. „Die Warterei zahlt sich | |
aus. Wir müssen jeden Cent zweimal umdrehen. Da muss man einfach solche | |
Aktionen unterstützen.“ Ihr Mann arbeite auf dem Bau. Doch seit der Krise | |
habe er fast keine Aufträge mehr, sagt die zweifache Mutter. Und sie selber | |
sei bis jetzt mit den Kindern beschäftigt gewesen. „Jetzt würde ich gerne | |
arbeiten. Aber im Moment ist ein Einstieg ins Berufsleben unmöglich“. | |
Zwei Autos hinter Vicky Akermanidou sitzt Andreas Vakrinos. Der 64-jährige | |
Rentner ist mit einem Multitruck gekommen, ein Fahrzeug mit drei | |
Kubikmetern Laderaum. Den hat er auch nötig, denn er will 200 Kilo | |
Kartoffeln holen. „Für die ganze Familie“, erklärt er. „Die Politiker h… | |
mir meine ganze Rente gestohlen. Sie sinkt und sinkt. Und dann sind noch | |
die ganzen Sondersteuern, Strom, Wasser, Essen. 600 Euro reichen doch nicht | |
zum Leben!“, schimpft der große Mann mit den müde wirkenden Augen. Dass die | |
Bauern in die Stadt gekommen sind, um ihre Kartoffeln direkt unter die | |
Leute zu bringen, hält er für eine gute Idee. „Wir müssen die Bauern in | |
diesem Vorhaben unterstützen. Es ist eine Hilfe für die Bauern und | |
gleichzeitig tut es auch unserem Portemonnaie gut. Die Zwischenhändler | |
haben sich bis jetzt immer eine goldene Nase verdient, während die Bauern | |
nicht einmal ihre Kosten decken konnten!“ | |
Das bestätigt auch der Bauernverband von Nevrokopi. Mittlerweile seien | |
durch den Direktvertrieb mehr als 17.000 Tonnen Kartoffeln verkauft worden. | |
Es blieben nur noch rund 3.000 Tonnen, dann sind die Bauern ihre ganze | |
Ernte los. Wenn der Kartoffel-Boom anhält, ist das nur eine Frage von | |
Wochen, freut sich Nikos Gallopoulos. | |
Und der Initiative der Kartoffelbauern folgen langsam auch andere Bauern. | |
So werden seit kurzem auch Reis, Hülsenfrüchte und Olivenöl direkt | |
verkauft. Auch die Athener Stadtteile und Vereine machen mit. Konstandatos | |
von der Initiative im Stadtteil Elliniko erzählt: „Die Leute bestellen | |
schon. Wir sammeln sie im Moment und werden dann den Verkauf organisieren.“ | |
Die 78-jährige Paraskevi Psychia freut es: „Natürlich! Alle Bauern sollen | |
da mitmachen! Alle! Das ist für uns eine große Hilfe.“ | |
3 Apr 2012 | |
## TAGS | |
Griechenland | |
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