# taz.de -- Debatte 20 Jahre nach Jugoslawienkrieg: Europas nicht bestandene Re… | |
> Bis heute gibt die EU Bosnien keine wirkliche Perspektive. Die geltende | |
> Verfassung verhindert Reformen. Die Opfer des letzten Krieges in Europa | |
> werden abgestraft. | |
Der Krieg in Jugoslawien und noch mehr in Bosnien und Herzegowina von 1992 | |
bis 1995 bedeutete einen Einschnitt in die Entwicklung Europas nach 1945. | |
Er zwang angesichts der „ethnischen Säuberungen“, dem Auseinanderreißen | |
einer traditionell multinationalen und multireligiösen Gesellschaft, mit | |
dem Aufbau von Gefangenenlagern, den Massenvergewaltigungen und dem Genozid | |
an der bosniakischen Bevölkerungsgruppe Europa dazu, politisch-moralisch | |
Stellung zu beziehen. Und haben Europa und damit auch Deutschland die | |
Prüfung bestanden? | |
Während des bosnischen Krieges selbst sicher nicht. Die politischen | |
Debatten über das richtige Verhalten gegenüber dem Krieg in Jugoslawien | |
führten oftmals ins Leere und die handfesten politisch-historischen | |
Interessen Großbritanniens und Frankreichs, das alte Jugoslawien zu | |
erhalten, wurden zumeist ausgeblendet. | |
In beiden Ländern herrschte damals die Meinung vor, man müsse den | |
serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic beim Zusammenhalt Jugoslawiens | |
als Gegengewicht zu dem wiedervereinigten Deutschland stützen. | |
Man übersah, dass es Milosevic nicht um den Erhalt Jugoslawiens ging, | |
sondern um den Aufbau eines Großserbiens, das den größten Teil des | |
ehemaligen Vielvölkerstaates Jugoslawien unter seine Kontrolle bringen | |
wollte. Die Vetomächte Frankreich und Großbritannien verhinderten in | |
Brüssel und bei der UN eine schärfere Gangart gegen Milosevic und die | |
serbischen Nationalisten. Sie bewirkten ein Waffenembargo, das ihre Gegner | |
benachteiligte. | |
## Konzept der „ethnischen Säuberungen“ | |
Im Bündnis mit den rechtsextremen nationalistischen Kräften wurde in | |
Belgrad das Konzept der „ethnischen Säuberungen“ entwickelt, geplant und | |
letztlich mit internationaler Rückendeckung umgesetzt. Danach sollte | |
Bosnien und Herzegowina auf ethnischer Grundlage territorial aufgeteilt | |
werden. Der kroatische Präsident Franjo Tudjman, der im eigenen Land Krieg | |
gegen serbische Truppen führte, akzeptierte diese Position Belgrads | |
prinzipiell in Bezug auf Bosnien und Herzegowina. Kroatien begann 1993 den | |
Krieg im Krieg, um sich ein Stück aus dem bosnischen Kuchen | |
herauszubrechen. | |
Dass Milosevic und Tudjman diese Position hatten, ist nicht verwunderlich. | |
Dass aber die internationale Gemeinschaft die völkisch-nationalistischen | |
Positionen akzeptierte, hat nicht nur die Opfer des Krieges an Europa | |
verzweifeln lassen. Menschenrechtler, einige Politiker und Publizisten und | |
vor allem die Überlebenden des Nazi-Holocaust, die gegen die Verbrechen der | |
ethnischen Säuberungen in Bosnien protestierten, konnten den Prozess nicht | |
aufhalten. | |
Als endlich nach dem Genozid in Srebrenica 1995 wenigstens eine | |
militärische Wende kam, war die bosnische Tragödie schon vollendet. Über | |
100.000 Menschen waren tot und weit über 2 Millionen, also die Hälfte der | |
Bevölkerung, aus ihren Heimatorten vertrieben. Die multinationale bosnische | |
Gesellschaft war fast völlig zerschlagen. | |
## Ethnische Teilung nach Dayton | |
Im Friedensabkommen von Dayton 1995 wurde dann das Ergebnis des Krieges | |
bestätigt: Das Land wurde, gemäß dem Wunsch der serbischen (und auch | |
kroatischen) Nationalisten, territorial entlang ethnisch-religiöser Linien | |
aufgeteilt. Die internationale Gemeinschaft gab damit den Kriegstreibern | |
recht. Und missachtete die Interessen und Forderungen der zwar machtlosen, | |
doch immer noch zahlreichen nichtnationalistischen und „normalen“ Menschen | |
aus allen Teilen der bosnischen Bevölkerung. | |
Der bosnische Krieg birgt also bis heute eine moralisch-politische | |
Herausforderung, die weit über das bosnische Problem hinausgeht. Die | |
Bosniendebatte, der Krieg in Europa, gibt Aufschluss über die demokratische | |
Reife der EU. | |
Sicherlich, die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft | |
insgesamt haben nach dem Krieg nicht alles falsch gemacht. Den | |
Nachfolgestaaten Jugoslawiens eine Perspektive der Integration in die EU zu | |
geben, wenn bestimmte demokratische Reformen und die Entwicklung hin zu | |
einem Rechtsstaat vollzogen würden, war richtig und zwingt die | |
Balkanstaaten zu Reformen. Auch wurde die Infrastruktur mit internationaler | |
Hilfe erneuert. | |
## Und was macht Deutschland? | |
Doch nach wie vor muss zu denken geben, dass nach all den Jahren der | |
internationalen Präsenz, nach den Hilfsgeldern, der Tätigkeit des Office of | |
High Representative, der OSZE, der EU, der Nato, Bosnien – wie übrigens | |
Kosovo auch – zu den ärmsten Ländern der Hemisphäre gehört mit der höchs… | |
Arbeitslosigkeit in der Region. | |
Es muss auch zu denken geben, dass, um nur ein Beispiel zu nennen, die OSZE | |
federführend das Schulsystem nach den Wünschen der nationalistischen Eliten | |
gestaltete: die sogenannten „Ethnien“ (die ja keine sind ) wurden getrennt, | |
unterschiedliche Curricula und damit in letzter Konsequenz die Erziehung zu | |
Hass statt zur Versöhnung erlaubt. Die Mischung aus Inkompetenz, falscher | |
Analyse, divergierenden Interessen der beteiligten Mächte innerhalb der EU | |
und die Mutlosigkeit der internationalen Institutionen haben die | |
Gesellschaft in Bosnien und Herzegowina in die Sackgasse geführt. | |
Anstatt rechtzeitig auf eine Verfassungsänderung hinzuwirken, die es dem | |
geteilten Staat erlaubt, überhaupt Reformen – auch in Bezug auf die | |
Integration in die Gemeinschaft – einzuleiten, wurde vonseiten der EU bis | |
heute immer wieder den Forderungen der radikalen Nationalisten nachgegeben. | |
Bosnien kann mit dieser komplizierten Verfassung aber nicht | |
weiterentwickelt werden. | |
Immerhin haben sich die politischen Konstellationen in Europa in Bezug auf | |
Bosnien etwas verändert. Frankreich und Großbritannien haben schon vor | |
Jahren eine Kehrtwende gemacht. Deutschland, das während des bosnischen | |
Krieges politisch keine und militärisch eine nur sehr untergeordnete Rolle | |
spielte, ist in den letzten Jahren politisch aufgewertet worden. | |
Gerade von der jetzt führenden Macht in Europa, dem demokratischen | |
Deutschland, das völkisch-nationalistischen Traditionen den Kampf angesagt | |
hat, wird vonseiten der nichtnationalistischen und proeuropäischen Menschen | |
in Bosnien erwartet, endlich politisch initiativ zu wirken. Man wird sehen, | |
ob Deutschland politisch-moralisch reif dafür ist. | |
6 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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