# taz.de -- Über den Roman „Die Tigerfrau“: Ein Land ohne Namen | |
> Eine junge Ärztin in der Nachkriegszeit auf dem Balkan, wo der Glaube dem | |
> Unerklärbaren Sinn gibt: Téa Obrehts Roman „Die Tigerfrau“ wurde ins | |
> Deutsche übersetzt. | |
Bild: Leichtfüßig und bildhaft entwirft Téa Obreht ein Land ohne Namen. | |
Den Neffen des Todes zur Figur eines Romans zu machen ist ein gewagtes | |
Unterfangen. Gavran Gailé heißt der Mann, der selbst nicht sterben kann, | |
für seinen mächtigen Onkel aber die niederen Arbeiten erledigt: Er | |
überbringt den Sterbenden die Nachricht ihres baldigen Ablebens. Es ist | |
seltsam und zugleich bezeichnend für den durchaus im Diesseits | |
angesiedelten Roman „Die Tigerfrau“ von Téa Obreht, dass man Gailés Figur | |
als Leserin einfach hinnimmt – als Figur, die sich zwar zwischen den Welten | |
bewegt, zugleich aber so glaubhaft erscheint, dass ihre Existenz nicht | |
infrage gestellt wird. | |
Die Figur Gailés ist typisch für „Die Tigerfrau“, in dem neben den | |
Protagonisten auch Mensch-Tier-Mischwesen sowie Gestalten aus Volksmärchen | |
und Schauergeschichten unterwegs sind: Erzählt wird die Geschichte der | |
jungen Ärztin Natalia Stefanovic, die sich irgendwo auf dem Balkan | |
aufmacht, in einem Waisenhaus Kinder zu impfen. Unterwegs erfährt Natalia, | |
die gemeinsam mit ihrer Mutter bei den Großeltern lebt, vom Tod ihres | |
Großvaters, der ebenfalls Arzt war. Dieser ist in einem Dorf in der Nähe | |
des Waisenhauses gestorben, was der Familie Rätsel aufgibt. | |
Um herauszufinden, was er dort wollte, begibt sich Natalia auf die Suche, | |
beschreibt dabei mehr als 60 Jahre ihrer Familiengeschichte und entwirft | |
zudem ohne jegliche Eile ein Kaleidoskop fantastischer Figuren: Da wird von | |
einem empfindsamen Tiger, der aus dem Belgrader Zoo geflohen ist, einem | |
Bärenjäger, der selbst zum Tier wird, und natürlich, zentral, von Gailé | |
erzählt. | |
Es ist ein gewaltiger Ruf, der Téa Obreht vorauseilt. Gerade mal 25 Jahre | |
alt war sie, als die englische Originalausgabe von „The Tiger’s Wife“ im | |
vergangenen Jahr im Random House Verlag erschien. Da hatte sie bereits | |
Erzählungen und Kurzgeschichten in der New York Times, im Guardian und dem | |
Atlantic veröffentlicht, wovon eine in die Anthologie der „Best American | |
Short Stories 2010“ aufgenommen wurde. Als bislang jüngste Autorin | |
überhaupt war sie auf der Liste der „20 under 40“ des New Yorker vertreten. | |
## Alltag in der zerbrechlichen Normalität finden | |
Nun ist der Roman auf Deutsch erschienen – und hält auf weiten Strecken, | |
was er verspricht. Leichtfüßig, bildhaft und an den magischen Realismus | |
lateinamerikanischer Autoren erinnernd entwirft Obreht ein Land ohne Namen, | |
in dessen Nachkriegsgegenwart Natalia ihr Leben aufbaut. Obreht selbst | |
wurde 1985 in Belgrad geboren, floh beim Ausbruch der Jugoslawienkriege mit | |
ihrer Mutter und deren Eltern über Zypern und Ägypten in die USA. | |
In ihrem Roman lässt sie Natalia von Kindheit und Jugend im Krieg | |
berichten, von Freundschaft und Tod und dem Versuch, inmitten einer | |
zerbrechlichen Normalität zu einem Alltag zu finden. Zwar urlauben bereits | |
wieder Touristen an der Küste, die ethnischen Konflikte jedoch haben ihre | |
Wunden in der Gesellschaft hinterlassen: „Jener Nobelpreisträger war nicht | |
mehr unserer, sondern ihrer, unser Flughafen war nach dem verrückten | |
Erfinder benannt, der jetzt nicht mehr zu unserer Gemeinschaft gehörte.“ | |
Dabei bleibt Obreht vor allem in der Beschreibung von Land und Leuten fast | |
konventionell: „Wir fuhren durch rot gedeckte Dörfer, die sich an die Küste | |
drängten, vorbei an Kirchen und Pferdekoppeln und abschüssigen, von | |
violetten Glockenblumen leuchtenden Feldern.“ Dieser naiven Erzählung von | |
Wirklichkeit jedoch werden Glaube und Aberglaube entgegengesetzt, die eine | |
der Realität durchaus ebenbürtige Rolle spielen. | |
So wird etwa aus Kaffeesatz gelesen und das Herz einer Leiche gesucht, um | |
ein Fabelwesen zu besänftigen. Erzählungen und Bräuche geben dem, was nicht | |
erklärbar ist, einen Sinn. Dadurch allerdings geht auch der Anspruch auf | |
Wahrheit verloren. In einer Episode über den Tiger präsentiert Natalia | |
selbst mehrere Versionen der Geschichte, um schließlich festzustellen, | |
welche ihr davon am liebsten sei, und diese ausführlicher zu erzählen. | |
Auch Natalia, die als Ärztin und wie ihr verstorbener Großvater dem | |
rationalen, naturwissenschaftlichen Denken verpflichtet ist, muss ihre | |
Version der Wirklichkeit überdenken: Sie begegnet dem Neffen des Todes, | |
Gavran Gailé. Und er, der weder in ihres noch in das Weltbild ihres | |
Großvaters gepasst hatte, scheint sie eines Besseren zu belehren. | |
24 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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