# taz.de -- Desillusionierung in Frankreich: Sehnsucht nach dem großen Kampf | |
> Wo sind die Intellektuellen geblieben, die sich vor fünf Jahren in den | |
> französischen Wahlkampf gemischt hatten? Die Unterstützer Nicolas | |
> Sarkozys bleiben fern. | |
Bild: Nicht nur er hat jetzt seine Zweifel: Der frühere Sarkozy-Befürworter A… | |
Vor fünf Jahren spielte André Glucksmann für seinen Freund Nicolas Sarkozy | |
an der Seite von Mireille Mathieu die Rolle des Wahlhelfers. An einem | |
Meeting am 7. März 2007 applaudierte der Pariser Intellektuelle mit seiner | |
unverwechselbaren Pilzkopffrisur in der vordersten Reihe des Publikums. | |
Er war zum Aushängeschild der „Néocons“ geworden. Gemeint damit waren, wie | |
in den USA, die „Neokonservativen“, die von links, meist vom Maoismus der | |
68er, über die Totalitarismuskritik ins „neokonservative“ Lager gestoßenen | |
Intellektuellen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem | |
Marxismus-Leninismus auch die Kapitalismuskritik beerdigt haben. | |
In Frankreich klingt die Abkürzung allein schon wie eine zynische Replik | |
von links, denn „con“ (Blödmann) ist eine gängige Beschimpfung. Das Etike… | |
war darum nicht schlecht gewählt nach Meinung all derer, die damals und | |
anschließend bloß erstaunt den Kopf schütteln konnten über die plötzliche | |
Begeisterung einiger Pariser Salonphilosophen wie Glucksmann, Bruckner oder | |
Finkielkraut für den konservativen Präsidentschaftskandidaten Sarkozy. | |
## „Ich bin nicht enttäuscht, sondern kritisch“ | |
Für manche prominente Sarkozy-Anhänger der ersten Stunde war dessen | |
Amtszeit eine Desillusionierung. Von ihnen hört man in diesem Wahlkampf | |
nichts. Glucksmann dagegen meint in einem Interview mit Libération mit | |
einem Rest von Sympathie: „Ich bin nicht enttäuscht, sondern kritisch.“ | |
Besonders hinsichtlich des Verkaufs von Kriegsmaterial an Moskau oder wegen | |
der Ausländerpolitik: „Die Ärmsten der Armen anzugreifen, ist ein | |
fragwürdiges und unnötiges Wahlkalkül.“ Glucksmann sagt, er wisse nicht, ob | |
er nochmals Sarkozy seine Stimme geben werde. Öffentlich aber unterstützt | |
er ihn nicht. Er habe vergeblich auf eine Selbstkritik gewartet. | |
Für andere kam die Enttäuschung weniger überraschend. Der Philosoph Pascal | |
Bruckner gesteht, er habe 2007 gezögert, im ersten Wahlgang für die | |
Sozialistin Ségolène Royal gestimmt, aber im zweiten für Sarkozy. Was er | |
schon nach der schockierenden Feier des Wahlsiegers im Nobelrestaurant | |
Fouquet’s im Kreis von Milliardären bedauerte. „Als Alain Finkielkraut am | |
Tag danach kam und sagte, Sarkozy habe Schande über uns gebracht, sagten | |
wir uns: So ein Mist, er hat recht.“ | |
## Argwohn von früheren Unterstützern | |
Bestätigt in ihrem Argwohn wurden sie, als Sarkozy nach der als Show | |
inszenierten Befreiung der bulgarischen Krankenschwestern auch noch den | |
Diktator Gaddafi mit Pomp und Ehren in Paris empfing. „Ich werde heute ohne | |
Enthusiasmus (den Sozialisten) Hollande wählen“, sagt Bruckner. „Er ist ein | |
intelligenter Mann.“ | |
Umgekehrt hat sich Bernard-Henri Lévy, der 2007 der Sozialistin Ségolène | |
Royal als Wahlberater gedient hatte, dieses Mal (noch) nicht für Hollande | |
eingesetzt. Eigentlich steht ihm Sarkozy näher, mit diesem verbindet ihn | |
eine Waffenbruderschaft aus dem Krieg gegen Gaddafi, doch politisch trennen | |
sie Welten. | |
Ins Lager der Stimmlosen oder eher Nichtstimmenden ist der „extrem linke“ | |
Philosoph Michel Onfray gegangen. Er erhofft sich nichts von einem Sieg der | |
allzu gemäßigten Linken: „Mit Hollande bleiben Europas liberale Kühe gut | |
gehütet.“ Die von praktisch allen als unausweichlich erachtete | |
Budgetdisziplin angesichts der Schuldenkrise scheint nicht zu inspirieren. | |
2012 ist ein Wahlkampf von Buchhaltern und nicht von Philosophen. | |
## „Was geschieht eigentlich? Nichts.“ | |
Die Enttäuschung schlägt sich auch im Kampagnen-Tagebuch des bekannten | |
Soziologen Alain Touraine („Carnet de campagne“, Ed. Robert Laffont) | |
nieder. „Was geschieht eigentlich?“, fragt sich Touraine darin. „Nichts. … | |
fehlt ein großer politischer Kampf, wie wir ihn zwischen Valéry Giscard | |
d’Estaing und François Mitterrand erlebt hatten.“ Der Wahlkampf beschränkt | |
sich seiner Meinung nach auf persönliche Angriffe. | |
Der „Anti-Sarkozysmus“ ist ihm zufolge sogar die größte „Partei“ | |
Frankreichs geworden. Frustriert ist er auch von der ihm bisher | |
nahestehenden Linken, seit diese mit den exemplarischen Primärwahlen im | |
Herbst es wieder möglich gemacht hatte, „die Politik wieder zu lieben“. | |
Jetzt aber mache sich in diesem Frankreich, das immer noch philosophische | |
Ideen produzierte, aber politisch träge sei, nur „Mangel an Vertrauen | |
gegenüber der Politik schlechthin“ breit. | |
In seinem neuesten Buch („Les ennemis intimes de la démocratie“) fragt sich | |
der Historiker Tzvetan Todorov angesichts der Pervertierung des | |
Freiheitsbegriffs durch den Populismus und den Ultraliberalismus in Europa, | |
ob nicht die Demokratie im Kern durch eine gewisse „Maßlosigkeit“ gefährd… | |
sei, wenn das Volk zu einer „manipulierbaren Masse“ und der Wunsch nach | |
Fortschritt zu einem xenophoben „Kreuzzuggeist“ verkomme. | |
11 Apr 2012 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
## TAGS | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Schwerpunkt Frankreich | |
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