# taz.de -- Neues Buch von Alain Finkielkraut: Die zerquetschte Identität | |
> Frankreich debattiert mit dem Kulturpessimisten über den alten Geist der | |
> Nation. Mit seinem neuen Werk nähert er sich den Parolen des Front | |
> National. | |
Bild: Vertreter der Nouvelle Philosphie: Alain Finkielkraut. | |
Der 1949 geborene Philosoph Alain Finkielkraut gehört mit Bernard-Henri | |
Lévy zu jener Handvoll französischer Medienintellektuellen, die das | |
Publikum seit etwa 30 Jahren mit wenigstens einem Buch pro Jahr beglücken. | |
Es ist ruhiger geworden um diese Leute, weil sich das Publikum für deren | |
Eitelkeitspirouetten nicht mehr so interessiert wie früher. | |
Lévy ist deshalb vom Bücherschreiben auf Frontalinterventionen im Fernsehen | |
umgestiegen und fordert nun live von den Kriegs- und | |
Bürgerkriegsschauplätzen aus – aus Libyen, Ägypten, Syrien und der Ukraine | |
– das ultimative Eingreifen der westlichen Staaten. | |
Alain Finkielkraut dagegen ist, wenn man von seinen Beiträgen für Radio | |
France Culture und für Radio Communautaire Juive (RCJ) absieht, beim | |
Bücherschreiben geblieben und landete zuletzt mit „L’identité malheureuse… | |
(Die unglückliche Identität) einen Bestseller, über den seit Monaten in | |
allen Medien debattiert wird. | |
Finkielkraut fängt moderat an mit der These, als er geboren worden sei, | |
wäre „die Geschichte noch Trägerin von Sinn gewesen“. Mit diesem Pathos | |
ziemlich alter Geschichts- und Lateinlehrer hat es jedoch ein schnelles | |
Ende. Finkielkraut wechselt ins Fach des konservativen Kulturpessimisten: | |
Heute ist alles „käuflich“ – auch Bäuche von Leihmüttern; „Werbung“ | |
dirigiert in Radio und Fernsehen das Programm, „Politik“ reduziert sich auf | |
„Wachstum“. Ergo: „Wir sind vereinnahmt worden.“ | |
## Akademische Dekoration | |
Worum es sich bei diesem „Wir“ handelt, wird zunächst nicht deutlich. Doch | |
bald stellt sich heraus, dass damit „die“ Franzosen gemeint sind. Da | |
Finkielkraut – gegen alle empirische Evidenz – davon ausgeht, Frankreich | |
sei um 1972 „noch eine homogene Nation“ gewesen, kommen als Gegner dieses | |
„Wir“ nur jene in Frage, die später hinzukamen: die Einwanderer. In dem | |
Maße, wie „Europa zum Einwanderungskontinent verkam“, wurden aus Citoyens | |
„Arbeiter-Konsumenten“. Damit war der Weg frei zum Umbau der Kulturnation | |
in ein Land von Unterhaltungsindustrie, Sportevents, Jeans, Sodawasser, | |
Kopftüchern, Hosen tragenden Frauen („désexualisation“), Pluralismus, | |
Flegelhaftigkeit („muflerie“) und Gleichmacherei. | |
Damit nähert sich der konservative Kulturkritiker den Parolen der radikalen | |
Rechten des Front National. Aber als Intellektueller geht Finkielkraut | |
einen Schritt weiter, indem er den ordinären Nationalismus und Chauvinismus | |
der Rechtsradikalen akademisch dekoriert. Finkielkrauts „Wir“, das heißt | |
„die“ Franzosen, „fühlen sich nicht mehr bei sich selbst“, sie verlier… | |
ihre „identité commune“, weil sie einem permanenten Prozess der | |
„Entidentifizierung“ (désidentification) unterworfen sind. | |
Wie bei den notorischen Reaktionären und Gegnern von Liberté, Égalité und | |
Fraternité von Edmund Burke über Joseph de Maistre bis zu Maurice Barrès | |
gibt es auch für Finkielkraut keine Menschenrechte, sondern nur „vererbte | |
Gesetze“, keine Menschen, sondern nur Franzosen, Italiener, Russen und | |
andere Fremde. Kurz: „Es gibt keine auf alle Menschen anwendbare Regel“ | |
(Finkielkraut). Und als ob der Zufall des Geburtsorts für irgendetwas | |
bürgte, spricht er von „Abstammungslegitimität“. | |
## Trübe Einsichten | |
Zwar sieht er die Gefahren „gemeinsamer Identität“ – „die Dämonen der | |
Identität“ –, aber er beschäftigt sich nicht mit den Mystifikationen von | |
Blut, Boden, Herkunft und Nationalität, sondern relativiert jene Gefahren | |
mit Hinweis, es gebe auch „Dämonen des Universellen“. Finkielkraut | |
erläutert seine trüben Einsichten gern mit Beispielen aus der Schulpolitik. | |
Gleichsam als deren Sündenfall betrachtet er den Rückzug eines Gesetzes, | |
mit dem im Jahr 2005 „die positive Rolle der französischen Präsenz“ in | |
Übersee – besonders auch in Afrika – festgeschrieben werden sollte. | |
Resignierend stellt er dazu fest: „Frankreich füllt nicht mehr das Bild, | |
sondern wird zum Rahmen.“ Aus der Nation werde eine „auberge espagnole“, | |
eine primitive Unterkunft, und „die Franzosen“ fühlten sich wegen der | |
Einwanderer „fremd auf ihrem eigenem Boden“, was man auch daran ablesen | |
könne, dass man heute weder Russe noch Italiener sein müsse, um sein | |
eigenes Kind Dimitri oder Matteo zu nennen. Finkielkrauts Eltern, | |
Einwanderer aus Polen, tauften den Sohn Alain? | |
Finkielkraut bläst mit rhetorischen Fragen Öl ins Feuer identitätspolitisch | |
angeheizter Konflikte: „Wir sind der Andere des Anderen. Und hat dieser | |
Andere nicht das Recht, zu sein und sein Sein zu bewahren“ sowie „die | |
Auslöschung seines Gesichts“ zu verhindern? | |
## Konservative Lebkuchenreserve | |
Der Autor fragt nur, um die Selbstverständlichkeit der Antwort mit einem | |
Alarmruf zu versehen: „Wir machen die Entdeckung unseres Seins unter dem | |
Schock der Pluralität“, – so als ob sich Frankreich und Franzosen, mit | |
aller Selbstgewissheit, mit der sie sich seit Jahrhunderten zu Recht und zu | |
Unrecht inszenieren, eben erst entdecken würden. | |
Mit düsteren Prophezeiungen dramatisiert Finkielkraut die Lage. „Die Welt“ | |
der Montaigne, Pascal, Voltaire und Rousseau ist „verschwunden“, | |
„Gegenwärtigkeit und Interaktivität der neuen Medien haben die nationale | |
Identität zerquetscht“. Wo „früher Literatur“ war, gibt es heute „Com… | |
Mails und Informationen“ anstelle des „alten Geistes der Nation“. | |
Rettung steht nicht in Aussicht, allenfalls konservative Lebkuchenverse: | |
„Zurück zu den Quellen“ und „Bewundern kommt vor dem Begreifen“. | |
Gelegentlich scheut der Autor auch das Kostüm einer viktorianischen | |
Gouvernante nicht – etwa wenn er beklagt, von den Wetterberichten bis zu | |
den Filmuntertiteln erobere „das Wort Scheiße alles“. Wirklich alles? Auch | |
Identitätsbeschwörer? Kürzlich erfolgte die Wahl Finkielkrauts in den Kreis | |
der „Unsterblichen“ der Académie française. | |
11 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Rudolph Walther | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Frankreich | |
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