Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Breivik-Prozess in Oslo: Dieses verdammte Lächeln
> Obwohl sie auf den Prozess vorbereitet wurden, ringen die Angehörigen der
> Opfer um Fassung. Vor allem, wenn Breivik den Arm zum nationalistischen
> Gruß streckt.
Bild: Gelächter des Grauens: Anders Behring Breivik.
OSLO taz | Für die Anwesenden ist es ein Schlag in die Magengrube, als der
Angeklagte den rechten Arm streckt und mit geballter Faust das Gericht
grüßt. Danach lächelt er – und lässt alle im Tinghus, dem Osloer
Gerichtsgebäude, verwirrt zurück.
Es sind unbegreifliche Szenen für alle, die den Prozessauftakt gegen Anders
Behring Breivik im Osloer Amtsgericht verfolgen. Der 33-jährige Norweger
steht wegen der Anschläge in Oslo und auf der Insel Utoya vor Gericht –
dabei waren im vergangenen Jahr 77 Menschen getötet worden. Das ist noch
nicht einmal ein Jahr her.
Die Art und Weise, wie der Attentäter auftritt, ruft heftige Reaktionen
hervor. Die Angehörigen der Opfer weinen, andere Zuschauer schlucken und
auch die Gesichter der routiniertesten Gerichtsreporter sind geprägt von
Abscheu, Schmerz und einer Spur Ekel.
## Ausnahmsweise bewaffnet
An vielen Orten im Zentrum Oslos hängen frische Rosen, Symbol der
Solidarität mit den Opfern der Anschläge im Juli 2011. Auch am Eingang des
Tinghus sind einzelne Rosen an den Absperrungen befestigt. In dem Moment,
in dem Presse und Zuschauer die Sicherheitsschleuse passieren, offenbart
sich der Ernst der Situation: Wachen stehen vor den großen Türen des
Gerichtssaals, ausgerüstet mit Maschinenpistolen. Ein seltener Anblick in
einem Land, in dem die Polizei traditionell unbewaffnet ist.
In den Stunden vor Prozessbeginn strömen viele Hinterbliebene und Freunde
der Getöteten die Treppen hinauf. Ihre Gesichter sind bedrückt. Einige
wenige finden Platz auf den Zuschauerbänken im Gerichtssaal selbst. Die
meisten jedoch sitzen in einem anderen großen Saal mit Videoübertragung.
Dort können die Opfer-Anwälte trösten und helfen - wenn zynische
Rechtfertigungen, krude Argumente und Hasstiraden aus dem Mund des Täters
kommen.
Diesen Trost brauchen sie bereits wenige Minuten, nachdem Breivik den Saal
betreten hat. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, in den wenigen
Minuten, in denen die Kameras zugelassen sind, im Gerichtssaal seinen
selbstgebastelten, nationalistischen Gruß zu zeigen. Jedes Mal geht ein
Zusammenzucken durch die Reihen, viele wenden den Blick zu Boden, es
herrscht Hilflosigkeit. Mit der Zeit wissen die Zuschauer, dass diese kurze
hasserfüllte Geste kommen wird. Mit durchgedrückten Schultern versuchen sie
sich zu wappnen.
## „Aus Güte, nicht aus Boshaftigkeit“
Verletzender als diese Geste sind jedoch die Worte der ersten zwei
Gerichtstage: Seit dem ersten Haftprüfungstermin nach dem Massaker und dem
Bombenanschlag hat Breivik darum gebeten, eine Rede halten zu dürfen. 1.500
Seiten umfasste sein Manifest. Bisher hatte Richterin Wencke Elisabeth
Arntzen dieses Ansinnen abgelehnt, bis zum Dienstag dieser Woche, dem Tag,
an dem Breivik erstmals aussagt. Doch die Summe seiner einzelnen Ausfälle
zuvor hat dazu geführt, den Gerichtssaal in die ersehnte Rednertribüne zu
verwandeln.
Am Dienstag, dem zweiten Prozesstag, verliest Breivik ein Manuskript, in
dem er den Massenmord an den Teilnehmern des sozialdemokratischen
Jugendlagers auf Utoya - die er in seiner Rede mit der „Hitlerjugend“
gleichsetzt - als notwendiges Mittel bezeichnet, um „das Gute“ zu
erreichen: in seinen Augen einen Bürgerkrieg im multikulturellen Norwegen
verhindern und die Gefahr der Islamisierung abwenden. Er habe „aus Güte,
nicht aus Boshaftigkeit“ gehandelt, trägt Breivik ungerührt vor, und - er
würde „es wieder tun“. Gegen den Vorwurf einer narzisstischen
Persönlichkeitsstörung verwahrt er sich.
Die Führung der AUF – der sozialdemokratischen Jugendorganisation Norwegens
– sitzt während Breiviks Einlassung mit versteinerten Gesichtern auf der
Zuhörerbank. Sie haben sich vorbereitet, vorher geübt, um dies aushalten zu
können. Einige zucken, als aus Breiviks Mund die verqueren Argumente
kommen. Der Angeklagte sitzt mit dem Rücken zu ihnen - im Zeugenstand.
Deshalb recken sie die Hälse und drehen sich in Richtung Videowand. Sie
zeigt das Gesicht des Mörders. Ihre eigenen Gesichter - geprägt vom Schmerz
- zeigen Abscheu.
In der Sitzungspausen nach Breiviks Auslassungen eilen viele Jugendliche
die Treppe hinab, durch die Sicherheitsschleuse hinaus auf die Straße. Sie
suchen Raum, brauchen Luft, um die schmerzhaften Eindrücke loszuwerden, zu
reflektieren.
## Keine Interviews, bitte!
Im großen Gemeinschaftsbereich unterhalb des Gerichtssaals drängen und
drängeln sich währenddessen norwegische und ausländische Presseteams, auf
der Jagd nach Bildern - eine Belastung für die Jugendlichen, die ihre
Freunde verloren haben. Die meisten von ihnen bleiben auf Abstand und
meiden die Presse. Viele Jugendliche haben einen kleinen Aufkleber auf die
Brust geklebt, mit einem Hinweis auf Englisch: „No interwievs please“ -
bitte keine Interviews. Ihrer Bitte wird im Großen und Ganzen Folge
geleistet. Stattdessen interviewt die Presse ihre eigenen Kommentatoren und
mitgebrachte Experten.
Der Ernst der Situation ist auch bei den Journalisten zu spüren. Der erste
Prozesstag am Montag wird live im Fernsehen und im Internet übertragen.
Dann kommt das Filmverbot. Für die nächsten Porzesstage wird die Presse
unvermeidbar zu einer Art Filter. Sie wird darüber berichten, was Breivik
sagt.
„Wwir können doch nicht alles erzählen, das ist einfach zu heftig“, sagt
ein Kollege seufzend. In den Pausen stehen die Journalisten im Gespräch
zusammen, gemeinsam versuchen sie, die Kodes zu knacken. Sie sind der
Kanal, über den Breivik seine große Verteidigungsrede und Abrechnung mit
der multikulturellen Gesellschaft Norwegens vermittelt.
Es liegt in der Natur der Sache, dass erfahrene Gerichtsreporter einen
neutralen und professionellen Blick auf die Sache herstellen können. Aber
jetzt sitzen sie da, zeitweilig steht ihnen der Ekel während Breiviks Rede
förmlich ins Gesicht geschrieben. Oder sie reagieren mit Ungläubigkeit,
wenn er plötzlich seinen Charakter zu verändern scheint - und versucht, wie
ein normaler Norweger zu wirken.
Die Rechtsvertreter - allen voran Richterin Wenche Elisabeth Arntzen –
begegnen Breivik im Gerichtssaal mit abwartender Kühle. Und zurückhaltender
Professionalität. Breivik trägt an den ersten Tagen im Gerichtssaal einen
dunklen Anzug, dazu eine beige Krawatte, das Haar ist gegelt - er
präsentiert sich wie ein ordentlicher Bürger.
Anwälte, Richter, Journalisten, Gerichtspsychiater, Zuschauer, sie alle
sind Zeuge absurder Extreme und Wandlung geworden: Breiviks hasserfüllte
programmatische Rede am Dienstagvormittag - und seine weichgespülte Version
bei der anschließenden Befragung. Alle Zuhörer im Saal haben Probleme mit
dem Lächeln. Dieses Lächeln, das manchmal das Infame verkörpert und andere
Male Breivik dazu dient, seine Person zu entdämonisieren.
## Kleinbürgliches Outfit
Im Zeugenstand sitzt er zeitweise wie ein normaler junger Bürger aus dem
Westteil der Stadt Oslo. Dort wo man gebildet spricht und gelernt hat, was
sich gehört und was nicht. Er wirkt durchdacht und reflektiert. Die
Anklageseite hat versucht, Konflikte zu vermeiden – und ihn zwischen seinen
Auslassungen befragt. Dennoch verbleibt die Stimmung angespannt.
Die Zuschauer runzeln die Stirn oder ziehen die Augenbrauen hoch, wenn
Breivik sich im Zeugenstand aufführt wie ein Interviewpartner in einer
Talkshow. „Er wirkt beinahe so, als hätte er ein Medientraining
durchlaufen, mit seiner Wohlformuliertheit und seinem kleinbürgerlichen
Auftreten“, kommentiert ein Gerichtsreporter anschließend trocken.
Breivik betritt den Saal jeden Tag mit Handschellen - und ist die ganze
Zeit umgeben von fünf Polizisten in seiner unmittelbaren Nähe. Diese Fünf
symbolisieren die Zeit nach dem Prozess: Anders Behring Breivik wird für
alle Ewigkeit weggeschlossen werden, der Überwachung durch die Polizei
unterliegen. Dies ist der Trost für die Opfer und Hinterbliebenen.
Wenn sie das Tinghus verlassen, begegnen ihnen in diesen Tagen an vielen
Orten in der Stadt Rosen. Sie sagen selbst, dass es ihnen gut tut. Und dass
es ein kleiner Trost ist, nach der Wiederbegegnung mit dem „schwarzen
Freitag“, dem Schreckenstag des 22. Juli. im Tinghus.
Aus dem Norwegischen von Julia Stöber. Per Anders Hoel ist
Parlamentskorrespondent der Zeitung Vårt Land in Oslo
19 Apr 2012
## AUTOREN
Per Anders Hoel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Breivik-Prozess in Oslo: Mann zündet sich vor Gericht an
Während im Saal Überlebende des Breivik-Massakers von den Ereignissen auf
Utøya berichten, zündet sich vor Gericht ein Mann selbst an. Er kommt mit
schweren Verletzungen ins Krankenhaus..
Anders Breivik vor Gericht: Attentäter doch unzurechnungsfähig?
Das Gutachten, das Anders Breivik als zurechnungsfähig erklärt, wird
fachlich als nicht sachgerecht eingestuft. Experten fordern eine
Überarbeitung des Gutachtens.
Prozess gegen Anders Breivik: Entschuldigung für einige Opfer
Anders Breivik hat sich bei einem Teil seiner Opfer entschuldigt. Die
Ermordung der Jugendlichen auf der Insel Utøya hält er noch immer für
notwendig.
Prozess gegen Breivik: „Ich habe mich entmenschlicht“
Anders Breivik hat sich für seinen Massenmord von Al-Qaida inspirieren
lassen, sagt er. Vor Gericht erzählt er von jedem einzelnen Mord und sagt,
er habe trainiert, um abzustumpfen.
Breivik-Debatte im Netz: Rassistischer Wahnsinn in einer Person
Der Breivik-Prozess erregt die Gemüter: Bilder zeigen oder nicht? Berichten
oder ignorieren? Auch im Netz gehen die Meinungen weit auseinander.
Kommentar Prozess Breivik: Das Recht der Täter
Breiviks Tiraden anzuhören, werden Angehörige der Opfer und alle anderen
aushalten müssen. Die Berichterstattung über den Prozess eindämmen zu
wollen, ist ein Trugschluss.
Presseverantwortung im Breivik-Prozess: „Sind wir tanzende Marionetten?“
Die Norweger debattieren über die Grenzen der Informationspflicht. Wann man
Gefahr läuft, das PR-Geschäft des Attentäters zu erledigen – daran scheiden
sich die Geister.
Prozess gegen Attentäter in Oslo eröffnet: Breivik beruft sich auf Notwehr
In Norwegen hat das Gerichtsverfahren gegen den Attentäter von Oslo und
Utöya begonnen. Ein rechtsradikales Netzwerk, auf das er sicht selbst
beruft, gibt es laut Staatsanwaltschaft nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.