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# taz.de -- Debatte das Schlagloch: Die europäische Krankheit
> Beim jetzigen Rassismus handelt es sich nicht um ein spezifisch
> deutsches, sondern ein paneuropäisches Phänomen. Eine transnationale
> Solidarität in Europa gibt es nicht.
Vielleicht bin ich ein Spätzünder. Aber als Marine Le Pen vor zwei Wochen
fast 18 Prozent der Stimmen bei der französischen Präsidentschaftswahl
erhielt, dämmerte es endlich auch mir.
Nicht etwa bloß, dass Europa insgesamt einem Rechtsruck verfallen ist, wie
wir ihn uns noch vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen können. Sondern
vor allem, dass all die Heilmittel, die wir deutschen Multikulturalisten
gern gegen den Rassismus empfehlen, anscheinend keine Heilmittel sind, weil
sie ja dem Rassismus in den Nachbarstaaten keinen Einhalt gebieten.
Ein paar Beispiele: In Frankreich wurde den Angehörigen der Kolonialstaaten
frühzeitig die Annahme der französischen Staatsbürgerschaft erleichtert,
und für Kinder der zweiten Generation gilt beim Erwerb der
Staatsangehörigkeit das ius soli (Geburtsortprinzip). Das wirkt zunächst
progressiver als das in Deutschland bevorzugte ius sanguinis
(Abstammungsprinzip). Bloß gegen Le Pen, und Sarkozys Islamfeindlichkeit
und Antiziganismus hilft es nichts.
Zudem könnte man meinen, dass die Islamfeindlichkeit im laizistischen
Frankreich ganz anders daherkommen müsste als bei uns, wo Politiker in
öffentlichen Reden ungeniert an christliche Menschenbilder und Traditionen
appellieren. Doch die Islamfeindlichkeit ist dieselbe, und das Kopftuch
gilt jenseits des Rheins als so unfranzösisch, wie es diesseits, im
christlich regierten Land der Pfarrer und Pfarrerstöchter undeutsch ist.
## „Ausschaffung“ in der Schweiz
Österreich hat aus der Zeit der multiethnischen k. und k. Monarchie
Religionsgesetze übernommen, die eine Anerkennung des Islam als
Religionsgemeinschaft ermöglicht haben; das tut den islamophoben Parolen
der ÖVP keinen Abbruch. Das Nachbarland Schweiz scheint zunächst komplett
anders gestrickt zu sein, schließlich eint die Eidgenossenschaft ja „nur“
ein Gründungsmythos, und vier Amtssprachen suggerieren Multiethnizität.
Trotzdem kam es zu Minarettverbot, aggressiven Kampagnen zur „Ausschaffung“
(Abschiebung) und 26 Prozent Wählerstimmen für die SVP.
Spanien wiederum ist das einzige europäische Land, von dem einst ein
nennenswerter Teil unter islamischer Herrschaft gestanden hat. Das Ende der
Mauren in Spanien bedeutete unter anderem eine Vertreibung der dort
ansässigen Juden. Und was hat Spanien daraus gelernt? Nichts.
Islamfeindlichkeit und Antisemitismus sind dort, im europäischen Vergleich,
mit am größten.
Das einzige europäische Land, in dem die Fremdenfeindlichkeit noch nicht
jeden Kampf um Wählerstimmen begleitet, scheint Großbritannien zu sein.
Dies könnte sich diversen, durchaus kontingenten Umständen der Kolonial-
und Einwanderungsgeschichte verdanken, und eventuell wäre dies dann der
einzige Impfstoff gegen Rassismus: dass ein relevanter Teil der
kulturschaffenden Milieus, der Wirtschaft und Politik den Nachfahren der
Kolonisierten, also dem Pool der einst „Fremden“ entstammt.
Ich gebe zu, dass diese These auf dünnen Beinen steht – unter anderem, weil
ja gerade der Aufstieg in diese Mittelschicht nicht reibungslos
vonstattengeht, sondern selbst von einem Erstarken des Rassismus begleitet
werden kann. Wie Birgit Rommelspacher sinngemäß sagte: Das Kopftuch hat
niemanden gestört, solange es nur Putzfrauen trugen. Erst wenn
Rechtsanwältinnen eins tragen, geht man auf die Barrikaden.
## Angst vor dem eigenen Abstieg
Zudem haben wir in Deutschland natürlich sofort den Verlauf des 19.
Jahrhunderts vor Augen. Endlich hatten die deutschen Juden die vollen
Bürgerrechte erhalten; doch während sie aufstiegen, nahm der Antisemitismus
zu. Götz Aly sieht gerade im wirtschaftlichen Erfolg der Juden und in ihrer
Fortschrittsfreudigkeit einen Treibstoff des Antisemitismus.
Oder motiviert den Rassismus vielleicht nicht der bereits vollzogene oder
sich vollziehende Aufstieg der Minderheiten, sondern vorrangig die Angst
der Autochthonen vor dem eigenen Abstieg? So lesen sich die Forschungen von
Wilhelm Heitmeyer und seiner Gruppe zum Einstellungswandel der
verunsicherten Mittelschicht.
All diesen Überlegungen ist gemein, dass sie die Hauptursachen des
Rassismus in sozialem Neid und ökonomischer Konkurrenz sehen; andere
analysieren verstärkt die kulturellen und diskursiven Muster des Rassismus.
Und angesichts all dieser vielfältigen Erklärungsmöglichkeiten mag es einem
manchmal einfach scheinen, als ob es sich bei der Abwehr des „Fremden“ um
einen gleichsam universellen Mechanismus handele, nach dem jedes
Gemeinwesen eines Gegenübers, jedes „Wir“ eines „Anderen“ bedarf, von …
es sich abheben kann. Handelt es sich beim Aufstieg der Rechten vielleicht
um eine Art kaum zu erklärender Epidemie, die in Europa gerade auf einen
„Tipping-Point“ (Malcolm Gladwell) zusteuert?
## Das Eigene und das Fremde
Was die Ursache für den Ausbruch auch sein mag, die Beispiele belegen, dass
es sich bei dem momentanen Rassismus nicht um eine spezifisch deutsche,
sondern eine paneuropäische Krankheit handelt. Auffällig dabei ist, dass
sich die Symptome jeweils einen nationalen Anstrich geben: „Wir wollen
unsere Werte behalten und dass Frankreich Frankreich bleibt“, sagte Sarkozy
kürzlich bei einem Wahlkampfauftritt. Das sind Textbausteine, die jeder
rechte europäische Redner verwenden kann, indem er nur sein eigenes Land
einsetzt.
Und doch richtet sich dieser Nationalismus nicht wie früher gegen andere
europäische Nationen, sondern gegen ein gemeinsames, vermeintlich
nichteuropäisches Außen – in Form von Muslimen, Juden und Roma. Die
Überzeugung, das jeweils „Eigene“ müsse gegen die kulturelle und
ökonomische Zersetzung durch solches „Fremde“ verteidigt werden, wird
klammheimlich zum kleinsten gemeinsamen Nenner europäischer Staaten. Ob wir
in Europa bereits eine transnationale Solidarität entwickelt haben? Ist zu
bezweifeln. Doch eins wird man unserem Kontinent nicht abstreiten können:
dass er das paradoxe Phänomen eines transnationalen Nationalismus generiert
hat.
2 May 2012
## AUTOREN
Hilal Sezgin
## TAGS
Feminismus
Schwerpunkt Fußball-EM 2024
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