# taz.de -- Wahl in London: Boris-Land und Ken-Hausen | |
> Der Konservative Boris Johnson und der Labour-Mann Ken Livingstone stehen | |
> für getrennte Teile und Schichten der Stadt London. Westen - Osten, oben | |
> - unten. | |
Bild: Noch-Bürgermeister Johnson würde sich ärgern, wenn all die PR-Arbeit z… | |
LONDON taz | Zwischen einer verfallenden Autowaschstation und einer | |
Shisha-Bar steht die Labour Partei. Es ist ein farbloser, verhangener | |
Vormittag und der Wind bläst über die nasse Straße im Norden Londons im | |
Stadtteil Finsbury Park. Rund zehn Labour-Aktivisten sind, mit Schirmen und | |
verpackt in Outdoorjacken, gekommen, um Wahlkampf zu machen. Jemand | |
verteilt rote Klemmbretter und packenweise Briefumschläge. | |
Gleichzeitig, nur etwa vier Kilometer weiter westlich und mit blauen | |
Klemmbrettern, steht die Konservative Partei unter dem Vordach und vor den | |
breiten Scheiben eines geräumigen und vornehmen Supermarkts. Zusammen mit | |
den Konservativen macht sich an diesem Vormittag Giovanni Spinella auf den | |
„Campaign Trail“. Der Halbitaliener ist Stadtrat in Nordlondon. „Die | |
Bürgermeisterwahl ist eine turnout election“, sagt er. Das bedeutet: Wer es | |
schafft, seine Klientel an die Urne zu bringen, gewinnt. | |
In London gibt es Ken- und Boris-Stadtteile. Die Grenze verläuft zwischen | |
den beiden Gruppen mit den roten und den blauen Klemmbrettern. Im Osten und | |
in der Innenstadt wohnen die Wähler des Labour-Kandidaten Ken Livingstone, | |
im Westen und in den Außenbezirken die Wähler des Kandidaten der | |
Konservativen, Boris Johnson. Ken-Hausen und Boris-Land. Für beide gibt es | |
auf der jeweils anderen Seite nichts zu holen. | |
Das Ziel der konservativen Wahlkämpfer an diesem Morgen ist daher das | |
Viertel Belsize Park. Vor den Häusern führen breite Treppen hinauf zu | |
Haustüren zwischen Säulen, saubere Autos parken neben Vorgärten. „Viele | |
Leute hier sind von Haus aus konservativ“, sagt Spinella. Es seien generell | |
Leute mit Erwartungen, Ansprüchen und Ehrgeiz. | |
Sie arbeiteten als Banker, Anwälte oder in anderen mittelständischen | |
Berufen. Sie wohnten nicht in Sozialbauwohnungen, hätten außer bei der | |
Krankenversicherung nichts mit dem Sozialsystem zu tun und seien | |
prinzipiell nicht vom Staat abhängig, sagt Spinella. Das ist Boris-Land. | |
## Das Ken-Land besteht aus nacktem Beton, Kacheln und Platten | |
Im Ken-Stadtteil gibt es keine prächtigen Säulen. Die Wände bestehen aus | |
nacktem Beton, Kacheln oder Platten. An der Hauptstraße reiht sich ein | |
Gemüsekiosk an ein Stoffgeschäft an einen Sandwichladen. Dahinter liegt der | |
Sozialbaublock Six Acres Estate. Den läuft Ben Folley mit seiner Gruppe von | |
vier Labour-Mitstreitern ab. „Hier ist Kens Kernland“, sagt er. Folley ist | |
30 Jahre alt, arbeitet bei der Kampagne für nukleare Abrüstung und kam als | |
Student zur Labour Partei. Heute gehe es darum, die Wähler rauszuklopfen | |
und an die Wahl zu erinnern. GOTV heißt das, Get Out The Vote. | |
Die fünf Labour-Wahlkämpfer verteilen sich über den Hausflur auf einem | |
Stockwerk und scheppern mit den in die Wohnungstüren eingelassenen | |
Briefkastendeckeln. Funktionierende Klingeln gibt es selten. „Hallo, wir | |
sind von der Labour Partei und kommen wegen der Wahlen diese Woche“, ruft | |
Folley. „Sie gehen doch wählen, oder nicht? Und, wählen Sie Labour?“ | |
Folley dreht schon zum dritten Mal in diesem Jahr diese Runde durch den | |
Stadtteil. Bei den ersten beiden Runden von Januar bis März hat er | |
Unterstützer identifiziert, Adressen gesammelt und so die Datenbank der | |
Partei aktualisiert. | |
Doch wer sind die Wähler? Einer von ihnen ist Ahmed Abdirashid. Dem | |
Somalier gehört das Café Imam am Six Acres Estate. Er hat kurz rasierte | |
schwarze Haare und einen vollen Bart. Unter den Leuchtstoffröhren ragen | |
Plastikblumen aus dem Thekenregal hinter ihm. Ein Mann betet in einer Ecke, | |
am anderen Ende des Raums zieht ein anderer einen Vorhang vor, als Separee | |
für die Frauen. | |
## In Ken-Hausen machen die Cons gar nicht erst Wahlkampf | |
„Ken soll zurückkommen, mit ihm waren alle froh“, sagt Ahmed. „Was haben | |
wir jetzt? Arbeitslosigkeit! Und der Wirtschaft und den kleinen Geschäften | |
geht es schlecht. Wenn du die Straße beobachtest, kannst du immer mehr | |
Leute sehen, die drüben beim Gemüsehändler nicht bezahlen. Die | |
Konservativen kümmern sich nicht um die Leute aus der Unterschicht.“ | |
Olympia, Banker oder Multikulturalismus interessierten Ahmed wenig. | |
Wirtschaft und Studiengebühren, darum ginge es ihm, auch wenn der | |
Bürgermeister dafür nichts könne. „Wenn ich vom Bürgermeister rede, dann | |
rede ich auch von der Regierung“, sagt Ahmed. Mit seiner Familie und fünf | |
Kindern wohnt er in Camden Town, einem Viertel, das als Labour-Land gilt. | |
Die Konservativen machen dort erst gar keinen Wahlkampf, es ist Ken-Hausen. | |
In so einem Labour-Viertel halten es manche gar nicht aus. „Ich hab da auch | |
mal gewohnt“, sagt Susanne Lyon. „Da kann man prima leben, wenn man | |
einbeinig, alleinstehend, schwarz und lesbisch ist.“ Das sei vielleicht | |
etwas übertrieben, aber für normale Leute sei so ein Viertel nichts. Die | |
60-Jährige arbeitet in der Verwaltung einer Londoner Universität in South | |
Kensington und wohnt jetzt in Westminster nahe am Kanal. | |
## Pragmatischer Clown | |
„Ich traue Ken nicht“, sagt sie. Lyon ist in den 80ern aus Australien nach | |
London gekommen und hat Ken noch als Bürgermeister des Großraums London | |
erlebt, bevor Thatcher das große Amt abgeschafft hat. „Damals sind einige | |
Dinge komisch gelaufen“, sagt sie. Wieso wolle Ken überhaupt wieder | |
antreten? Erst überwerfe er sich mit seiner Partei, dann vertrügen sie sich | |
wieder – „ich mag lieber gradlinige Leute“. Boris mache zwar manchmal den | |
Kasper, „aber er ist pragmatisch“. | |
Lyon wählt Boris als Bürgermeister, aber bei Parlamentswahlen stimmt sie | |
für Labour. Die Ungleichheit in London macht ihr Sorgen. Wenn sie heute zu | |
den Jungen gehörte, sagt sie, könnte sie sich zu den jetzigen Preisen ihre | |
Eigentumswohnung nicht mehr leisten. Das Klassendenken sei bei den Briten | |
noch immer präsent. „Selbst wenn Leute älter als vierzig sind, das Erste, | |
was mir manche an der Uni erzählen, ist, auf welcher Schule sie waren.“ | |
Wähler wie Susanne Lyon seien typisch, sagt der konservative Aktivist | |
Spinella. „Boris bringt die Mittelklasse hinter sich.“ Leute, die Grün | |
wählen für den Ortsbeirat und Labour fürs Parlament, wählten trotzdem Boris | |
zum Bürgermeister. „Boris Bonus“ nennen das Umfrageinstitute. Ken hingegen | |
gelte bei vielen als „Mann von gestern“. | |
Tatsächlich fehlt es dem Labour-Kandidaten an Unterstützung aus dem eigenen | |
Lager. „Ich glaube, vor allem junge Leute können sich mit ihm nicht | |
identifizieren“, sagt einer der Labour-Aktivisten in einem Hauseingang vom | |
Six Acres Estate. Es gehe ja heutzutage immer mehr um die Persönlichkeit. | |
„Ich würde sogar diesen Pfeiler hier wählen, wenn er unser Kandidat wäre. | |
Ich bin immer für Labour!“, sagt er. Doch die Menschen im Estate denken | |
anders. „Um sie zu überzeugen, sage ich ihnen, wie viel sie sparen können, | |
wenn sie Ken wählen“, sagt der Aktivist Folley. Den „Fare Deal“, das | |
Versprechen, dass Bus und U-Bahn nicht noch teurer werden, hat Ken zu den | |
zentralen Themen seiner Kampagne gemacht. | |
## Wer fehlt noch? | |
Ken wirbt mit billigem Nahverkehr und mehr Sozialwohnungen. Boris hingegen | |
hat sich in der britischen Politik unlängst dadurch hervorgetan, dass er | |
sich gegen eine Anhebung des Spitzensteuersatzes aussprach. Außerdem hat er | |
die City-Maut-Zone im Westen beschränkt. In Ken-Hausen und in Boris-Land | |
wirbt jeder Kandidat mit seiner Persönlichkeit und geldwerten Vorteilen um | |
seine Klientel. Jeder nennt hier den amtierenden Bürgermeister und seinen | |
Kontrahenten ganz selbstverständlich beim Vornamen. | |
Am Wahltag werden Aktivisten wie Giovanni Spinella und Ben Folley wieder | |
mit ihren blauen und roten Klemmbrettern in ihren Stadtteilen unterwegs | |
sein. Die Parteien locken die Wähler nicht nur mit Wahlversprechen an die | |
Urne, sie zählen auch, wer schon da war und wer noch fehlt. Vor den | |
Wahllokalen bitten die Parteien die Wähler um ihre Wahlkarten und führen so | |
Buch. Wer noch fehlt, bei dem wird dann – im Boris-Land – wieder geläutet | |
oder – in Ken-Hausen – am Briefkasten gescheppert. | |
2 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Johannes Himmelreich | |
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