# taz.de -- Griechische Regisseurin über „Attenberg“: „Arm sein und trot… | |
> Die griechische Regisseurin Athina Rachel Tsangari spricht über ihren | |
> neuen Film „Attenberg“, ihren begeisterten Voyeurismus und ihr Faible für | |
> Monty Python. | |
Bild: „Ich will das Klischee brechen, wie eine Familie zu sein hat und eine A… | |
taz: Frau Tsangari, bei der Weltpremiere von „Attenberg“ in Venedig schien | |
mir die eine Hälfte des Publikums begeistert, die andere befremdet. Haben | |
Sie eine Erklärung, woran das liegen könnte? | |
Athina Rachel Tsangari: Ich habe schon immer versucht, eine eigene | |
Filmsprache zu finden, die nie wirklich an der Realität orientiert ist. Ich | |
mache keine Experimentalfilme, arbeite aber auch nicht naturalistisch. | |
Stattdessen versuche ich, durch beide Welten zu tänzeln, ohne es mir | |
irgendwo gemütlich zu machen. Das ist eine schwierige Kombination. Die eine | |
Hälfte des Publikums findet offenbar, dass sie funktioniert, der anderen | |
gefällt es wohl nicht. Diese Form ist aber nicht das Ergebnis einer | |
bewussten Entscheidung, sondern entsteht ganz natürlich bei den Proben mit | |
meinen Schauspielern. | |
Vielleicht verwirrt die Zuschauer auch, dass die Figuren in „Attenberg“ so | |
ungewöhnlich sind. Sie verhalten sich völlig unvorhersehbar. | |
Mich interessieren Prototypen: der Prototyp des Vaters, der Tochter, des | |
Liebhabers, der besten Freundin. Diese vier Prototypen bilden zusammen | |
einen Kreis. Ich will das Klischee brechen, wie eine Familie zu sein hat | |
und eine Alternative vorschlagen. Für mich ist „Attenberg“ ein | |
Dokumentarfilm über eine andere Art von Familie im Stil eines Tierfilms. | |
Können Sie das genauer erklären? | |
Stellen Sie sich einen Science-Fiction-Film vor: Sie haben Aliens und einen | |
fremden Planeten. Vielleicht sind meine Figuren ja Aliens und der fremde | |
Planet ist die verfallende Industriestadt an der Küste, in der mein Film | |
spielt. | |
Und Sie sind die Wissenschaftlerin, die diese fremden Lebensformen | |
beobachtet? | |
In gewisser Weise, ja. Daher war der britische Naturfilmer Sir David | |
Attenborough so wichtig bei der Entwicklung des Projekts und bei den | |
Proben. Jeder der Schauspieler und Schauspielerinnen hat bestimmte Tiere | |
zugewiesen bekommen, mit denen er oder sie sich vertraut machen sollte. Das | |
sieht man nicht direkt, außer in den Szenen, in denen die Darsteller diese | |
Tiere wirklich nachahmen, aber es hatte Einfluss darauf, wie sie sprechen, | |
wie sie sich angucken und wie sie sitzen – besonders das Sitzen ist | |
wichtig. Der Film ist sehr streng choreografiert. Wir haben sehr viel | |
geübt, etwa die Winkel, in denen man sich anschaut. Da ich mich den Figuren | |
nicht über ihren Hintergrund und ihre Geschichte nähere, geht es mehr um | |
Bewegungen und Sprache. | |
Physis statt Psychologie? | |
Ja. Wir haben in den Proben alles immer und immer wieder wiederholt. Durch | |
diese Wiederholungen wurden die Sprache und die Bewegungen sehr mechanisch, | |
aber die Ermüdung führte auch dazu, dass die Charaktere und Gefühle | |
durchkamen. Wichtig war mir, dass man die richtige Distanz wahrt, den | |
Zuschauern sollten die Emotionen nicht mit dem Löffel verabreicht werden. | |
Man überlässt es ihnen, ob sie den Film mögen oder hassen, ob sie bewegt | |
sind, angewidert oder gelangweilt. | |
Dazu passt, wie Sie die gleichzeitig kühle und leidenschaftliche Musik der | |
New Yorker Punk-Vorläufer Suicide auf dem Soundtrack verwenden. | |
Sie dekonstruieren Rock ’n’ Roll auf perverse Art und Weise. Suicide sind | |
sehr beliebt in Griechenland, weil die griechische Kultur tief im Innern | |
ähnlich fatalistisch und pessimistisch ist, aber auch sehr melodramatisch. | |
Das passt perfekt zur Monomanie meiner Hauptfigur Marina, die ein sehr | |
minimalistisches Leben führt: Sie hört nur eine Band, schaut im Fernsehen | |
nur Dokumentationen von Sir David Attenborough und kümmert sich um ihren | |
kranken Vater. | |
Inwiefern wurde Ihr Film davon beeinflusst, dass Sie Performance Art in New | |
York studiert haben? | |
Wir haben dort alltägliche Bewegungen untersucht, als seien sie eine Art | |
Performance. Für mich ist also alles eine Choreografie. Außerdem bin ich | |
eine begeisterte Voyeurin und Menschenbeobachterin. Ich finde es | |
faszinierend, Leuten dabei zuzusehen, wie sie essen, gehen oder sich ihre | |
Nase kratzen. Ihre Bewegungen zerlege ich dann in ihre einzelnen Elemente. | |
Pina Bausch ist daher ein Vorbild für mich, außerdem habe ich mit den | |
Schauspielern viel Monty Python geschaut und danach mit ihnen improvisiert. | |
Mehrere Szenen in „Attenberg“ erinnern an den berühmten Monty-Python-Sketch | |
„Ministry of Silly Walks“. | |
Das ist einer meiner absoluten Favoriten. Ich schaue ihn mir alle paar Tage | |
an, nur um gute Laune zu bekommen. Für mich ist es sehr wichtig, dass man | |
sich im Kino über sich selber lustig machen kann. Es ging darum, dass wir | |
zusammen improvisieren und dass sich die Darsteller dabei wirklich | |
befreien. Vangelis Mourikis, der den Vater spielt, ist vielleicht der | |
wichtigste Kinoschauspieler Griechenlands. Normalerweise bekommt der | |
allerdings nur die Rolle der harten Typen in Krimis. Es war spannend für | |
mich, ihm dabei zuzusehen, wie er sich völlig lächerlich dabei macht, einen | |
Gorilla zu spielen. | |
Die ungewöhnlichen Tanz- und Performance-Einlagen im Film wirken aber auch | |
wie ein Kommentar zum Rest der Handlung. | |
Ganz genau, wir haben sie eingesetzt wie den Chor im klassischen | |
griechischen Theater. Aufgebaut ist der Film ein bisschen wie ein Musical – | |
die griechische Tragödie war ja durch ihren Einfluss auf die Oper ein | |
Vorläufer des Musicals. „Attenberg“ ist eine Art abstraktes Musical, das in | |
unseren Köpfen stattfindet. | |
Stimmt es eigentlich, dass Sie an der Eröffnungs- und Schlusszeremonie der | |
Olympischen Spiele von Athen im Jahr 2004 mitgearbeitet haben ? | |
Ja, mein Verantwortungsbereich waren die Videos und Projektionen. Ich habe | |
dafür sieben Monate lang ungefähr 3.000 Tänzer und Tänzerinnen gefilmt, die | |
unter der Leitung von Regisseur und Choreograf Dimitris Papaioannou | |
standen. Seitdem mache ich auch die Videos für die meisten seiner | |
Tanztheater-Aufführungen. | |
„Attenberg“ ist international vielfach ausgezeichnet worden. Die von Ihnen | |
mitproduzierten Filme „Dogtooth“ und „Alpis“ von Giorgos Lanthimos habe… | |
den letzten Jahren in Cannes und Venedig Preise gewonnen. Gibt es eine | |
Renaissance griechischen Filmemachens in Zeiten des Staatsbankrotts? | |
Es scheint so. Man kann arm sein und trotzdem Filme machen. Wir drehen ohne | |
große staatliche Förderung und helfen uns. Wir produzieren uns gegenseitig, | |
schreiben füreinander, kochen bei den Dreharbeiten der anderen, stellen | |
unsere Wohnungen als Drehorte zur Verfügung, machen Botengänge – alles, was | |
nötig ist. Ich mag dieses „home made cinema“. Aber ich weiß nicht, ob man | |
schon von einer neuen griechischen Welle sprechen kann. Wir müssen sehen, | |
wie lange es anhält. | |
10 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Sven von Reden | |
## TAGS | |
Kino | |
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