# taz.de -- FDP-Spitzenkandidat in NRW: Lindners beliebte Lieder | |
> Er versteht es, sich zu ändern und zugleich fest zu wirken. Viele | |
> Liberale sehen in Christian Lindner die Zukunft. Doch steckt im | |
> Karrierepolitiker inhaltliche Substanz? | |
Bild: Ist er ein Chamäleon? Eines, dessen Farbwechsel niemand bemerkt, viellei… | |
BERLIN/BONN/KÖLN taz | Das gibt Ärger. Als Christian Lindner aus seinem | |
Wahlkampfbus steigt, nähert sich ihm ein Mann: Oettinger-Bierflasche, | |
vernarbtes Gesicht, Kopfhörer in den Ohren. Schwankend bahnt er sich einen | |
Weg zwischen Kameraleuten, Fotografen und FDPlern und fragt eine | |
Journalistin, wer der Mann im dunklen Anzug denn sei. Dann tritt er auf | |
Lindner zu. Er reicht dem Kandidaten die Hand, und strahlend sagt er: „Ich | |
mag Ihre Lieder.“ | |
Jetzt bloß keinen Fehler machen, drei Kameras sind auf den | |
Spitzenkandidaten der NRW-FDP gerichtet. Würde Lindner den Alkoholkranken | |
abservieren wie einst Kurt Beck einen Arbeitslosen, dann entstünden Bilder, | |
die sich einbrennen. Das Bild von der kaltherzigen FDP, das Lindner so gern | |
abstreifen würde, wäre in frischen Farben wieder da. Das hieße womöglich: | |
Gute Nacht, steigende Umfragewerte. Lebe wohl, Düsseldorfer Landtag. Lebe | |
wohl, letzte Hoffnung der FDP. | |
Aber Lindner ist Profi. Ohne sichtbares Zögern ergreift er die Hand des | |
Mannes. Auch wenn der ihn für einen Schlagersänger hält, der Erfolge feiert | |
mit Alben wie „Meine Lieder streicheln Dich“. So kritisch ist die Lage der | |
FDP, so viele Hoffnungen richten sich auf einen einzelnen Mann, dass ein | |
Fehltritt des Idols ihr Ende bedeuten könnte. Die Landtagswahl in | |
Nordrhein-Westfalen ist die große Bewährungsprobe der Partei. Und die | |
Lebenschance eines Mannes, den fast alle kennen. Aber von dem kaum jemand | |
weiß, wofür er steht. | |
## Ein bisschen Bürgernähe | |
Am FDP-Stand wartet ein älterer Herr, schwarze Jacke, schwarze | |
Sonnenbrille. Gerhart Baum ist aus seiner Kanzlei herübergeeilt, um den | |
Redner zu sehen. Baum, 79 Jahre alt, ist so etwas wie der Säulenheilige der | |
Linksliberalen. „Es geht ein Hauch von Sozialliberalismus durch die FDP“, | |
sagt er und lächelt. So einen Satz hat man schon lange nicht mehr gehört. | |
Leute wie Baum prägten bis Anfang der achtziger Jahre den Kurs der FDP. Das | |
war seine FDP. Damals, vor Westerwelle. | |
Der Alte setzt große Hoffnungen in den Jungen auf der Bühne: „Lindner | |
verfügt über einen politischen Fundus, der selten ist. Er ist deutlich | |
breiter aufgestellt als die sogenannten Marktliberalen.“ Aber auch Lindner | |
fordert doch die Wiedereinführung von Studiengebühren? Deren Abschaffung | |
war einst wichtiger Teil der rot-gelben Bildungsreformen. „Na“, antwortet | |
Baum erstaunt, „die Zeiten haben sich aber doch geändert.“ Es ist eben nur | |
ein Hauch. | |
Lindner tritt von der Bühne, noch schnell ein bisschen Bürgernähe zeigen. | |
Der Oettinger-Mann ist immer noch da. „Ihr seid nicht für die Armen“, sagt | |
er. „Doch, sind wir auch.“ – „Da hör ich nie was.“ | |
„Was tun Sie für Vermieter?“, fragt eine ältere Frau. Ihr roter Lippensti… | |
passt perfekt zur roten Brille. Lindner reibt sich die linke Handfläche mit | |
dem rechten Daumen. Jetzt bloß nicht das alte Bild der Partei der | |
Besserverdienenden auffrischen, aber auch keine Stammwähler verschrecken. | |
„Da gibt’s immer zwei Seiten“, sagt er. „Man muss abwägen zwischen Mie… | |
und Vermieterrecht.“ | |
## Wofür steht er? | |
Er bewegt seinen Oberkörper von links nach rechts, ihm ist sichtlich | |
unwohl. Dann findet er den rettenden Ausweg: „Sie scheinen sich | |
auszukennen“, sagt er lächelnd. „Haben Sie beruflich damit zu tun?“ Fünf | |
Minuten später ist Lindner auf dem Weg zum nächsten Termin. | |
Das ist die größte Fähigkeit des Kandidaten: Lindner spricht Menschen mit | |
grundverschiedenen Überzeugungen an und wirkt doch nicht beliebig. | |
Gestandene Linksliberale sehen in ihm einen der ihren. Zugleich verprellt | |
Lindner nicht die noch immer stärkste Gruppierung bei den Freidemokraten, | |
die Mittelständler und Freiberufler. Doch wer ist Christian Lindner, und | |
wofür steht er? | |
Als der heute 33-Jährige Generalsekretär der Bundespartei war, sprach er | |
lobend über die katholische Kirche. Nicht über deren Inhalte, Lindner ist | |
nicht gläubig. Sondern über ihre große Fähigkeit, beständig zu wirken. | |
„Diskrete Normentsorgung“ nennt Lindner das: Ein politisches Ziel rückt | |
schrittweise in die Kulissen, andere treten langsam nach vorn. Offiziell | |
verabschiedet man sich von dem, was man nicht durchsetzen lässt, erst, wenn | |
es ohnehin keinen mehr interessiert. | |
Was für den Vatikan Galileo Galileis Lehre war, sind für die FDP die | |
Steuersenkungen. Sie sollen zugunsten des Schuldenabbaus in die Kulissen | |
treten, ohne sie offiziell aufzugeben. Beinahe geht Lindners Plan auf. Dann | |
jedoch kommt der 14. Mai 2011. | |
## Der NRW-Wahlkämpfer | |
Vollmundig verspricht Rösler .– tags zuvor zum Parteichef gewählt – auf d… | |
Rostocker Bundesparteitag: „Ab heute werden wir liefern.“ Verstanden wird | |
es als Einlösung aller Wahlversprechen. Das war’s mit der diskreten | |
Normentsorgung. | |
Ende April 2012 ist wieder Bundesparteitag. Lindner ist nicht mehr | |
Generalsekretär, sondern NRW-Wahlkämpfer. Aus seinem „Grußwort“ wird eine | |
22 Minuten lange Rede, wie immer hält er sie frei. Der Mann am Pult bietet | |
Mitgliedern und Wählern die ersehnte Erklärung, was die irrlichternde FDP | |
ausmacht: Westbindung der Bundesrepublik! Ostpolitik! Selbst die Preisgabe | |
von Wahlversprechen bietet Anlass zu Stolz: „In Stil und auch Substanz | |
unseres Regierungshandelns haben wir manche enttäuscht, und deshalb | |
empfiehlt sich jetzt der FDP auch eine gewisse Bescheidenheit im Auftreten. | |
Wenn Selbstbewusstsein und Bescheidenheit zusammentreffen, dann heißt das | |
Souveränität.“ Von Wählerenttäuschung zu „Souveränität“ in zwei Sä… | |
schafft nur Lindner. | |
Gibt es einen „echten“ Christian Lindner mit unverrückbaren Grundhaltungen? | |
Oder ist er ein Chamäleon? Eines, dessen Farbwechsel niemand bemerkt, | |
vielleicht nicht mal er selbst? | |
## „Er wollte schon immer viel bewegen“ | |
Der Mann, der darauf vielleicht eine Antwort weiß, kennt Lindner noch vom | |
Gymnasium in Wermelskirchen. „Christian wollte schon immer viel bewegen“, | |
sagt Johannes Vogel. Zwischen zwei Wahlkampfterminen macht der | |
FDP-Bundestagsabgeordnete Station in einem Restaurant in der Bonner | |
Altstadt. | |
Der heute 30-Jährige sah, wie der drei Jahre Ältere im Porsche zur Schule | |
fuhr. Wie dieser eine Marketingfirma gründete, erst bei den Jungen | |
Liberalen und schon mit 19 Jahren in den FDP-Landesvorstand aufstieg. Und | |
wie Lindner die schlaksige Figur in Anzüge steckte, um erwachsener zu | |
wirken. Vogel jobbte in Lindners Büro, nachdem dieser mit nur 21 Jahren in | |
den Düsseldorfer Landtag gezogen war. | |
Vogel hat miterlebt, wie der halbe Junge, den Möllemann spöttisch „Bambi“ | |
nannte, zum Mann wurde, der konterte: Immerhin werde Bambi der Herrscher | |
des Waldes. Einem Zeitungsbericht zufolge beschied schon ein | |
Grundschulzeugnis dem kleinen Christian, er sei „altklug“. | |
Woher stammt Lindners brennender Ehrgeiz? Nach der Trennung der Eltern | |
wuchs er bei seiner Mutter auf. Kompensiert er die Abwesenheit des Vaters | |
durch das, was als besonders männlich gilt: schnelle Autos, Geld und | |
Karriere? Vogel möchte dazu nichts sagen. | |
Lieber redet er über Lindners und seine Altersgruppe: „Ich glaube, unsere | |
Generation zeichnet aus, dass wir zwischen Politik und Persönlichem trennen | |
können.“ Lindner verstehe sich ja auch mit „Hubertus“: Hubertus Heil, | |
Vizevorsitzender der SPD-Fraktion und 39 Jahre alt. Aber wann wird | |
Offenheit zu Beliebigkeit? | |
## Lindners liberale Idole | |
In Lindners Generalsekretärbüro hingen riesige Porträts liberaler Idole: | |
Friedrich August von Hayek und der Soziologe Ralf Dahrendorf. Hayek gilt | |
vielen als Begründer des sogenannten Neoliberalismus, Dahrendorf hingegen | |
stand für Bildung als Bürgerrecht. Ein Markt- und ein Sozialliberaler. | |
Reden schmückt Lindner regelmäßig mit Verweisen auf so unterschiedliche | |
Persönlichkeiten wie den schottischen Nationalökonomen Adam Smith und den | |
einstigen FDP-Vordenker Karl-Hermann Flach. Und doch kommen Lindners | |
Reflexionen immer zum selben Ergebnis: Der jeweilige Tageskurs der FDP ist | |
genau richtig. | |
Das Zauberwort lautet „fair“. Lindner bringt es in Stellung gegen das | |
verhasste „sozial“. Über das Wort von der „sozialen Gerechtigkeit“ sch… | |
er schon 2009: „Mit ihm lässt sich jeder Eingriff in Markt und Gesellschaft | |
gegen Einwände verteidigen, knallhart vertretene Gruppeninteressen können | |
gegen Widerspruch immunisiert werden.“ Wie „sozial“ passt „fair“ fast | |
immer. Wenn der Kandidat im NRW-Wahlkampf den Erhalt des Gymnasiums | |
fordert, spricht er von „fairen Chancen“ für diese Schulform. | |
Bis vor einem halben Jahr forderte Lindner, die Einkommensteuer noch in | |
dieser Legislaturperiode zu senken: Es sei nur „fair“, die Arbeitnehmer am | |
Aufschwung teilhaben zu lassen. Das ist passé. Heute geht es um | |
Schuldenabbau. Der Zeit sagte er den bemerkenswerten Satz: | |
„Situationsadäquates Handeln macht Professionalität aus.“ | |
Wo ist die Grenze zwischen Pragmatismus und Opportunismus, Herr Lindner? | |
Als er diese Frage hört, ist es Ende April, er eilt durch die Flure des | |
Bundestags. „Ganz schwierig“, sagt er und seufzt. „Jetzt bitten Sie mich, | |
dass ich mich selbst charakterlich bewerte.“ Er ist im Wahlkampfstress, er | |
schläft zu wenig, eilt von Termin zu Termin. Jetzt muss er schnell in den | |
Plenarsaal, seine Stimme abgeben. In der Frage wittert er eine Falle. | |
Andere Politiker würden patzig. Lindner sagt: „Ich schreibe ja viel und | |
selbst. Vergleichen Sie doch mal meine Texte vor, während und nach meiner | |
Generalsekretärszeit. Ich bin gespannt, ob Sie da so viele Wendungen und | |
Drehungen finden.“ So umschifft er mögliche Probleme. | |
## Die letzte Hoffnung | |
Da will ein junger Mann den parteipolitisch organisierten Liberalismus | |
retten. Aber nie in seiner Karriere hat die letzte Hoffnung der FDP große | |
Leidenschaft für einen bestimmten Bereich gezeigt. Warum ist so jemand in | |
der Politik? | |
„Ich arbeite für die, die mein Lebensgefühl teilen“, sagt Lindner. Seine | |
Stimme hallt auf dem Bundestagsflur. „Ich nehme mein Leben in die Hand, | |
übernehme Verantwortung für mich und für andere. Ich habe Freude an der | |
Arbeit, will etwas verändern.“ Eigentlich sagt Lindner etwas anderes, etwas | |
ähnlich Unverfängliches. Trotzdem lässt er das Zitat durch seine | |
Pressesprecherin weichwaschen. Nichts soll nach Lust am Risiko klingen oder | |
gar nach politischem Spielertum. | |
Dann muss der Kandidat los. Erst zur Abstimmung, später zum Zeit-Interview. | |
Er wird sich zitieren lassen mit dem Satz: „Situationsadäquates Handeln | |
macht Professionalität aus.“ | |
10 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Matthias Lohre | |
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