# taz.de -- Wahldebakel der Linkspartei in NRW: Die Sache mit der „Alternativ… | |
> Dass es schlimm werden wird, hatten sie alle geahnt. Dass es so schlimm | |
> werden würde, dann doch nicht. Und was darauf bei der Linkspartei folgt? | |
> Die Führungsdebatte. | |
Bild: Geteiltes Leid ist halbes Leid: Katharina Schwabedissen und Wolfgang Zimm… | |
DÜSSELDORF/BERLIN taz | Um kurz nach 21 Uhr kehrt Katharina Schwabedissen | |
von den Interview-Runden im Landtag noch einmal zurück zur Wahlparty ins | |
„freiligrath“. „Wir machen weiter, jetzt erst recht“, ruft die | |
Spitzenkandidatin der nordrhein-westfälischen Linkspartei aus. Die etwa 30 | |
Parteifreunde, die vor und in der Düsseldorfer Szene-Kneipe bis jetzt | |
ausgeharrt haben, klatschen Beifall. Dann stimmen sie trotzig die erste | |
Strophe der Internationale an. „Nur gut, dass sie nicht die dritte Strophe | |
singen“, bemerkt eine Linksparteilerin lakonisch. Deren Anfang lautet | |
bekanntlich: „In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, wir sind die stärkste | |
der Partei'n.“ Nichts wäre unpassender an diesem Abend. | |
Dass es schlimm werden wird, hatten sie schon geahnt. Dass es so schlimm | |
werden würde, dann doch nicht. 2,5 Prozent holte die Linkspartei. „Es ist | |
ein enttäuschendes Ergebnis“, sagt Landessprecherin Schwabedissen. „Wir | |
haben mit mehr gerechnet.“ Tatsächlich ist es ein totales Desaster. | |
Entsprechend groß ist das Entsetzen, als kurz nach 18 Uhr die ersten | |
Hochrechnungen über die Leinwand flimmern. Schwabedissen und Wolfgang | |
Zimmermann umarmen sich lange. Geteiltes Leid ist halbes Leid. | |
Nachdem er die ersten Tendenzen aus den Wahllokalen hörte, hatte sich der | |
schwer erkrankte bisherige Linksfraktionschef im Landtag am Nachmittag | |
kurzfristig entschlossen, ins Nahe seiner Wohnung gelegene „freiligrath“ zu | |
kommen. „Wir gewinnen gemeinsam und wir verlieren gemeinsam“, sagt er. Es | |
ist ein enormer Kraftakt für den von seiner Lungenkrebsoperation sichtlich | |
geschwächten Zimmermann. Sein Auftritt bewegt. Der Applaus ist riesig, als | |
seine Genossen ihn erblicken. Einige haben Tränen in den Augen. Für einen | |
kurzen hochemotionalen Augenblick scheint das Wahldebakel vergessen. Lange | |
kann Zimmermann nicht bleiben. | |
Gemeinsam mit dem besonnenen Gewerkschafter überführte Schwabedissen 2007 | |
den nordrhein-westfälischen Landesverband Wahlalternative Arbeit und | |
Soziale Gerechtigkeit (WASG) in die Linkspartei. Mit den beiden an der | |
Parteispitze gelang 2010 mit 5,6 Prozent der Landtagseinzug. Jetzt stehen | |
sie vor einem Scherbenhaufen. Denn die Linkspartei ist wieder dort | |
angekommen, wo sie vor der Fusion stand: im außerparlamentarischen Nirwana. | |
Es sieht sogar noch schlechter aus. Bei der Landtagswahl 2005 erreichten | |
die WASG 2,2 Prozent und die PDS 0,9 Prozent. Zusammen gezählt holten die | |
seinerzeit noch getrennt kandidierenden Parteien 254.977 Stimmen. Jetzt | |
sind nur noch 194.539 Stimmen übrig geblieben. | |
## Politikverdrossenheit reicht als Begründung nicht aus | |
Die Landtagswahl 2005 war das Startsignal für die Entstehung der | |
Linkspartei. Das jetzige Ergebnis illustriert hingegen das Scheitern des | |
Versuchs, eine bundesweit ausstrahlungskräftige Partei links der SPD | |
parlamentarisch zu etablieren. „Es war ein eindeutiges Wählervotum: Die | |
Linke soll außerparlamentarische Arbeit machen“, übt sich Schwabedissen in | |
Galgenhumor. | |
„Es herrscht Politikverdrossenheit“, glaubt die gelernte Krankenschwester. | |
„Die Menschen gehen nicht mehr wählen.“ Doch das reicht zur Begründung der | |
Niederlage nicht aus. Denn an das Nichtwählerlager verlor die Partei nur | |
etwa 20.000 Stimmen, deutlich weniger als an die Grünen. Die Linkspartei | |
hatte also kein signifikantes Mobilisierungsproblem. Die Wählerwanderung | |
zeigt: Mit Ausnahme der CDU verlor die Linkspartei in alle Richtungen, | |
sogar rund 10.000 Stimmen an die FDP. Den größten Aderlass gab es jedoch zu | |
Gunsten der Piraten (80.000) und der SPD (90.000). Das bedeutet, dass die | |
Linkspartei einerseits massiv Stimmen von Protestwählern verloren hat, die | |
sich diesmal besser bei den Piraten aufgehoben fühlten. | |
Andererseits wandten sich in einem großen Maße jene Wähler ab, die sich | |
beim letzten Mal noch aus Enttäuschung von der Agenda- und Hatz-IV-Politik | |
der SPD für die Linkspartei entschieden hatten. SPD-Ministerpräsidentin | |
Hannelore Kraft hat sie wieder einfangen können. „Wir haben Rot-Grün zu | |
einer sozialeren Politik getrieben“, sagt Schwabedissen. „Doch unsere | |
Erfolge haben die Wählerinnen und Wählern SPD und Grünen zugerechnet.“ Die | |
Linkspartei hätte mehr Öffentlichkeitsarbeit machen und sich besser vor Ort | |
verankern müssen. | |
## Berliner Frontleute unbeliebt | |
Dass das alleine noch nicht gereicht hätte, weiß auch Schwabedissen. | |
„Natürlich müssen wir jetzt in der Gesamtpartei darüber reden, was | |
schiefgelaufen ist“, sagt die 39-jährige Pfarrerstochter, die als | |
Spitzenkandidatin einen ausgesprochen gute Figur abgegeben hat. An ihr hat | |
das schlechte Abschneiden noch am wenigsten gelegen. Auch auf die anderen | |
Wahlkämpfern in NRW lässt sie nichts kommen. Sie hätten einen „guten | |
Wahlkampf gemacht. Das Ergebnis ist kein NRW-Ergebnis.“ Damit dürfte sie | |
nicht falsch liegen. „Die Partei muss ihre Flügel- und Machtkämpfe | |
beenden“, fordert Rüdiger Sagel, der bisherige Vize-Vorsitzende der | |
NRW-Landtagsfraktion. Sie müsse sich „thematisch verbreitern und zu einer | |
modernen sozialistischen Partei transformieren“. Andere in Düsseldorf | |
fordern einen Generationenwechsel. Keiner ist am Wahlabend auf die Berliner | |
Frontleute der Linkspartei gut zu sprechen. | |
Im Berliner Karl-Liebknecht-Haus machte am Sonntagabend Klaus Ernst die | |
„seit Jahren andauernde Selbstbeschäftigung in dieser Partei und Schüsse | |
aufs eigene Tor“ für das schlechte Abschneiden verantwortlich. „Es lag | |
meines Erachtens nicht an den Themen, die Themen waren richtig gesetzt“, | |
erklärte der Linksparteichef. Angesicht der fortwährenden | |
Selbstbeschäftigung glaubten die Bürger aber nicht mehr, dass die Partei | |
auch Probleme lösen könne. „Das ist unser Hauptproblem.“ | |
Die Hamburgische Bürgerschaftsabgeordnete Kersten Artus nannte solche | |
„Erklärungsversuche wenig hilfreich“. Die Linkspartei stecke nicht wegen | |
einer Personaldebatte in Schwierigkeiten, sondern wegen der europaweiten | |
Finanzkrise. Die Menschen stünden „dem umfassenden und schnellen Wandel | |
hilflos und verstört gegenüber“, die Medien präsentierten „Köpfe als | |
Heilsbringer“. Wer für was steht, bliebe jedoch „weitgehend unklar“. Art… | |
erklärt sich so auch den Erfolg der Piraten, der zeige, „dass der Protest | |
der Menschen ein Ventil sucht“. | |
## Innerparteiliche Erpressungsmanöver | |
Noch in der Nacht kam dann Bewegung in die Personaldebatte. Vor allem im | |
Osten wurde Kritik an Oskar Lafontaine laut – der trage durch sein langes | |
Schweigen zu seinen eigenen Ambitionen eine Mitschuld am Düsseldorfer | |
Fiasko. Nach Informationen der ARD soll sich der Saarländer inzwischen | |
bereit erklärt haben, wieder an die Spitze der Linkspartei zurückzukehren – | |
seine Bereitschaft allerdings an Bedingungen knüpfen. Zuvor hatte bereits | |
der Spiegel berichtet, Lafontaine wolle sein eigenes Personaltableau | |
diktieren und seine Kandidatur von der Zustimmung zu seinen Vorschlägen | |
abhängig machen. | |
„Wir sind nicht in einer Tarifverhandlung“, wies der Berliner | |
Landesvorsitzende Klaus Lederer ein solches Ansinnen im Tagesspiegel | |
zurück. „Innerparteiliche Erpressungsmanöver sind das Letzte, was wir jetzt | |
gebrauchen können.“ Allerdings sind es derzeit ohnehin nicht mehr als | |
Gerüchte, dass Lafontaine wirklich noch mal an die Parteispitze strebt. | |
Manches spricht auch dafür, dass der 68-jährige Saar-Napoleon genau | |
deswegen so lange geschwiegen hat, weil er den Bundesvorsitz nicht | |
übernehmen will. | |
Am Montag treffen sich die Landesvorsitzenden der Linkspartei, um über das | |
künftige Personal zu reden. Danach sprach sich Klaus Ernst für eine | |
Rückkehr von Lafontaine an die Parteispitze aus. Am Dienstag ist eine Runde | |
mit dem geschäftsführenden Vorstand geplant. Zwei von mehreren geplanten | |
Regionalkonferenzen, auf denen die Basis Gelegenheit haben sollte, vor dem | |
Göttinger Parteitag im Juni zu debattieren, wurden inzwischen abgesagt. Ob | |
die Linkspartei in den nächsten drei Wochen eine gemeinsame Antwort auf | |
ihre Führungsfrage findet, ist weiter offen – es geht um mehr als Posten, | |
es geht auch um den Kurs der Partei und um deren bundespolitische Existenz. | |
Zumindest bei diesem Thema scheint es unter Spitzenlinken keine Differenzen | |
zu geben. Fraktionsvize Sahra Wagenknecht sagte, „alle, die jetzt anfangen, | |
das Totenglöckchen der Linken zu läuten“, würden sich zu früh freuen. Und | |
ihr Kollege Dietmar Bartsch unterstrich, eine gesamtdeutsche Linke sei | |
„alternativlos“. Er sei sich sicher, dass die Partei in Göttingen einen | |
„einen neuen Aufbruch“ schaffen werde. Die Niederlage an Rhein und Ruhr, | |
heißt es auf dem Reformerflügel, „ist für uns alle bitter“. Es komme jet… | |
darauf an, „dass unsere Partei zusammen rückt“. Man wolle dabei helfen, | |
„die tiefe Kraft und die große Kompetenz“ der Linkspartei zu bewahren. | |
14 May 2012 | |
## AUTOREN | |
P. Beucker | |
T. Strohschneider | |
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