# taz.de -- Die Grünen und die Piraten: Holzkeule oder Wattebäuschchen? | |
> Die Grünen ringen um den richtigen Umgang mit dem neuen Konkurrenten | |
> Piratenpartei. Die Mehrheit setzt auf demonstrative Gelassenheit – und | |
> ist alarmiert. | |
Bild: Mit- oder Gegeneinander? Dieser Grüne hat sich für die nette Variante e… | |
BERLIN taz | Wenn man Boris Palmer auf die Piratenpartei anspricht, redet | |
er sich schnell in Rage. „Die Piraten sind Illusionskünstler“, schimpft | |
Tübingens Oberbürgermeister über die neue politische Kraft. | |
„Sie gerieren sich als Antipolitiker. Und sie bedienen damit billige | |
Ressentiments gegen die parlamentarische Demokratie.“ Mehr noch, der Grüne | |
ist sich sicher: „Die Vorschläge der Piraten machen den Staat | |
dysfunktional. Sie sind deshalb gefährlich für die Demokratie.“ | |
Palmer ist ein führender Vertreter des Realo-Flügels, er sitzt im wichtigen | |
Führungsgremium Parteirat. Und er ist der härteste Piraten-Kritiker der | |
Grünen. Ebenso scharf wie mit ihnen geht er mit seiner eigenen Partei ins | |
Gericht: „Wir Grüne haben die Piraten lange geschont, weil wir | |
Ähnlichkeiten mit unseren Anfängen sahen“, sagt Palmer. Doch die Piraten | |
seien keine neuen Grünen, sondern eine ziemlich inhaltsfreie Protestpartei. | |
„Wir müssen sie offensiv angreifen und entlarven.“ | |
Zwei Fraktionen kämpfen derzeit bei den Grünen miteinander. Die einen | |
wollen die Piraten brachial entzaubern, die anderen warnen vor Polemik und | |
betonen neben der inhaltlichen Auseinandersetzung auch Gemeinsamkeiten. | |
Holzkeule steht gegen Wattebäuschchen. | |
Dieser interne Streit spitzt sich nach den Wahlen in Schleswig-Holstein und | |
Nordrhein-Westfalen zu. Denn sie offenbaren eine für die Grünen brisante | |
Situation. Zwar fuhren sie in beiden Ländern gute Ergebnisse ein, doch | |
gleichzeitig festigte sich der Erfolg der Piraten. Obwohl der | |
jugendlich-intellektuelle Robert Habeck wie auch die cool-bodenständige | |
Sylvia Löhrmann gute Wahlkämpfe hinlegten, obwohl es um die Zuspitzung | |
große Koalition oder Rot-Grün ging, schafften die Piraten jeweils um 8 | |
Prozent. Die Partei findet einfach kein taugliches Konzept für die | |
Gegenwehr. | |
## Die Piraten gefährend Rot-grün im Bund | |
Doch das bräuchten die Grünen dringend. Denn durch einen Piraten-Erfolg im | |
Bund stirbt die anvisierte rot-grüne Bundesregierung mangels | |
parlamentarischer Mehrheit. Die jüngste ARD-Umfrage vom vergangenen Freitag | |
sieht die SPD zwar bei 30 und die Grünen bei 13 Prozent. Doch das würde | |
angesichts der prognostizierten 11 Prozent für die Piraten keinesfalls | |
reichen. Die Grünen müssten in diesem Fall hilflos zusehen, wie sich die | |
SPD in eine große Koalition flüchtet. | |
Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin hat den Erfolg der Piraten deshalb | |
schon im vergangenen Herbst als „strukturell schwierigstes Problem“ für | |
seine Partei erkannt. Ähnlich analysierte dies jüngst der Harvard-Forscher | |
und Junggrüne Arvid Bell in einer Strategiestudie, für die er 40 | |
Spitzenleute von SPD und Grünen interviewte: Die Grünen müssten das | |
„libertäre Anti-Establishment-Spektrum ansprechen“, schrieb er, um die | |
Piraten bei der Bundestagswahl unter 5 Prozent zu halten. | |
Dumm nur: Bisher sind die Grünen an dieser Vorgabe zuverlässig gescheitert. | |
Doch sie versuchen, dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Dazu gehört | |
professionelle Gegnerbeobachtung: Die Grünen-nahe Heinrich Böll Stiftung | |
arbeitet derzeit an einer Piraten-Studie. Mit Suchprogrammen durchforsten | |
die Forscher Piraten-Foren und -Blogs im Netz. Herausfinden will man zum | |
Beispiel, wie die Partei genau inhaltlich zu verorten ist. „Mit ihrer | |
Orientierung auf Bürgerbeteiligung und soziale Grundrechte gehören die | |
Piraten eher zum linksliberalen Spektrum“, sagt Ralf Fücks, Vorstand der | |
Stiftung. „Es gibt bei vielen Themen Schnittmengen.“ | |
## Die Grünen erproben Netzaffines | |
Führende Grüne betonen derzeit, dass es keineswegs die Piraten sind, die | |
Partizipation für BürgerInnen erkämpft hätten – Fraktionschefin und | |
Exministerin Renate Künast rattert in Talkshows diverse Gesetze zum | |
Verbraucherschutz und zu Informationspflichten für Hersteller herunter. Und | |
in Gesprächen streiten Grüne betont lässig ab, sich einen piratigen | |
Anstrich geben zu müssen. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Denn die | |
Grünen erproben derzeit auffällig gern Netzaffines. | |
Beispiel NRW: Der Landesverband ließ unter dem Motto „Shop around the | |
clock“ vor der Wahl im Internet über Ladenöffnungszeiten abstimmen. Über | |
10.000 Menschen beteiligten sich an der von Sozialwissenschaftlern | |
entwickelten Umfrage. „So etwas hat es noch nicht gegeben: Eine | |
Regierungspartei stellt ein Thema online zur Abstimmung, um die Ergebnisse | |
tatsächlich umzusetzen“, sagt Landeschef Sven Lehmann. Kurzerhand schrieb | |
der Verband das Ergebnis ins Wahlprogramm. | |
Lehmann will das Instrument jetzt dauerhaft anwenden – etwa bei Themen, wo | |
es noch keine klare grüne Positionierung gibt. Aber, selbstverständlich: Er | |
will die Idee als „keine direkte Reaktion“ auf die Piraten verstanden | |
wissen. „Aber die haben dem Ganzen innerparteilich natürlich einen Schub | |
gegeben.“ | |
Malte Spitz ist im Grünen-Vorstand für Netzthemen zuständig. Er kennt sich | |
mit den Piraten am besten aus – und ist Anhänger der moderaten Fraktion. | |
„Auf Entzauberung zu setzen ist Quatsch“, sagt er. „Es gibt nun mal eine | |
weit verbreitete Skepsis gegenüber dem politischen System, diese Stimmung | |
nimmt die Piratenpartei aktuell oft auf.“ Für die Grünen gehe es nicht um | |
ein Patentrezept gegen die neue Kraft, dafür seien Projektionen der Wähler | |
viel zu unterschiedlich. „Wir müssen in der Auseinandersetzung zeigen: | |
Haltung und Gelassenheit wie auch unser inhaltlich progressives Profil.“ | |
Seine Analyse zur Piratenklientel hört man von den meisten Grünen: Es gebe | |
eine Protestgruppe, die kaum vom Gegenteil zu überzeugen sei – aber es gebe | |
auch eine politik-, technik- und netzaffine Gruppe, um die man hart | |
konkurrieren müsse. | |
## Wer kritisiert kann nur verlieren | |
Der komplette Bundesvorstand teilt Spitz’ Position. Hinter vorgehaltener | |
Hand stimmen zwar auch prominente Grüne Boris Palmer zu, doch öffentlich | |
ist er der Einzige, der für die scharfe Linie wirbt. Piraten kritisieren, | |
das ist eine Situation, bei der man nur verlieren könne, so die allgemeine | |
Lesart. | |
Weil die Piraten zum dauerhaften Player werden, stellen sich viele Grüne | |
auch die Frage nach der Zusammenarbeit. Die Wörter „Koalition“ oder | |
„Tolerierung“ nimmt kein Spitzengrüner in den Mund, schon gar nicht im Bund | |
oder schon 2013. Aber Stiftungschef Fücks sagt doch: „Die Grünen sollten | |
die Piraten als potenzielle Koalitionspartner behandeln. Wir müssen unsere | |
Optionen erweitern, falls es für Rot-Grün allein nicht reicht.“ | |
Auch Spitz findet: „Jetzt eine Koalitionsdebatte anzufangen wäre falsch. Es | |
wäre aber ebenso falsch, die Piratenpartei dauerhaft aus | |
Koalitionsüberlegungen auszuschließen.“ | |
21 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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