# taz.de -- Reybroucks Monumentalwerk zum Kongo: Mit Blut und Bier | |
> David Van Reybroucks Buch „Kongo: Eine Geschichte“ zeugt von den Grenzen | |
> sachlicher Geschichtsschreibung über ein der Weltöffentlichkeit | |
> unverständliches Land. | |
Bild: Kongolesische Exilanten – 50 Jahre nach der Unabhängigkeit ist das Ver… | |
Am Pfingstwochenende 1997 triumphierte im Kongo der letzte große | |
revolutionäre Umsturz des 20. Jahrhunderts. Die Rebellen des | |
Guerillaführers Laurent-Désiré Kabila marschierten in der Hauptstadt | |
Kinshasa ein und stürzten unter dem Jubel der Bevölkerung die | |
Mobutu-Diktatur; aus Zaire wurde die Demokratische Republik Kongo. Das war | |
viel mehr als der Triumph einer afrikanischen Guerilla. | |
Kabila war das letzte noch kämpfende Überbleibsel der sozialistischen | |
Befreiungshelden um Patrice Lumumba aus den 60er Jahren; seine späte | |
Machtergreifung, angeregt und angeleitet vom Nachbarstaat Ruanda, war der | |
letzte Akt in einer Kette revolutionärer Aufstände gegen postkoloniale | |
Gewaltherrscher in Afrika, angefangen mit dem Sturz Idi Amins in Uganda | |
1979. | |
Das Kabila-Experiment scheiterte, und die Welt schaute wieder weg. Die | |
Kongokriege ab 1998, die zum Teil noch heute andauern, werden international | |
so behandelt, als fänden sie auf dem Mars statt und hätten mit dem Rest der | |
Welt nichts zu tun. Der Kongo ist auf der internationalen Bühne zu einer | |
Mischung aus Kuriositätenkabinett und Horrorshow verkommen. Das ist eine | |
schwierige Hürde für jeden Versuch, das Land zu erklären. | |
## „Das gute Leben“ | |
Der Belgier David Van Reybrouck schildert in seinem jetzt auf Deutsch | |
erschienenen Monumentalwerk „Kongo: Eine Geschichte“ den Umbruch von 1997 | |
aus den Augen von Ruffin Luliba. Der Junge aus dem ostkongolesischen Bukavu | |
wurde 1996 in Ruanda als Kindersoldat rekrutiert, marschierte mit Kabilas | |
Rebellenarmee AFDL (Allianz Demokratischer Kräfte zur Befreiung von | |
Kongo/Exzaire) quer durch das riesige Land und endete schließlich als | |
Kabilas Leibwächter. | |
„Mit Mzee begann das gute Leben“, erinnert sich Ruffin. Van Reybrouck | |
schildert: „Innerhalb eines Jahres hatte er sich von einem unwissenden, | |
Fußball spielenden Kind zu einem welterfahrenen jungen Mann entwickelt, der | |
hyperwachsam war und die Geschichte live erlebte. Der Preis, den er dafür | |
hatte bezahlen müssen, waren Angst und der Verlust seiner Unschuld.“ | |
„Kongo: Eine Geschichte“ ist voller solcher Vignetten. Es ist ein buntes | |
Kaleidoskop, das den Kongo lebendig macht, stellenweise mitreißend und sehr | |
anschaulich zu lesen. Und doch stellt sich im Laufe der Lektüre der 650 | |
Seiten, zu denen 100 Seiten bibliografische Hinweise und Fußnoten kommen, | |
ein skeptisches Gefühl ein. | |
Wie so viele Afrikabücher ist Van Reybroucks Werk eine persönliche | |
Entdeckungsreise; bei allzu häufigem Gebrauch der Ich-Form verstellt die | |
Person des Autors den Blick auf das Thema. Dies ist ein Gesamtproblem der | |
Historiografie des Kongo und zeugt davon, dass die Komplexität des Landes | |
die Komplexität übersteigt, die Publikumsverlage zu akzeptieren bereit | |
sind. | |
## Fremde Federn | |
Van Reybrouck hat viel gelesen, so ziemlich alles, was es in der ehemaligen | |
Kolonialmacht Belgien zum Kongo gibt. Doch er setzt sich mit dieser | |
Literatur nicht auseinander in dem Sinne, dass Quellen und Analysen | |
miteinander konfrontiert werden. Er pflückt ihm interessant erscheinende | |
Details heraus und integriert sie unmerklich in seine Erzählung; er | |
schmückt sich mit fremden Federn. | |
Über weite Passagen ist das Buch eine Nacherzählung bestehender | |
Veröffentlichungen, garniert mit Erinnerungen der vom Autor interviewten | |
Zeitzeugen sowie persönlichen Wertungen. Die Qualität und Ausführlichkeit | |
der Nacherzählung variiert mit der der vorliegenden Literatur, sodass die | |
belgische Kolonialzeit viel anschaulicher beschrieben wird als die jüngste | |
Kriegszeit. Das halbe Buch spielt vor der Unabhängigkeit 1960; die | |
Kongokriege von 1996 bis 2003 werden in rund 50 teils sehr oberflächlichen | |
Seiten abgehandelt. | |
Van Reybrouck ergreift dabei Partei in Historikerstreiten, und zwar im | |
Sinne des belgischen Mainstreams, der immer noch Kolonialapologie übt. Er | |
stellt sich gegen die Erkenntnisse der zwei einflussreichsten neueren | |
Bücher über den Kongo, „King Leopold’s Ghost“ des US-Amerikaners Adam | |
Hochschild über den Beginn der belgischen Kolonialherrschaft und | |
„L’Assassinat de Lumumba“ des Belgiers Ludo De Witte über die Ermordung … | |
ersten kongolesischen Regierungschefs nach der Unabhängigkeit. Eine | |
Begründung dafür sucht man bei Van Reybrouck aber vergeblich. | |
Zehn Millionen Menschen, die Hälfte der damaligen Bevölkerung, fielen laut | |
Hochschilds vorsichtiger Kalkulation der Schreckensherrschaft von Belgiens | |
König Leopold II. zum Opfer, der das Kongobecken als Privatbesitz | |
reklamierte und 1885 den „Freistaat Kongo“ gründete. Van Reybrouck schreibt | |
lapidar, es sei „unmöglich“, eine Zahl zu nennen. Aber, das weiß er | |
trotzdem: „Es wäre absurd, in diesem Zusammenhang von einem Genozid oder | |
Holocaust zu sprechen“; es sei vielmehr „ein Blutbad von unglaublichem | |
Ausmaß, das nicht beabsichtigt wurde“. | |
An anderer Stelle führt er die hohe Opferzahl der Zwangsarbeit auf den | |
belgischen Kautschukplantagen auf den Einsatz einheimischer Wachleute | |
zurück: „Dass diese Praxis zwangsläufig zu Missständen führen würde, war | |
vorhersehbar.“ Immerhin gesteht Van Reybrouck zu: „Aber es handelte sich | |
nicht allein um Gewalt von Afrikanern gegen Afrikaner.“ | |
Den Freiheitshelden Lumumba, der bei der Unabhängigkeit Kongos | |
Premierminister wurde und Anfang 1961 in Katanga ermordet wurde, nennt Van | |
Reybrouck „zu sehr fixiert, Unsterblichkeit zu erlangen, zu verblendet | |
durch die Romantik des Panafrikanismus“. Er bestreitet, dass Belgien seine | |
Ermordung geplant habe, obwohl der Historiker De Witte Belgiens | |
Verantwortung minutiös nachgewiesen hat. Seit Jahren toben darüber heftige | |
Kontroversen, die Van Reybrouck nicht entgangen sein können. | |
## Ein Kongolese steht für alle | |
Deutsche Leser werden all das nicht merken, außer sie haben auch schon | |
diese ganzen Bücher gelesen. Problematisch ist dieses Vorgehen auch bei den | |
eigentlich sehr wertvollen Wiedergaben von Schilderungen kongolesischer | |
Zeitzeugen. Immer wieder rückt die Erinnerung einer Person an die Stelle | |
einer Gesamtdarstellung eines Ereignisses, so als stehe ein Kongolese für | |
alle und als gebe es keine unterschiedliche Perspektiven und Interessen. | |
Der AFDL-Soldat Ruffin ist ein spannender Gesprächspartner, aber seine | |
Erlebnisse können nicht die Gesamtheit des Kabila-Krieges gegen Mobutu | |
abdecken. Van Reybrouck zieht zwar noch einen zweiten dazu, Papy Bulaya, | |
aber es fehlt jede genauere Analyse der Motivationen und Interessen der | |
Akteure. | |
Wo es weder Literatur noch Gesprächspartner gibt, versagt auch Van | |
Reybroucks Erzählkunst. Die entscheidende Zeit zwischen Laurent-Désiré | |
Kabilas Ermordung im Januar 2001 und dem Friedensvertrag von Dezember 2002, | |
als die ausländischen Armeen abzogen, UN-Blauhelme einrückten und die | |
kongolesischen Kriegsparteien Frieden schlossen, handelt er in einem | |
einzigen Absatz ab. | |
## Folklore auf unterstem Niveau | |
So bleibt die spätere Dynamik der kongolesischen Politik, also der | |
Friedensprozess, die Wahlen und die Festigung eines autoritären Regimes | |
durch Kabilas Sohn und Nachfolger, unverständlich. Es gibt auch keine | |
vertiefte Darstellung der UN-Blauhelmmission im Kongo, und das Andauern | |
bewaffneter Konflikte im Ostkongo wird auf einen Machtkampf zwischen Kongo | |
und Ruanda reduziert, ohne lokale Gegebenheiten zu berücksichtigen. | |
Die bleiben Folklore auf unterstem Niveau: „Die Kämpfe waren ein Bacchanal | |
von Blut und Bier, ein Gelage mit gegrilltem Ziegenfleisch, weichem | |
Mädchenfleisch, kreischenden Stimmen, Pulverdampf, Mädchenfleisch, das doch | |
feucht wurde, na also, ein Rausch, ein Fluch, ein Karneval, eine | |
vorübergehende Umkehrung aller Werte, eine bewusste Transgression, ein | |
verbotener Genuss, durchdrungen von Angst, Schaudern und Humor, viel | |
Humor.“ | |
## Die Kongo-Falle | |
Van Reybrouck, das ist zu seinem Schutz zu sagen, ist keineswegs der | |
einzige Kongo-Autor, der in diese Falle tappt. Der US-Amerikaner Jason | |
Stearns, politischer Analyst und hervorragender Kenner der kongolesischen | |
Politik, hat in seinem in den USA marktführenden „Dancing in the Glory of | |
Monsters“ genau den gleichen Fehler gemacht: Er benutzt die Berichte | |
Einzelner als Ersatz für eine Gesamtdarstellung und stellt damit den | |
Kongokrieg als Ansammlung individueller Erlebnisse dar. Immerhin hat er | |
sich genauer überlegt als Van Reybrouck, welche Gesprächspartner welche | |
Facetten am besten illustrieren; aber wer Stearns aus dem Kongo kennt und | |
ahnt, was er eigentlich alles weiß, bleibt nach der Lektüre frustriert. | |
Selbst der auf Englisch publizierende französische Wissenschaftler Gérard | |
Prunier, dessen Kongo-Werk „From Genocide to Continental War“ Folgeband zu | |
seiner zum Standardwerk gewordenen Geschichte des ruandischen Völkermords | |
geworden ist, verfällt der Verführung der Ich-Form und gleitet am Schluss | |
seines Werkes in eine kuriose Abrechnung mit Ruanda ab. Einen | |
bemerkenswerten Querschläger hat die französische Wissenschaftlerin | |
Séverine Autesserre mit „The Trouble With The Congo“ geliefert, das Van | |
Reybrouck nicht gelesen zu haben scheint: Dieses Buch deckt schonungslos | |
die analytischen Fehler der UNO auf, die den Kongokrieg auf einen | |
regionalen Konflikt reduzieren, sich als Lösung auf die Festigung eines | |
starken kongolesischen Staates konzentrieren und die lokale Konfliktdynamik | |
im Ostkongo komplett ignorieren. | |
Diese analytischen Fehler sind auch die von Van Reybrouck. Doch ein Werk, | |
das die Dramen Ostkongos umfassend und verständlich und unter | |
Berücksichtigung aller Parteien und Gruppen darstellt, gibt es nirgends – | |
wohl auch deswegen, weil kein einzelner Beobachter gleichermaßen das | |
Vertrauen aller Seiten genießt und überall gleich gründlich recherchieren | |
könnte. | |
## Erst schreiben, dann lesen | |
Van Reybroucks Alleinstellungsmerkmal: andere Autoren haben sich erst mit | |
dem Kongo beschäftigt und dann beschlossen, das Erlebte in einem Buch zu | |
rationalisieren; Van Reybrouck beschloss, ein Buch zu schreiben, und begann | |
danach, sich mit dem Kongo zu beschäftigen. „Ich gehöre offensichtlich zu | |
jenem Schlag von Autoren, die halt die Bücher schreiben, die sie selbst | |
gern gelesen hätten“, schreibt er freimütig: Schon 2003, vor seiner ersten | |
Reise in das Land, habe er beschlossen, ein Kongobuch zum 50. Jahrestag der | |
Unabhängigkeit 2010 herauszubringen. Es war eine glänzende Geschäftsidee. | |
Das Buch wurde in den Niederlanden und in Flandern zum Bestseller, mit | |
200.000 verkauften Exemplaren. | |
Auf dem Cover prangt das Foto des Gesprächspartners, der Van Reybrouck am | |
meisten beeindruckt hat und den die Buchwerbung hervorhebt: Etienne Nkasi, | |
geboren 1882, zum Zeitpunkt seines ersten Treffens mit Van Reybrouck 125 | |
Jahre alt. Nkasi starb kurz vor Manuskriptabgabe. Van Reybrouck hat ihm | |
sowie dem neugeborenen Sohn des ehemaligen AFDL-Soldaten Ruffin sein Buch | |
gewidmet. Aber eine Widmung kann man im Kongo nicht essen. Vor Kurzem | |
berichtete eine belgische Zeitung, die Familie Nkasi habe den Autor wegen | |
der Bildrechte verklagt. | |
## David Van Reybrouck: „Kongo: Eine Geschichte“. Suhrkamp Verlag, Berlin | |
2012, 783 Seiten, 29,95 Euro | |
5 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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Kongo | |
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