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# taz.de -- Erstes Buch über NSU-Verbrechen: Mordende Mittelschichtskinder
> Christian Fuchs und John Goetz haben das erste Buch über den
> Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) geschrieben. Ein Schnellschuss
> ist „Die Zelle“ trotzdem nicht.
Bild: Verkappte Grüne? Das dachte eine Nachbarin, weil Zschäpe und Konsorten …
Ein gutes halbes Jahr ist es jetzt her, dass in Zwickau eine
Neonazi-Terrorzelle aufflog, die über Jahre hinweg unentdeckt in
Deutschland morden konnte. Noch ist weder das einzige noch lebende
NSU-Mitglied, Beate Zschäpe, noch einer ihrer mutmaßlichen Terrorhelfer
angeklagt.
Dennoch laufen die Programmvorschauen der Verlage nun über mit
Ankündigungen von Büchern zum NSU, die bald in den Läden stehen werden. Sie
heißen „Rechtsterrorismus in Deutschland“, „Das Zwickauer Terror-Trio“…
„Terror von Rechts“.
Das allererste dieser Bücher, „Die Zelle“, ist nun im Rowohlt Verlag
erschienen. Und auch wenn die Investigativjournalisten Christian Fuchs und
John Goetz einen Tick schneller waren als die Konkurrenz, haben sie keinen
Schnellschuss fabriziert. Im Gegenteil: Was man zum gegenwärtigen Stand der
Ermittlungen über den NSU sagen kann, haben sie aufgeschrieben. Sie haben
sich durch Tausende Seiten von Akten gewühlt und nach eigenen Angaben über
hundert Interviews geführt.
Penibel schildern sie die Radikalisierung des Trios, sein Abtauchen im
Januar 1998 und die später folgenden Morde und Überfälle des NSU, die in
irritierendem Kontrast zu den Urlauben der Neonazis auf Inseln wie Usedom
und Fehmarn stehen. Für „verkappte Grüne“ hielt sie eine ahnungslose
Nachbarin wegen der regelmäßigen Campingtrips und der Vorliebe für
Fahrräder.
Zugegeben: Vieles hiervon hat auch schon in Zeitungen und
Nachrichtenmagazinen gestanden, einiges auch in der taz, allerdings
verstreut in vielen einzelnen Artikeln und Meldungen. Schon lange ist es
für den Durchschnittsleser nicht mehr leicht, all den Details und Wendungen
zu folgen. Wer im verästelten NSU-Komplex den Überblick verloren hat,
sollte daher unbedingt „Die Zelle“ lesen.
## Wie konnten sie zu Mördern werden?
Das Buch ist aber zum Glück weit mehr als eine Zusammenfassung über den
NSU. Besonders aufschlussreich sind die ersten Kapitel der „Zelle“. Hier
versuchen Fuchs und Goetz die Biografien von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und
Beate Zschäpe bis zu deren Untertauchen so detailliert wie möglich zu
rekonstruieren und betten sie ein in die politischen Verwerfungen der
Nachwendezeit. Ihre zentrale Frage: Wie konnten drei ostdeutsche
Mittelschichtskinder zu Mördern werden?
Es gibt nicht den einen Grund, aber ohne die Umbrüche um 1990 und das
allgemeine Erstarken der rechtsextremen Szene damals ist die
Radikalisierung der drei kaum zu verstehen. Denn die in den Jahren nach der
Vereinigung in Jena immer offen neonazistischer auftretenden Jungrechten
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe waren ja keine Einzelgänger,
sondern konnten sich als Teil einer breiten braunen Bewegung im
wiedervereinten Deutschland sehen, wie die Autoren zu Recht schreiben. Eine
„Avantgarde“, die den vermeintlichen Volkswillen vollstreckte.
Zur Erinnerung: Zum Teil von johlenden Mengen angefeuert, griffen Neonazis
Anfang der 90er in ganz Deutschland Migranten an. Hoyerswerda,
Rostock-Lichtenhagen, schließlich die Mordanschläge von Mölln und Solingen.
Die Reaktion der Politik? Kanzler Kohl ließ eine Teilnahme an einer der
Trauerfeiern damals mit den Worten absagen, man wolle „nicht in einen
Beileidstourismus verfallen“. Stattdessen wurde das Asylrecht verschärft –
den Rechten musste das wie eine Belohnung für ihre Gewalt vorkommen.
Unterdessen ließen es die Behörden in Thüringen in den 90ern zu, dass
militante Neonazis Strukturen wie den „Thüringer Heimatschutz“ aufbauten;
Kritiker sagen, durch die hohen Geldzahlungen an V-Leute wurden diese sogar
noch gefördert. Drei aus dieser Truppe wählten den Weg in den Terror und
bildeten den NSU.
## Behörden behindern sich gegenseitig
Wie man spätestens seit dem Mitte Mai vorgestellten Bericht der sogenannten
Schäfer-Kommission weiß, hätten der Landesverfassungsschutz und die
Thüringer Polizei ihnen auf die Spur kommen können, ja müssen – wenn sie
nur ihren Job gemacht hätten. Doch stattdessen behinderten sich die
Behörden gegenseitig, 13 Jahre blieb der NSU unentdeckt.
Vier Untersuchungsausschüsse beschäftigen sich inzwischen mit einem
Versagen des Staates, das in der Geschichte der Bundesrepublik ohne
Beispiel ist. „Die NSU-Morde sind unser 11. September“, hat
Generalbundesanwalt Harald Range vor wenigen Wochen dazu selbstkritisch
gesagt.
Drei Jahre haben die USA damals gebraucht, um das Behördenversagen im
Zusammenhang mit den Anschlägen von New York und Washington von einer
Kommission aufarbeiten zu lassen, viele Fragen sind bis heute offen. Auch
beim NSU wird es lange dauern, bis alle Puzzleteile zusammengefügt sind.
Christian Fuchs, John Goetz: "Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland".
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012, 272 Seiten 14,95 Euro
9 Jun 2012
## AUTOREN
Wolf Schmidt
## TAGS
Schwerpunkt Rechter Terror
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