# taz.de -- NSU-Doku auf RTL: Biblisches Gleichnis | |
> Der Sozialarbeiter Thomas Grund lernte die späteren NSU-Terroristen in | |
> seinem Jenaer Jugendclub kennen. Jetzt schickt er Schüler auf | |
> Spurensuche. | |
Bild: Spurensuche, wo alles begann: Jena-Winzerla, wo die NSU-Terroristen sich … | |
Wäre es ein gewöhnlicher RTL-Film, würde bestimmt groß und laut | |
angekündigt: Exklusive Bilder! Exklusiv-Interview mit Beate Zschäpe! Zum | |
ersten Mal spricht die Terrorbraut im deutschen Fernsehen! | |
Doch es ist kein gewöhnlicher RTL-Film, er entstand in Zusammenarbeit mit | |
der evangelischen Kirche, so läuft alles ein bisschen bedächtiger. „Der | |
verlorene Sohn“ heißt er, wie das biblische Gleichnis. Der Titel sei aber | |
von ihm, sagt Andreas Kuno Richter, der Regisseur. Der Arbeitstitel war | |
„Hass“. | |
Das Interview mit Beate Zschäpe hat der [1][Sozialarbeiter Thomas Grund] | |
geführt, im Jahr 1991, Beate war damals 16. Sie kam oft in den Jugendclub | |
im Plattenbauviertel Jena-Winzerla, wo Grund bis heute arbeitet. Uwe | |
Mundlos war auch oft da, später auch Uwe Böhnhardt. Bis sie Hausverbot | |
bekamen. | |
In dem Video trägt Beate Zschäpe ein fliederfarbenes Top, ihre | |
schulterlangen braunen Haare leuchten in der Sonne; sie raucht und lacht in | |
die Kamera. Grund fragt, wie die Jugendlichen ihre Freizeit verbringen. | |
Beate antwortet wortkarg, sie war ein bisschen unsicher, erinnert sich | |
Grund heute. „Sie war ein ganz normales Mädchen. Völlig unpolitisch.“ Noc… | |
Dass Thomas Grund, genannt Kaktus, die jungen Menschen persönlich kannte, | |
die später in den Untergrund gingen, machte ihn zu einem gefragten | |
Gesprächspartner. Nachdem die NSU-Zelle aufflog, führte er Journalisten in | |
die alte, mit Graffiti vollgesprühte Baracke des Jugendclubs, der | |
inzwischen in einen Neubau gezogen ist. | |
Grund duckte sich nicht weg, er versuchte einzuordnen und zu erklären. Im | |
Dezember hatte „der Mann mit dem stacheligen Spitznamen“, wie er im Film | |
vorgestellt wird, dann eine Idee: Ein Videoworkshop mit Jugendlichen in dem | |
Alter, in dem er die späteren Rechtsterroristen kennenlernte. Sie sollen | |
nachspüren, wie es zu der Radikalisierung kommen konnte. Filmemacher | |
Richter las davon in der Lokalzeitung, er kannte Kaktus von früher, sprach | |
ihn an. | |
## Zweifel an Privatsender | |
Grund war skeptisch: „Wenn ich RTL höre, ist erst mal eine Jalousie unten.“ | |
In Jena an sich sind die Vorbehalte gegenüber dem Fernsehen grundsätzlich | |
groß. Die ZDF-Kultursendung „Aspekte“ strahlte im November einen Beitrag | |
aus, in dem Jena als „kein Paradies für Leute mit Migrationshintergrund“ | |
bezeichnet und von einer „ostdeutschen Angstzone“ gesprochen wurde. Es ging | |
ein Shitstorm von Thüringen nach Mainz. | |
Richter hat Erfahrung mit schwierigen Stoffen. Seine Dokumentation „Der | |
Verrat“ etwa handelt von Kindern, die von der Stasi als Spitzel missbraucht | |
wurden. Dafür bekam er 2011 den Bayerischen Fernsehpreis. Auch dieser Film | |
entstand in Zusammenarbeit mit der evangelischen Kirche. | |
Ausgehend vom Rundfunkstaatsvertrag gibt es eine Vereinbarung mit den | |
Kirchen, dass sie am Fernsehprogramm mitwirken dürfen. Bei RTL entstehen | |
auf diese Weise zwei bis drei Dokumentationen im Jahr. | |
## Die Eltern von Böhnhardt | |
In Jena musste Andreas Kuno Richter viel Überzeugungsarbeit leisten. Die | |
Regelschule in Winzerla wollte nicht mitmachen, die Lobdeburgschule sagte | |
dann zu. Hier ging Uwe Böhnhardt zur Schule. Fünf Schüler der elften Klasse | |
stehen jetzt „als Identifikationsebene für jüngere Zuschauer“, wie es | |
Produzent Thorsten Neumann ausdrückt. Sie haben Briefe geschrieben an die | |
Eltern der NSU-Mitglieder, auch an Beate Zschäpe im Gefängnis. Ob sie diese | |
gelesen hat, wissen sie nicht. Mit den Eltern von Uwe Böhnhardt konnten sie | |
sprechen. | |
Die Schüler filmten selbst mit kleinen Videokameras, ihre Aufnahmen konnten | |
aber aus Qualitätsgründen nur teilweise verwendet werden. Aber, das ist | |
Regisseur Richter wichtig, die Schüler haben die Interviews allein geführt. | |
„Sie haben auch Fragen gestellt, die ich selbst nie gestellt hätte.“ | |
Im Film kommen Dinge zur Sprache, die sonst gerne vernachlässigt werden. | |
Etwa, dass es auch in der DDR Rechtsradikale gab. Die Stasi wusste das und | |
versuchte zugleich, es herunterzuspielen. Roland Jahn schildert diesen Teil | |
der Geschichte, der aus Jena stammt und heute Chef der | |
Stasiunterlagenbehörde ist. | |
Dass auch ein Pfarrer auftritt in einem Film, der mit „theologischer | |
Beratung“ der Kirche entstanden ist, überrascht nicht. [2][Lothar König] | |
hätte diesen Part übernehmen sollen, der Stadtjugendpfarrer, der seit | |
Langem gegen Nazis kämpft, laut und fordernd. | |
## Reinwaschen | |
Es hätte eine interessante Diskussion werden können über die „akzeptierende | |
Jugendarbeit“, die im Jugendclub in Jena-Winzerla Konzept war. Thomas Grund | |
findet nach wie vor, „dass es gut war, dass wir Gruppen gemischt haben. | |
Dass wir versucht haben, rechtes Denken abzubauen.“ Sonst hätte es noch | |
viel mehr rechtsextreme Jugendliche gegeben. | |
Aber Pfarrer König wollte nicht mitmachen. Er wirft Kaktus und der | |
Lobdeburgschule vor, sich reinwaschen zu wollen. Er hält sie für | |
mitverantwortlich für die rechtsextreme Radikalisierung von Jugendlichen in | |
den 90ern. Es habe bei Sozialarbeitern und Lehrern „politisches | |
Bewusstsein“ gefehlt. | |
Im Film kommt also eine andere Pfarrerin zu Wort. Sie hat in Jena-Lobeda | |
ihre Pfarrei, gleich um die Ecke vom „Braunen Haus“, wo sich bis vor | |
einiger Zeit Nazis trafen. Sie spricht von Gut und Böse und „dass keiner | |
von uns gefeit ist davor, so richtig Schlimmes zu tun.“ | |
„Der verlorene Sohn“ ist keiner dieser aktuellen Politdokus mit | |
investigativer Recherche, nachgestellten Szenen und Geheimpapieren, die an | |
die Wand projiziert werden. Er wirkt wie gemacht für Leute, die sich mit | |
dem Thema Rechtsextremismus und speziell der NSU-Zelle bislang nicht | |
ausführlich beschäftigt haben. Die Macher hoffen, dass der Film aufrüttelt, | |
er soll später auch in Schulen und in der Jugendarbeit eingesetzt werden. | |
Bisweilen wirkt das Schülerprojekt im Film etwas konstruiert. Es wird auch | |
nicht so richtig klar, was die Jugendlichen von heute eigentlich bewegt, | |
außer dass sie es unfair finden, dass „durch die Aktion der Nazis“ Jena | |
jetzt einen schlechten Ruf hat. Und dass es sie ankotzt, „das Leute sich | |
selbst nicht hinterfragen“. | |
Vielleicht wurde auch einfach zu viel reingepackt in die 50-Minuten-Doku: | |
Der Neonazi-Aussteiger Manuel Bauer, der mit der ganzen Geschichte nur | |
indirekt zu tun hat. Sebastian Krumbiegel, Sänger der Prinzen, der von | |
Nazis verprügelt wurde, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse und Jenas | |
Oberbürgermeister Albrecht Schröter. Thomas Grund würde gerne einen zweiten | |
Teil machen, mit alle den Aufnahmen, die es nicht oder nur kurz in den Film | |
geschafft haben. Er versucht jetzt, eine Finanzierung dafür zu bekommen. | |
## Nicht anklagend | |
Der evangelischen Kirche war der Aspekt Menschenwürde wichtig, die von Gott | |
gegeben ist. „Es ging auch darum, keine Sippenhaftung herzustellen“, sagt | |
Markus Bräuer, Medienbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. | |
Dieses Ziel wurde erfüllt. Der Film nimmt Jena in Schutz, er klagt nicht | |
an, er hat viel Verständnis – auch mit den Eltern von Uwe Böhnhardt. | |
Das Gespräch, das die Schüler mit ihnen führen, steht im Zentrum des Film. | |
Es ist mehr Dialog als Interview. Brigitte Böhnhardt erzählt von dem | |
Doppelleben ihres Sohnes und gibt den Jugendlichen mit auf den Weg: „Passt | |
auf, was ihr für Freunde habt. Sagt gleich, den Scheiß mach ich nicht mit, | |
auch wenn es der allerbeste Freund ist.“ | |
Eine Sache wirkt seltsam beim Gespräch: Die Böhnhardts sind nur von hinten | |
zu sehen. Das liegt daran, dass die Jenaer Schüler das erste | |
Fernsehinterview mit ihnen führten. Sie sagten zu, weil sich junge Leute, | |
so alt wie ihr Sohn damals, sich für die Geschichte interessierten. Damals | |
wollten die beiden nicht erkannt werden. Inzwischen wurden aber bereits | |
zwei Filme ausgestrahlt, in denen die Böhnhardts ausführlich zu Wort kommen | |
– mit dem Gesicht in die Kamera. | |
Im RTL-Film sitzen jetzt also die drei interviewenden Schüler auf dem Sofa, | |
auf der Lehne zwei Teddybären. Ein Schüler schaut mit leerem Blick in die | |
Kamera. Eine der Schülerinnen hat Tränen in den Augen. | |
„Der verlorene Sohn. Uwe Böhnhardt“, So., 15. 7., 23.25 Uhr, RTL | |
15 Jul 2012 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Erb | |
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