# taz.de -- G-20-Gipfel in Mexiko: Streber mit begrenzter Kraft | |
> Auf den Finanzmärkten wird wild spekuliert, zugleich fallen ganze | |
> Exportmärkte aus. Die wichtigsten Politiker der Welt setzen auf China. | |
> Doch das Land hat eigene Probleme. | |
Bild: China steht ökonomisch vor schwierigen Zeiten, der Bedarf an Wohnraum is… | |
PEKING taz | Die Hoffnung liegt im Fernen Osten: Wenn sich die 20 | |
wichtigsten Industrie- und Schwellenländer am Montag und Dienstag im | |
mexikanischen Los Cabos zu ihrem nun schon siebten gemeinsamen Gipfel seit | |
Beginn der Finanzkrise treffen, wird es wieder um Krisen gehen. Vor allem | |
um die Krisen Europas. | |
Denn nicht nur dass die Europäer nicht mehr allein klarkommen. Sie könnten | |
auch den Rest der Welt mit ins Verderben reißen. Deshalb erbitten sie | |
nicht, nein, sie erwarten Schützenhilfe. In ihrer Regierungserklärung vor | |
dem G-20-Gipfel erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), alle | |
G-20-Länder seien „in der Pflicht“. | |
Die Eurozone könne nicht allein für ein „starkes und nachhaltiges Wachstum | |
sorgen“. „Nicht allein“ ist dabei geschönt. Denn derzeit wächst die | |
Eurozone gar nicht. Im Gegenteil: Die Europäische Zentralbank geht davon | |
aus, dass die Wirtschaft um 0,1 Prozent schrumpft. Die | |
Industrieländerorganisation OECD warnt sogar vor einer „schweren | |
Rezession“. | |
Und auch die US-Wirtschaft ist keine große Hilfe; nach dem ersten Quartal | |
scheint alles auf ein mageres Jahreswachstum von 1,9 Prozent | |
hinauszulaufen. Bleibt also China: Hier rechnet die Weltbank für 2012 mit | |
einem Zuwachs von 8,2 Prozent. Nur: Das wäre der schwächste Zuwachs seit | |
zehn Jahren. | |
## Traumzahlen im Vergleich zum Westen | |
Die Regierung dämpft die Erwartungen sogar und spricht nur noch von 7,5 | |
Prozent. Im Vergleich zum kriselnden Westen sind das freilich Traumzahlen. | |
Doch für das in weiten Teilen nach wie vor unterentwickelte Land mit hohem | |
Nachholbedarf ist es schon ein deutlicher Einbruch. | |
Und so reißen denn auch die Negativmeldungen über den Zustand der | |
chinesischen Wirtschaft derzeit nicht ab: Überinvestitionen im Staatssektor | |
bei zugleich zunehmendem Rückgang vor allem im Exportsektor – sogar erste | |
Fabriken im bislang so stark boomenden Süden des Landes machen dicht. | |
Ende Mai sah sich die chinesische Zentralbank erstmals seit fast vier | |
Jahren veranlasst, den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte zu senken, um die | |
Unternehmen mit billigeren Krediten zu Investitionen zu verlocken. Als | |
Wachstumsmotor unter den G-20-Staaten und für die Weltwirtschaft insgesamt | |
fällt die zweitgrößte Volkswirtschaft also vorerst aus. | |
Und angesichts der Stagnation auch des Außenhandels zeichnet sich ab, dass | |
nicht China das schuldengeplagte Europa aus dem Rezessionsstrudel zieht, | |
sondern dass umgekehrt Europa China mit sich in die Tiefe reißt. | |
## Strukturelle Probleme des Wirtschaftsystems | |
Plötzlich rücken auch die strukturellen Probleme des chinesischen | |
Wirtschaftssystems wieder in den Vordergrund: die staatlichen Banken mit | |
ihrem starren Zinssatz etwa, die vor allem die großen Staatsbetriebe | |
päppeln, aber nur wenig Interesse daran haben, dem Privatsektor zu helfen. | |
Die zentrale Frage ist jedoch gar nicht so sehr, wie es China momentan | |
geht, sondern wohin das Land langfristig steuert. Hat die so rasant | |
gewachsene Volksrepublik den Zenit erreicht? Stößt sie an ihre Grenzen? Und | |
droht gar ein Crash? | |
Immerhin lehrt auch die Erfahrung aus anderen Ländern wie etwa Japan Ende | |
der 1980er oder Südkorea Ende der 1990er Jahre, dass allzu hitzige | |
Boomphasen früher oder später ein abruptes Ende finden. Tatsächlich steht | |
China ökonomisch vor schwierigen Zeiten. | |
Das gigantische Konjunkturpaket von 2009 und die zugleich allzu großzügige | |
Kreditvergabe hat den Staats- und vor allem den Immobiliensektor in den | |
vergangenen drei Jahren künstlich aufgebläht und zu einer Reihe von | |
Fehlinvestitionen geführt. Der Immobilienmarkt muss nun abgekühlt werden. | |
## Schwacher Binnenkonsum | |
Das ist gar nicht so leicht. Denn einmal in Schwung gebracht, kennt er nur | |
den steilen Anstieg nach oben oder den freien Fall nach unten. Auch der | |
weiterhin schwache Binnenkonsum zeigt: China ist weit von einer robusten | |
und sich selbst tragenden Wirtschaftsentwicklung entfernt. | |
Der Berkeley-Ökonom Barry Eichengreen glaubt sogar, dass in China die Falle | |
der mittleren Einkommen (Mid Income Trap) zuschnappen wird. Dieser Theorie | |
zufolge basiert das Wachstum bei aufholenden Ländern viele Jahre lang | |
darauf, dass Know-how aus dem Ausland aufgesaugt wird und billige | |
Arbeitskräfte vom Land zur Verfügung gestellt werden. | |
Hat ein Land ein bestimmtes Entwicklungsniveau aber erst einmal erreicht, | |
sei es durch vollendete Verstädterung, eine alternde Bevölkerung oder | |
schlicht durch Sättigung der Märkte, dann kommt es darauf an, ob es dem | |
Land gelingt, neue Wachstumsimpulse zu schaffen. | |
Sprich: Sie müssen neue Ideen hervorbringen, durch die sie sich von den | |
Industrieländern unterscheiden. Während das Wachstum bei sich noch | |
entwickelnden Länder darauf beruht, Ressourcen zu mobilisieren, kommt es | |
bei entwickelten Ländern darauf an, wie sie diese Ressourcen effizient | |
einsetzen. Dieser Schritt ist jedoch sehr viel schwieriger. | |
## Die Hälfte der Bevölkerung lebt auf dem Land | |
Wie Anfang der 1980er Jahre in Lateinamerika droht Eichengreen zufolge | |
China ein ähnliches Schicksal. Befindet sich China nun in diesem Stadium? | |
Nein, widerspricht ihm der in Peking lebende US-Ökonom Arthur Kroeber. | |
Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebe noch immer auf dem Land. | |
In anderen aufstrebenden Schwellenländern stagnierte die Wirtschaft erst, | |
als der Anteil der Bauern auf unter 20 Prozent geschrumpft war. „Die | |
Chinesen werden noch ein weiteres Jahrzehnt benötigen, bis sie dieses | |
Niveau erreicht haben“, ist Kroeber überzeugt. Solange weiterhin so viele | |
Menschen in die Städte strömen, bleibe das Wachstum hoch. | |
Und das bezieht er auch auf Chinas angeblich überhitzten Immobilienmarkt. | |
Die Preise für Wohnungen und Häuser haben sich in einigen Metropolen | |
innerhalb weniger Jahre verdoppelt und verdreifacht. Dennoch sei China weit | |
von US-Verhältnissen vor dem Platzen der Immobilienblase 2008 entfernt. | |
Und tatsächlich: Anders als in den USA bleibt der Bedarf an Wohnraum in | |
China groß. Ein Drittel der rund 225 Millionen Haushälter in den Städten | |
lebt noch immer in Wohnungen ohne eigene Küche und eigenes Bad. | |
## Gewaltiger urbaner Zustrom | |
Weitere 300 Millionen Menschen werden in den nächsten 20 Jahren vom Land in | |
die Städte ziehen. Um diesen Zustrom zu bewältigen, muss China bis 2030 | |
weitere 10 Millionen Wohneinheiten bauen. Jährlich. In den vergangenen | |
Jahren waren es gerade mal 7 Millionen. | |
Nach Ansicht von Kroeber steht China vor einem anderen Problem: der | |
Verteilungsfrage. 35 Prozent des landesweiten Vermögens entfallen auf die | |
obersten 2 Prozent. „China wird die Vereinigten Staaten als größte | |
Volkswirtschaft schon bald vom Thron stoßen“, so der US-Ökonom. Doch | |
solange das Gerechtigkeitsproblem nicht angegangen wird, bleibe das Land | |
„zweitklassig“. | |
18 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
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