# taz.de -- Urteile gegen Argentiens Ex-Diktatoren: Enkel 101 | |
> Argentiniens Ex-Diktatoren Jorge Videla und Reynaldo Bignone sind erneut | |
> zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Diesmal ging es um die geraubten | |
> Kinder Oppositioneller. | |
Bild: Ohne Reue: Argentiens Ex-Diktator Jorge Videla (li.) und seine Mitangekla… | |
BUENOS AIRES taz | An seinem 35. Geburtstag sitzt Francisco Madariaga | |
Quintela in Buenos Aires im Gerichtssaal. Ob er tatsächlich am 5. Juli | |
geboren ist, weiß er nicht. | |
Die Militärs hatten den 7. 7. 1977 in seine Geburtsurkunde eingetragen. Ein | |
Spleen der Militärs sei dieses Zahlenspiel gewesen, sagt er. Vor einigen | |
Monaten hat er das Geburtsdatum ändern lassen. Er ahnte nicht, dass an | |
diesem Datum ein auch für ihn historisches Urteil gesprochen werden wird. | |
Francisco hört wie, der ehemalige Diktator Jorge Rafael Videla wegen | |
Kindesraub zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt wird. Das 6. Bundesgericht in | |
Buenos Aires spricht den 86-jährigen Videla als Hautschuldigen für den | |
systematischen und geplanten Raub von Kindern politischer Gefangener | |
während der Militärherrschaft von 1976 bis 1983 schuldig. | |
Sechs mitangeklagte ehemalige Militärs erhalten Strafen zwischen 40 und 10 | |
Jahren Gefängnis. Ein Adoptivelternpaar wird zu 15 sowie 5 Jahren Gefängnis | |
verurteilt. Lediglich ein früherer Admiral und ein ehemaliger | |
Geheimdienstmitarbeiter werden freigesprochen. | |
## Ins Meer geworfen | |
Neben Francisco im Gerichtssaal sitzt Estela de Carlotto, die Präsidentin | |
der Großmütter der Plaza de Mayo. Sie hatte Francisco vor zwei Jahren | |
erzählt, wer seine wirklichen Eltern sind. Und dass seine Mutter Silvia | |
Quintela am 17. Januar 1977 entführt und ins Gefangenenlager Campo de Mayo | |
verschleppt worden war. Dort kam er in einer geheimen Entbindungsstation | |
zur Welt. | |
Wenige Stunden nach der Geburt wurden Francisco und seine Mutter für immer | |
getrennt. Silvia Quintela wurde bei der ersten Gelegenheit abtransportiert | |
und wahrscheinlich bei einem der Todesflüge über dem Atlantik ins Meer | |
geworfen. Sein Vater Abel Madariaga hat die Diktatur im Exil überlebt. | |
Heute, im Gerichtssaal, sitzt er hinter seinem Sohn. | |
Die Menschenrechtsorganisation Großmütter der Plaza de Mayo schätzt, dass | |
rund 500 Säuglinge ihren Müttern in Folterzentren weggenommen und heimlich | |
Adoptiveltern übergeben wurden. Die inhaftierten Frauen wurden nach der | |
Geburt ermordet. Viele zählen zu den Verschwundenen der Diktatur, da ihr | |
Schicksal bis heute unklar ist. Durch intensive Suche konnten die Abuelas | |
über 100 geraubte Enkelkinder ausfindig machen. Francisco ist Enkel 101. | |
## Systematischer Plan | |
In dem gut eineinhalb Jahre dauernden Verfahren wurden 35 exemplarische | |
Fälle von Kindesraub verhandelt. Sie sollten zeigen, dass den Verbrechen | |
ein systematischer Plan zur illegalen Aneignung der Neugeborenen zugrunde | |
lag. Die Fälle ereigneten sich in neun geheimen Gefangenenlägern. Der | |
wichtigste Beweis der Anklage waren die eigens für die Geburten in einigen | |
Lagern eingerichteten geheimen Entbindungsstationen. | |
Von den 35 in der Haft geborenen konnten 26 ihre wahre Identität | |
herausfinden. Von den anderen fehlen die Spuren. Die Militärs hatten den | |
Plan nicht in der Tasche, als sie sich am 24. März 1976 an die Macht | |
putschten, sagte Staatsanwalt Martín Niklison. Sie sahen sich ganz einfach | |
mit der Tatsache konfrontiert, dass unter den entführten und verschleppten | |
Regimegegnern schwangeren Frauen waren. Darauf mussten sie reagieren. Eine | |
geplante Reaktion war der Bau der Kreissäle in den Lagern, so Niklison. | |
Der Prozesstag, an dem Ex-Diktator Videla keine Reue zeigte, war für viele | |
schwer zu ertragen. Einen Plan hat es nicht gegeben, „dagegen strikte | |
Anweisungen, die schutzlosen Kinder den Familienangehörigen zu übergeben“, | |
sagte Videla in seinem Schlusswort. Er nannte die Mütter „Terroristinnen“. | |
Als „aktive Militante der Maschinerie des Terrorismus“ haben sie ihre | |
ungeborenen Kinder als menschliche Schutzschilde benutzt, so Videla. Den | |
kommenden Urteilsspruch werde er als Beitrag zur Aussöhnung und als | |
weiteren Dienst für das Vaterland annehmen. | |
## Wut und Erleichterung | |
Neues oder Hinweise zum Schicksal der verschwundenen Kinder, Mütter und | |
Väter haben weder Videla noch die anderen Militär preisgegeben. Jetzt | |
sitzen Videla und die anderen Angeklagten ein paar Stuhlreihen vor | |
Francisco. Als Richterin María del Carmen Roqueta das Strafmaß für das | |
Adoptivelternpaar verkündet, ringt Francisco mit den Tränen. Der ehemalige | |
Heeresoffizier Víctor Gallo und Susana Inés Colombo waren seine | |
Adoptiveltern. Als die Worte „15 Jahre“, „5 Jahre“ fallen, presst er die | |
Lippen zusammen, unterdrückt den Schrei aus Wut und Erleichterung. | |
„Über 32 Jahre haben sie mir das Recht genommen, bei meinem Vater zu sein | |
und zu wissen, wer meine Mutter ist.“ Vater Abel legt ihm die Hand auf die | |
Schulter. Vor dem Gerichtsgebäude haben die Großmütter eine Bühne aufbauen | |
lassen. Hunderte sind gekommen und verfolgen die Übertragung der | |
Urteilsverkündung auf einem Großbildschirm. | |
„Historisches Urteil“; „Gerechtigkeit nach all den Jahren“ ist zu höre… | |
und der Dank an den verstorbenen Néstor Kirchner, während dessen | |
Präsidentschaft die juristischen Aufarbeitung der Diktatur wieder Fahrt | |
aufnahm. Danach ausgelassene Freude und Feierstimmung pur. | |
6 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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