| # taz.de -- Politikwissenschaftler zu Syrien: „Assad hätte die Kurve kriegen… | |
| > Diejenigen, die in Syrien für Wahlen kämpfen, werden nicht die sein, die | |
| > sie gewinnen. Und die, die Wahlen gewinnen könnten, kämpfen nicht, sagt | |
| > der Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik. | |
| Bild: Syrischer Flüchtling in Amman, Jordanien. | |
| taz: Herr Perthes, Sie sind ein ausgewiesener Kenner der syrischen | |
| Regierung. Haben Sie auch, so wie Herr Todenhöfer, um ein Interview mit | |
| Baschar al-Assad ersucht? | |
| Volker Perthes: Nein, Baschar al-Assad ist niemand, der sich mit | |
| Wissenschaftlern trifft. Außerdem: Wenn ein Diktator ein Interview gibt, | |
| dann will er Garantien haben, dass er sich auf eine ihm genehme Weise | |
| präsentieren kann. Es ist nicht meine Aufgabe, die Darstellung eines | |
| Regimes zu fördern. | |
| Arbeitet sich die deutsche Öffentlichkeit zu sehr an den Machthabern ab? | |
| Das finde ich nicht. Die Medien lassen die Opposition und die | |
| Zivilgesellschaft doch zu Wort kommen. Und etwa das Auswärtige Amt oder | |
| auch das BMZ, führen sehr sinnvolle Projekte zur Unterstützung der | |
| Zivilgesellschaft durch. Hier geht es darum, wie man die Wirtschaft nach | |
| einem Systemwechsel wiederaufbaut, wie das mit der Justiz oder der | |
| Verfassung am Tag danach aussieht. | |
| Manche sagen, nicht nur Russland will keinen Regimewechsel, sondern auch | |
| die USA wollten Assad halten. Hinsichtlich Israel – Stichwort Stabilität – | |
| hat er ja gut funktioniert. | |
| Das ist eine interessante Verschwörungstheorie. Richtig ist, dass zu Beginn | |
| der Aufstände die USA, Katar, Saudi-Arabien und auch die Türkei keinen | |
| gesteigerten Wert auf einen neuen Unruheherd in der Region legten. Man war | |
| ja schon mit Ägypten und Tunesien beschäftigt. | |
| In den ersten drei Monaten des Aufstands, also von März bis Mai 2011, hat | |
| Frau Clinton Assad als „Reformer“ bezeichnet, und damit zu einem Zeitpunkt, | |
| an dem ich das schon sehr unangemessen fand. Allerdings: Wenn Assad gewollt | |
| hätte, hätte er die Kurve kriegen können. Es hätte den großen Absturz nicht | |
| geben müssen. | |
| Wie schätzen Sie das gegenwärtige Kräfteverhältnis in Syrien ein? | |
| Noch hält das Regime ziemlich eng zusammen. Etwa 20 Prozent der Syrer | |
| stehen noch hinter Assad. Wir können das natürlich nicht genau sagen, aber | |
| die Zahlen halten auch oppositionsnahe Forscher für realistisch. | |
| Sie reden von den Alawiten, Händlern und den Minderheiten? | |
| Nein, das ist zu einfach. Es gibt auch Alawiten oder Christen in der | |
| Opposition. Weitere 25 bis 30 Prozent stehen nicht hinter Assad, aber auch | |
| nicht aufseiten der Opposition. Sie haben einfach Angst vor einem | |
| Bürgerkrieg. Das ist menschlich. Wären wir Syrer, vielleicht gehörten wir | |
| auch zu ihnen. | |
| Und auf der anderen Seite? | |
| Da sind vielleicht 20 Prozent bereit, auch ihr Leben für einen Wechsel zu | |
| opfern. Und vielleicht 20 bis 25 Prozent wollen unbedingt den Wechsel, aber | |
| riskieren dafür nicht ihr Leben. | |
| Sind 40 bis 50 Prozent denn genug, um einen Regimechange zu legitimieren? | |
| Welche Revolution hat schon eine 90-prozentige Unterstützung? Außerdem: | |
| Selbst wenn 30 Prozent der Syrer noch hinter Baschar stehen – er treibt das | |
| Land in den Abgrund. | |
| Was folgt daraus? | |
| Idealerweise sollten Assad und seine Familie das Land verlassen. | |
| Die „jemenitische Lösung“? | |
| So unschön das ist: Es gibt zur Verhandlung mit den Machthabern keine | |
| Alternative. Beziehungsweise heißt die Alternative Bürgerkrieg. | |
| Wer könnte heute für eine Übergangsregierung infrage kommen? Die | |
| Auslandsopposition ist ja doch arg zerstritten. | |
| Ja, in der Auslandsopposition herrscht keine vernünftige Gesprächskultur, | |
| die einen bezeichnen die anderen als Verräter, das ist nicht gut. Aber: Die | |
| meisten Mitglieder des Oppositionsrates haben ja bis vor Kurzem in Syrien | |
| gelebt, sie sind in einem diktatorischen System sozialisiert worden. Wo | |
| sollten sie eine Streitkultur gelernt haben? | |
| Und in Syrien selbst? | |
| Dort haben wir die „No-Name-Opposition“ und die vielen | |
| Organisationskomitees, wo junge Leute seit eineinhalb Jahren dafür sorgen, | |
| dass Leute unter großen Gefahren auf die Straße gehen und wir per | |
| YouTube-Videos darüber informiert werden. Führungsstrukturen gibt es dort | |
| kaum – und es ist auch gut, dass diese Leute ohne Namen sind. Denn wären | |
| sie bekannt, würden sie möglicherweise nicht überleben. Sie sind das | |
| Rückgrat der Revolte. | |
| Könnten dieses „No-Names“ eine Übergangsregierung formen? | |
| Die traurige Antwort ist: Ich glaube nicht. Die jungen Leute werden nicht | |
| diejenigen sein, die morgen in den Ministerien sitzen. Ich bin immer sehr | |
| beeindruckt von diesen Leuten, sie riskieren sehr viel, und ihnen geht es | |
| nie um die Macht. Das unterscheidet sie von vielen Exilpolitikern. Sie | |
| wollen einfach das Regime weghaben. Die Parteien werden andere gründen. | |
| Das ist nicht sehr strategisch. | |
| Nein, aber es ist ethisch hoch verantwortlich. Es wird in Syrien ähnlich | |
| sein wie in Ägypten oder Tunesien: Die Leute, die die Wahlen möglich | |
| gemacht haben, werden nicht die Gewinner der Wahlen sein. Und die Gewinner | |
| der Wahlen werden sie nicht möglich gemacht haben. Vielleicht ist das auch | |
| eine Form von revolutionärer Arbeitsteilung. War das in der DDR nicht | |
| genauso? Die, die hinterher gewählt wurden, kamen ja erst, nachdem andere | |
| protestiert und das System „abgenutzt“ haben. | |
| Wird Syrien der nächste Failed State? | |
| Das ist meine Angst. Je länger der Bürgerkrieg jetzt dauert, desto | |
| schwieriger wird es, das Land anschließend wieder zusammenzubauen. Schon | |
| jetzt gibt es erste Gewalt auf ethnischer Grundlage. Wir kennen das aus | |
| Libanon oder aus Bosnien. Diese Gewalt löst eine enorme Dynamik von Rache | |
| und wieder Rache aus. Jeder Tag mehr macht es schwieriger, nicht nur einen | |
| Staat, sondern auch eine Gesellschaft wiederaufzubauen. | |
| Wie groß ist die Gefahr für Israel? | |
| Die Israelis hätten einen Friedensvertrag mit Syrien haben können. Assad | |
| war dazu bereit, aber es kam nicht dazu. In Ägypten können wir sehen, dass | |
| auch die Nachfolger von Mubarak nicht gegen Israel vorgehen. Ohne | |
| Friedensvertrag aber wird das schwieriger. Umso wichtiger ist es, den | |
| Bürgerkrieg in Syrien zu beenden und anschließend alle an einen Tisch zu | |
| bekommen. | |
| 15 Jul 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Ines Kappert | |
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