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# taz.de -- Tibetische Halbnomaden in China: Am Rande des Dachs der Welt
> Die Hirten im tibetischen Hochland müssen immer höher hinauf ins Gebirge,
> um Gras für Yaks und Schafe zu finden. Die Regierung will sie
> zwangsansiedeln.
Bild: Sangmo beim Melken ihres Yaks. Sie lebt mit Töchtern und Enkeltöchtern …
XIAHE taz | Die Wacholderzweige hat Sangmo sorgfältig zusammengelegt. Dann
formt sie aus Yakbutter kleine Figuren, malt sie mit knalligen Farben an
und stellt sie auf eine Kupferschale. Sie symbolisieren ihre drei
Enkelkinder.
Wie viele Tibeterinnen vom Land hat sie die langen schwarzgrauen Haare zu
einem dicken Zopf verflochten, damit sie ihr nicht ins Gesicht fallen. Um
die Hüfte trägt sie ein mehrlagiges Gewand. Die Figuren legt sie mit einer
brokatbestickten Decke, der Puja, auf die Feuerstelle und zündet die Zweige
an. Weißer Rauch steigt über dem Lehmaltar im Innenhof auf. „Om mani peme
hung“, murmelt Sangmo vor sich hin, das Mantra des Mitgefühls von
Bodhisattva, dem höchsten Buddha der Tibeter.
Es ist ein Ritual, wie es die 62-Jährige mehrfach im Jahr begeht. Im
Februar begrüßt Sangmo auf diese Weise das tibetische Neujahr. Im Frühjahr
leitet sie damit das große Gebetsfest ein, das fünf Tage später mit dem
Butterlampenfest endet. Und auch beim Fest zur Vertreibung der bösen
Geister im Herbst ist es Sangmo, die den Altar anzündet und eine Puja
opfert. An diesem Frühsommermorgen begeht sie das heiligste Fest der
Tibeter überhaupt – Saga Waga. Gleich drei Ereignisse fallen auf diesen
Tag: die Geburt Buddhas, sein Tod und seine Erleuchtung. Als Oberhaupt der
Familie fällt ganz allein Sangmo die Rolle zu, das heilige Ritual zu
gestalten.
Sangmo hat zwei Töchter. Dolma ist 26, Tsomo 21 Jahre alt. Sangmo, ihre
Töchter und drei Enkelkinder wohnen gemeinsam auf Sangmos Hof, mitten im
Grasland auf 3.000 Meter Höhe, in der chinesischen Provinz Gansu am Rande
des tibetischen Hochlands. Vom Hof aus blickt Sangmo ins weidenbewachsene
Tal, wo eine Straße ins 30 Kilometer entfernte Xiahe führt. Das Gras ist
jetzt saftig grün. In der Ferne erheben sich schneebedeckte Gipfel. Nach
Lhasa, der Hauptstadt Tibets, sind es rund 1.000 Kilometer.
## Bei seiner zweiten Frau
Die Ehemänner der Töchter heißen Khenpu und Nangwa. Sie sind Halbnomaden.
Die Sommermonate verbringen sie bei ihren Schaf- und Yakherden im Hochland.
Yaks, eine langhaarige Rinderart, liefern den Tibetern seit Jahrhunderten
ihre Lebensgrundlage: Fleisch, Milch und Käse zum Essen, Wolle und Felle
für Kleidung und Zelte, Dung als Brennmaterial – und außerdem die
unentbehrliche Yakbutter. Auch Sangmos Gatte ist nur selten auf dem
Anwesen. Entweder hält er sich bei seiner Herde auf oder auf dem Hof seiner
zweiten Frau.
Bis heute bekleiden Frauen im ländlichen Tibet nur selten hohe Ämter in der
Verwaltung. Und auch in Klöstern stehen ihnen – es gibt einige wenige
Frauenklöster – kaum Karrieren offen. Innerhalb der Familie, des Hauses
aber treffen sie die Entscheidungen. Sangmo, Dolma und Tsomo sind sowohl
für Haus- und Feldarbeit zuständig als auch für die Erziehung der Kinder.
„Ich bin froh über Töchter und Enkeltöchter“, sagt Sangmo. „Sie bleibe…
und dem Hof erhalten.“ Die polygame Familienstruktur hat auch für sie
Vorteile. Über die Einheirat ihres Mannes in zwei Höfe wird das Vieh
ausgetauscht.
Mit beiden Traditionen – dem Nomadentum und der Polygamie – will die
chinesische Führung brechen. Die Mehrfachehe ist für ganz China bereits
seit 1980 verboten. Bei den Tibetern haben die Behörden beides bislang
toleriert. Nun investiert die Regierung Millionen von Yuan, um Zehntausende
tibetische Hirten auf Dauer sesshaft zu machen. Das Ansinnen ist ernst
gemeint. Die Hirten könnten von Weide- auf Stallwirtschaft umstellen,
Geschäfte eröffnen und das ganze Jahr über bei ihren Familien bleiben. Dann
dürfte es auch mit der Vielehe vorbei sein. Denn zwei Ehefrauen an einem
Ort? Sangmo gibt darauf keine Antwort.
Und noch etwas verfolgen die chinesischen Behörden mit der
Ansiedlungspolitik: Sie wollen der fortschreitenden Überweidung Einhalt
gebieten. Der Klimawandel sorgt dafür, dass auch von Sangmos Hof aus die
schneebedeckten Gipfel immer weniger weiß sind. Das Schmelzwasser versiegt.
Ganze Landstriche sind bereits versteppt. Tatsächlich tragen die Millionen
von Yaks und Schafe ebenfalls zur Verödung der Landschaft bei. Sie fressen
die trockenen Böden ab, die noch mehr erodieren. „Unsere Männer müssen
immer höher ins Gebirge hinauf, um noch fruchtbare Weiden zu finden“, gibt
Dolma zu – und kritisiert dennoch die Ansiedlungspolitik der chinesischen
Regierung. „Sie nehmen uns unseren Lebensraum“, sagt sie. Alternativ
autonome Reservate einzurichten, ist wiederum von Chinas Führung nicht
erwünscht.
## Smartphone in der Kutte
In diesen Tagen begeben sich mehrere tausend Pilger nach Labrang, um in dem
Kloster außerhalb von Xiahe Buddhas Geburts-, Todes- und Erleuchtungstag zu
begehen. 48 Tempelhallen und mehr als 500 buddhistische Kapellen und
Mönchszellen zählt das Kloster – eine Stadt für sich. Vor einer Stupa,
einem tibetischen Denkmal zur Aufbewahrung der Schriften in der „Lehrhalle
der Spiritualität“, wirft eine Frau ihr langes Gewand aus Yakstoff
geschickt vor sich auf den Boden und robbt dann Meter um Meter auf den
Knien zum Altar. Andere bringen die Gebetsmühlen in Schwung, alte, aus
edlem Holz geschnitzte Trommeln, die sie wie ein Karussel zum Drehen
bringen. Die mit vergoldeten Löwen, Drachen, Phönixen reich verzierten
Klostergemäuer sind zur Feier des Tages mit bunten Schirmen, Fahnen, Blumen
geschmückt. Aus den Hallen dringen die dumpfen Schläge der Gongs, klingt
das Scheppern der Zimbeln und das tiefe Röhren der das Mantra murmelnden
Mönche. Und überall riecht es nach Yakbutter, die Mönche und Nonnen auch
als Kerzen verwenden.
Dorje Tseri lebt seit 17 Jahren in Labrang. Er ist 36. Wie viele Mönche
stammt auch er aus dem Umland. Erst war er Novize und musste viele Jahre
die „Goldenen Schriften“ studieren. Nun betreut er die „Lehrhalle der
traditionellen Medizin“. Um ihn herum haben sich Dutzende von Mönchen
versammelt, die kleinsten von ihnen im Grundschulalter, die Ältesten gehen
am Stock. Und sie alle tragen eine orangefarbene Robe, in deren Falten sich
offensichtlich Taschen befinden. Zumindest Dorje hat dort sein Smartphone
versteckt.
„Buddhas dreifacher Ehrentag hat eine weitere Bedeutung erhalten“, sagt
Dorje Tseri und zeigt auf einige der pilgernden Hirten, die furchtlos
vergilbte Bilder des Dalai Lama und Fotos anderer Mönche auspacken. „Wir
gedenken auch all unserer Angehörigen, die in den letzten 50 Jahren
geflüchtet oder im Widerstand gegen die chinesischen Besatzer ums Leben
gekommen sind“, sagt Dorje. „Buddhas Geburtstag ist für uns Tibeter auch
ein politischer Tag.“
## Fast 3.000 tibetische Mönche exekutiert
Das Kloster Labrang und die gesamte Region von Xiahe sind seit vielen
Jahrhunderten immer wieder Schauplatz erbitterter Kämpfe der
unterschiedlichen Religionen gewesen. Lange Zeit haben sich Tibeter und
Mongolen bekämpft, aber immerhin waren sie beide buddhistischen Glaubens.
Heftige Kriege gab es später mit Angehörigen der Hui, chinesischen
Muslimen. Noch in den zwanziger Jahren hat ein Hui-Warlord das seit dem 17.
Jahrhundert existierende Labrang-Kloster überfallen und fast 3.000
tibetische Mönche exekutieren lassen. Heute leben Hui, Tibeter und Mongolen
weitgehend friedlich miteinander. Nun verläuft der Konflikt zwischen
Tibetern und den chinesischen Behörden.
Inzwischen sind es nicht mehr nur Mönche, die ihre Verzweiflung besonders
grausam durch Selbstverbrennung zum Ausdruck bringen. 41 zumeist junge
Mönche und Nonnen sollen es seit Anfang 2011 gewesen sein. Nach Berichten
des in den USA ansässigen Senders Radio Free Asia soll sich am 27. Juni in
der Nachbarprovinz Qinghai erstmals auch eine Tibeterin aus Protest gegen
die Konfiszierung ihres Grunds und Bodens angezündet haben. Das tibetische
Exilparlament im indischen Dharamsala hat den Vorfall bestätigt. 70
Familien hatten zuvor skandiert: „Wir fordern Recht über unser eigenes
Land.“
## Zu wenig Jobs
„Auch in Xiahe ist die Zwangsansiedlung ein Thema“, bestätigt Dorje. Von
der höchsten Erhebung der Klosteranlage aus zeigt er auf die Innenstadt von
Xiahe. Die chinesischen Behörden haben rechts und links von der Hauptstraße
die verfallenen alten Holzhäuser abgerissen und sie durch lieblose
Baracken- und Hochhaussiedlungen ersetzt, wie sie in zahlreichen
chinesischen Städten hochgezogen werden: sechs- bis zwanzigstöckige
Betonbauten, die nur wenig Möglichkeiten bieten, die kulturellen
Eigenheiten der Tibeter, Hui und Mongolen in der Region zum Ausdruck zu
bringen.
Auf der Hauptstraße vor den neuen Wohnanlagen sitzen Männer schon am Morgen
vor den Fernsehbildschirmen, spielen Karten und trinken Schnaps. „Klar, die
Familien haben jetzt Strom und müssen die Yakbutter nicht mehr von Hand
schlagen“, sagt der Mönch. Aber viele hätten ihr Leben lang als Halbnomaden
gelebt und kämen mit dem neuen Leben nicht zurecht. Vor allem gebe es nicht
genug Jobs, berichtet Tseri. Der UN-Menschenrechtsrat appellierte Anfang
des Jahres an die chinesische Führung, „die nichtfreiwillige Umsiedlung
nomadischer Hirten aus ihren traditionellen Gebieten auszusetzen“.
Was Dorje von den Selbstverbrennungen hält? Der Dalai Lama hat betont,
diese Protestform stehe nicht im Einklang mit den Lehren des Buddhismus.
Dorjes Miene verfinstert sich. „Wenn sich jemand berufen fühlt, sich in
Brand zu stecken, werde ich das bestimmt nicht verdammen“, antwortet er.
„Und der Dalai Lama sollte das auch nicht tun.“ Am Rande Tibets ist er
nicht der Einzige, der das so sieht.
24 Jul 2012
## AUTOREN
Felix Lee
## TAGS
China
Dalai Lama
Tibet
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