| # taz.de -- Syrische Flüchtlinge im Libanon: Seide für die Revolution | |
| > Im libanesischen Wadi Khaled leben Flüchtlinge und Kämpfer aus Syrien. | |
| > Der Krieg ist nah, die Grenze nur einen Steinwurf entfernt. Ein Besuch – | |
| > mit Geschenken. | |
| Bild: Sehr vorbildlich: junger Flüchtling mit taz-Mütze. | |
| WADI KHALED taz | Neulich fuhr ich mit einem Teil meiner Erbschaft, | |
| bestehend aus vielen bunten Kleidungsstücken, in den Libanon. Meine jüngst | |
| verstorbene Mutter liebte zeitweise einen eklektischen Stil, und es war in | |
| ihrem Sinne, die Kleidung für syrische Flüchtlinge zu spenden. | |
| Sie hasste den Präsidenten Baschar al-Assad und schrie mir aus ihrem | |
| Sterbebett erzürnt zu, dass „das Schwein“ zu sterben habe, ich aber nicht | |
| selbst versuchen solle, ihn zu töten (was ich gar nicht vorhatte). Den | |
| armen Syrern, das musste ich ihr versprechen, sollte ich aber helfen. | |
| Von Beirut aus machte ich mich eines Sonntagmorgens in einem kleinen | |
| demolierten Auto auf den Weg nach Norden, Richtung syrischer Grenze. | |
| Zusammen mit einer syrischen Freundin und einem ihrer syrisch-kurdischen | |
| Freunde, die man als „Aktivisten im Exil“ bezeichnen kann, die aber | |
| natürlich auch schlicht Flüchtlinge sind, wollten wir ihre Leidensgenossen | |
| besuchen, ihr hartes Leben wenigstens etwas aufhellen: mit bunter Kleidung, | |
| Reis und Schokolade. | |
| Kurz hinter der Küstenstadt Tripoli tauchten am Straßenrand die ersten | |
| Banner mit Grüßen an die Freie Syrische Armee (FSA) auf, liebevoll | |
| handbemalt von sunnitischen Unterstützern im Libanon. Wir ließen das | |
| Mittelmeer in der Vormittagssonne hinter uns und bogen ab zum grenznahen | |
| Flüchtlingsort Wadi Khaled, der nur etwa dreißig Kilometer vom syrischen | |
| Homs entfernt liegt. | |
| ## Die Kinder flippen aus | |
| Im letzten Supermarkt vor Wadi Khaled kauften wir noch ein paar Kilo | |
| Bonbons und etwas Reis. Armseliger Trost, aber als wir die erste Schule, | |
| die nun als Flüchtlingslager diente, erreichten, flippten rund zwanzig | |
| Kinder regelrecht aus. | |
| Während meine Freundin eine unter einem Baum hockende ältere Dame nach | |
| Besuchsgenehmigungen fragte, kamen immer mehr jubelnde Kinder auf uns | |
| zugerannt. Als wir schließlich die Kisten mit den bunten Klamotten | |
| öffneten, liefen dreißig Frauen und unzählige Kinder zusammen, um ihren | |
| Lieben einen Teil meines Erbes zu sichern. Nach und nach tauchten auch | |
| einige halbstarke Jungs auf, die die Situation erst strengen Blickes | |
| beobachteten, sich dann aber freudig bunte 80er-Jahre-Designerseidenhemden | |
| sicherten. | |
| Die vor dem Krieg geflüchteten Menschen, die in dieser Schule hausten, | |
| waren rund sechzig sunnitische Familien aus Tel Kalakh, einem etwa zwanzig | |
| Kilometer entfernt gelegenen Ort, direkt hinter der Grenze zu Syrien. Vier | |
| Tage, berichtete eine Frau namens Umm Mohammed, habe die Flucht aus Syrien | |
| gedauert, von einem Rebellenunterschlupf ging es in den nächsten – getrennt | |
| von ihrem Mann und von vier ihrer sechs Kinder. Die 37-Jährige konnte nur | |
| das ein- und das dreijährige Kind mit sich nehmen. | |
| Die Halbstarken führten mich aufs Dach der Schule und zeigten mir, wo sie | |
| nachts kämpfen wollten. Unsere Blicke fielen auf grünes Hügelland, hübsche | |
| Häuschen, kleine Obstplantagen, eine Moschee und eine ungesicherte Grenze. | |
| An Krieg erinnerte nichts – außer den Erzählungen der Jungs. | |
| ## Perfekter Coitus Interruptur | |
| Aus ihrem Heimatort Tal Kalakh hörten sie allnächtlich die Detonationen. In | |
| dem Monat, in dem sie im Libanon lebten, hätten sie alle schon militärische | |
| Schulungen durchlaufen. Sie gaben an, schon mit Kalaschnikows und | |
| Panzerabwehrgranaten feuern zu können. Die älteren Kämpfer würden sie aber | |
| noch nicht mit nach Syrien nehmen, da es nicht genug Waffen für alle gebe. | |
| Einer zeigte mir ein Handyfoto einer hübschen 17-Jährigen, seiner Freundin | |
| in Syrien. Manchmal besuchte er sie nachts, wenn die Kämpfer ihn mitnähmen. | |
| Stolz berichtete er mir, er würde schon mit ihr schlafen und beherrsche, in | |
| Ermangelung von Kondomen, den Coitus interruptus bereits perfekt. Ich gab | |
| ihm meinen Pseudoverlobungsring, den ich stets in Arabien trage, für sein | |
| Mädchen. | |
| Plötzlich hörte ich ein Räuspern, dazu einen Pfiff und rhythmisches | |
| Händeklatschen. „Hey du, Mädchen, bist du das Geschenk von Gott für unsere | |
| Revolution?“ Allgemeines Gelächter folgte und ein kleiner Tanz, den ein | |
| hagerer, verwegen aussehender Mann Mitte fünfzig vor mir aufführte. | |
| Abu Mohammeds Gang war schleppend, er hatte sich beim nächtlichen | |
| Grenzübertritt, für den man einen Fluss überqueren muss, verletzt. Er war | |
| 22 Jahre lang ein einfacher, mit Papierkram beschäftigter Soldat in der | |
| syrischen Armee gewesen, schloss sich aber, wie er sagt, „am ersten Tag“ | |
| dem bewaffneten Aufstand an. | |
| ## Erst siegessicher – dann tot | |
| Wann der „erste Tag“ war, kann er nicht sagen. Jetzt, wo die Syrer | |
| aufstünden, sei es seine Pflicht, für den Sturz des Diktators zu kämpfen. | |
| Sobald sein Bein wieder fit sei, werde er wieder rübergehen. Außerdem sei | |
| er es seinem ältesten Sohn schuldig: Mohammed starb vor wenigen Wochen, bei | |
| einer nächtlichen Operation. | |
| Auf seinem Handy zeigte mir Abu Mohammed ein Video, wie der Sohn und seine | |
| Brigade aus hysterisch brüllenden Twens eine Brücke in Syrien besetzten und | |
| ein Anti-Assad-Transparent aufzogen, Fotos, auf denen Mohammed siegessicher | |
| mit Kumpels und Knarren posiert. Dann ein Foto: Mohammed, gerade | |
| erschossen. Das nächste: Mohammed tot im Grab. | |
| Abu Mohammed zeigte mir Narben von Schnitt- und Stichverletzungen an seinem | |
| Körper, die er während seiner Zeit in der Armee von seinen Kameraden | |
| verpasst bekommen hatte – seiner Aussage nach waren es immer Alawiten. Er | |
| zeigte mir noch sieben recht frische Einschussnarben, die Kugeln hätten | |
| Freiwillige in improvisierten syrischen Feldkrankenhäusern aus ihm | |
| herausgepult. Die schlimmste Verletzung, eine offene, entzündete und | |
| offenbar noch unbehandelte Wunde an seinem Bein, die ihn humpeln ließ, | |
| hatte er sich bei einem nächtlichen Unfall im Feld selbst zugezogen. | |
| Trotzdem wusste dieser Mann besser zu flirten und zu scherzen als manch ein | |
| kosmopolitischer libanesischer Gentleman. | |
| Unter der Flagge der Aufständischen spielten wir mit den Kindern, und der | |
| alte Kämpfer verteilte deutsche Ahoi-Brausebonbons an die quietschende | |
| Schar, die immer noch mit schokoladenverschmierten Mündern durch die Schule | |
| tollte. | |
| ## Jeden Abend in den Krieg | |
| Ein junger Mann schob sein Motorrad durch die Gänge. Er transportiert | |
| nachts die Kämpfer nach Syrien, an den Fluss, fährt zurück und bringt die | |
| nächsten. Die libanesischen Grenzsoldaten drehten sich weg, ebenso die | |
| syrischen, die nur Kontakt zu den Rebellen aufnähmen, wenn sie ihnen | |
| gestohlene Waffen verkaufen wollten. Anders als Abu Mohammed hält ihn die | |
| Verantwortung für seine sieben Kinder, alle noch am Leben, davon ab, am | |
| bewaffneten Aufstand teilzunehmen. Jeden Abend, wenn es dunkel wird, | |
| sammeln sich rund 75 Männer aus den umliegenden anderen Flüchtlingshäusern | |
| und ziehen in den Krieg. | |
| Zwei der Halbstarken kamen und wollten mir nun ihre Videos zeigen, „selbst | |
| aufgenommen, selbst aufgenommen!“ riefen sie mir entgegen. Ein alawitischer | |
| Soldat lag gefesselt und mit verbundenen Augen auf dem Boden einer von den | |
| Rebellen eingenommenen Polizeistation, wurde mit Stöcken geschlagen, | |
| beschimpft, getreten und erschossen. Den Rufen der Misshandler nach waren | |
| alle Beteiligten Kämpfer der FSA im kollektiven Blutrausch. | |
| Ein anderes Video zeigte zwei aneinandergefesselte Männer in Uniform, | |
| angeblich Sunniten, denen bei lebendigem Leibe und sehenden Auges die Köpfe | |
| mit einer Kettensäge abgetrennt wurden, angeblich von Alawiten. Doch das | |
| Video war ein Fake, wie sich über YouTube-Diskussionen herausstellte: Es | |
| war von mexikanischen Drogenbanden in Mexiko zur Abschreckung für Verräter | |
| gedreht worden und ist nun Teil der längst eskalierten Kriegspropaganda im | |
| syrischen Bürgerkrieg geworden. | |
| Als die Sonne sich neigte, drängte ich auf Abfahrt. Der Bruder Mohammeds, | |
| der natürlich auch Märtyrer werden will, sang für uns noch ein Lied auf die | |
| Schönheit Syriens und die Revolution. Es wurde dunkel und unserer Fahrer | |
| fand den Weg nach Beirut nicht sofort. Wir fuhren eine andere, idyllische | |
| Straße entlang, alles duftete nach mediterranem Sommer. | |
| Plötzlich erhielt ich eine SMS: „Das syrische Tourismusministerium heißt | |
| Sie willkommen. Bitte genießen Sie ihren Aufenthalt in Syrien. Falls Sie | |
| Beschwerden haben, so rufen sie bitte 113 an.“ Wir drehten um, schnell | |
| Richtung Beirut. | |
| 1 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Leila Djamila | |
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