| # taz.de -- Kunst im Olympiapark: Ein Bildhauer mit Worten | |
| > Lemn Sissay ist einer der fünf „Olympischen Dichter“, deren Werke im | |
| > Londoner Olympiapark verewigt werden. Seine Dichtung ist ähnlich komplex | |
| > wie seine Identität. | |
| Bild: Eine Skupltur ohne Worte: Der Stahlturm „Orbit“ und das Stadion im Lo… | |
| „Das muss man sich mal vorstellen“, sagt Lemn Sissay. „Mein Gedicht wird | |
| für 25 Jahre und länger im Olympischen Park stehen.“ Der 45-Jährige ist | |
| einer von fünf offiziellen olympischen Dichtern für London 2012. „Es ist | |
| die größte Show der Welt“, sagt er, „ich empfinde es als Ehre, für die | |
| Spiele schreiben zu dürfen.“ | |
| Er schrieb „Spark Catchers“ – „Funkenfängerinnen“ – über die Mäd… | |
| jungen Frauen in der Streichholzfabrik Bryant and May. „Als ich zum | |
| Olympia-Poeten ernannt wurde, gab es das Stadion noch nicht“, sagt Sissay. | |
| „So stellte ich ein paar Nachforschungen über das Gelände an.“ Er fand | |
| heraus, dass in der Streichholzfabrik 1888 der erste inoffizielle | |
| Frauenstreik der britischen Geschichte stattfand. | |
| Die Frauen streikten gegen die erbärmlichen Arbeitsbedingungen, den | |
| niedrigen Lohn, die Arbeit mit gesundheitsschädlichem gelbem Phosphor. Als | |
| Annie Besant, eine sozialistische Journalistin, darüber berichtete, | |
| verlangte die Fabrikleitung von den Frauen, sich schriftlich von dem | |
| Artikel zu distanzieren. Wer sich weigerte, wurde entlassen. Daraufhin | |
| traten 1.400 Arbeiterinnen in den Streik, und nach drei Wochen knickte die | |
| Fabrikleitung ein. Sissay stieß in den Aufzeichnungen von Annie Besant auf | |
| den Stoßseufzer: „Wenn es doch bloß einen Dichter gäbe, der diese Frauen | |
| unterstützte.“ | |
| Für Lemn Sissay war das wie ein Auftrag aus früheren Zeiten. Auch die vier | |
| anderen olympischen Dichter John Burnside, Jo Shapcott, Caroline Bird und | |
| Carol Ann Duffy haben mit Ost-London zu tun, dem benachteiligten Teil der | |
| Stadt, in dem das Olympiastadion wie ein Raumschiff aus einer anderen Welt | |
| gelandet ist. Sissay wurde 1967 selber in eine andere Welt geboren. Seine | |
| Mutter war gerade aus Äthiopien nach England gekommen. | |
| Sie kam mit dem subtilen englischen Rassismus nicht zurecht. So gab sie | |
| ihren Neugeborenen in Pflege und ging zurück nach Afrika. Sissay kam in | |
| eine strenggläubige Baptistenfamilie in Nord-England. „Sie haben mich | |
| aufgenommen, weil Gott ihnen das befohlen hatte“, sagt Sissay. „Sie wollten | |
| mich zum Missionar erziehen und glaubten, ich würde nach Afrika gehen, um | |
| alle schwarzen Babys zu retten. Ich war für sie ein Experiment.“ | |
| Als er elf war, beendeten die Pflegeeltern das Experiment. „Sie meinten, | |
| ich bringe das Böse in ihr Haus“, sagt er. „Es herrsche ein großer Kampf … | |
| mir, behaupteten sie, und Gott habe ihn verloren.“ Sie steckten Sissay in | |
| ein Heim und brachen jeden Kontakt zu ihm ab: „Ich verlor auf einen Schlag | |
| nicht nur meine Eltern, sondern auch meine Geschwister, Großeltern, Onkel | |
| und Tanten.“ | |
| ## Kunst als olympische Disziplin | |
| Die nächsten sieben Jahre verbrachte Sissay in sechs verschiedenen Heimen. | |
| An seinem 18. Geburtstag händigte ihm das Jugendamt seine Geburtsurkunde | |
| aus. „Dort stand Lemn Sissay“, sagt er. „Die ersten 18 Jahre meines Lebens | |
| hatten sie mich Norman Mark Greenwood genannt.“ Er kam damit durch | |
| Bildersprache zurecht, sagt er: „Ich bin wohl als Dichter geboren worden.“ | |
| Die Verbindung zwischen Sport und Dichtkunst bei Olympischen Spielen geht | |
| auf die Antike zurück. Im alten Griechenland waren Dichterwettbewerbe | |
| fester Bestandteil der Sportveranstaltungen, mancher Poet war populärer als | |
| die Athleten. Bisweilen beauftragten die Athleten einen Dichter wie Pindar, | |
| ein Lobgedicht zu verfassen, das beim Siegesbankett von einem Knabenchor | |
| vorgetragen wurde. | |
| Unbekanntere Dichter trugen ihre Werke auf Holzkisten am Rande der Arenen | |
| vor. Das war nicht ungefährlich, denn Kritiker äußerten ihre Meinung oft | |
| handgreiflich. Als Dionysius im vierten Jahrhundert vor unserer | |
| Zeitrechnung miserable Gedichte vortrug, vermöbelten ihn die Sportanhänger | |
| und zerstörten sein Zelt. | |
| Pierre de Coubertin, der Begründer der Olympischen Spiele der Moderne, | |
| setzte 1912 die Kunst als olympische Disziplin durch. Es wurden Medaillen | |
| in Architektur, Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei vergeben. Die | |
| eingereichten Werke mussten einen Bezug zum Sport haben. De Coubertin | |
| selbst gewann eine Goldmedaille für Literatur. Er hatte unter den | |
| Pseudonymen Georges Hohrod und Martin Eschbach eine „Ode an den Sport“ | |
| verfasst. Die ging so: „Oh Sport, du bist eine Schönheit! Oh Sport, du bist | |
| Gerechtigkeit! Oh Sport, du bist Glückseligkeit!“ | |
| Qualität blieb auch in den folgenden Jahren ein Problem. Zwar wuchs die | |
| Teilnehmerzahl stetig, doch große Namen blieben Olympia fern. Lediglich | |
| Thornton Wilder ließ sich 1932 dazu überreden, in Los Angeles als Richter | |
| zu fungieren: Er kürte eine deutsche Ode ans Bergsteigen zum Gewinner. 1936 | |
| wachte Nazi-Propagandist Joseph Goebbels über den Wettbewerb, bei dem | |
| Deutsche und Italiener die Medaillen abräumten. | |
| ## Sissays Gedicht für die Ewigkeit | |
| 1952 in Helsinki ließ man die Kunst- und Literaturdisziplinen still und | |
| leise fallen, zwei Jahre später wurden sie offiziell aus dem | |
| Olympia-Programm gestrichen. Die Künstler verstießen gegen den | |
| Amateurstatus, lautete die offizielle Begründung. Heute fehlen die | |
| Ergebnisse der Kunstdisziplinen in den offiziellen Annalen des IOC. Sissays | |
| Gedicht und die der anderen vier Olympiapoeten sind aber für die Ewigkeit | |
| gedacht. | |
| Lemn Sissay veröffentlichte seinen ersten Gedichtband mit 21. Seit er 24 | |
| ist, lebt er von seiner Kunst. Als er seine Geburtsurkunde bekam, händigte | |
| ihm der Beamte auch einen Stapel Briefe seiner leiblichen Mutter aus. „Sie | |
| wollte mich die ganze Zeit zurückhaben“, sagt er, „aber der Beamte lehnte | |
| ab.“ Es dauerte drei Jahre, bis Sissay sie fand. Sie war inzwischen mit dem | |
| stellvertretenden Finanzminister von Äthiopien verheiratet. Das Verhältnis | |
| zu ihr sei schwierig, sagt er und fügt hinzu: „Ich hasse meine Pflegeeltern | |
| nicht. Aber ich vergebe ihnen auch nicht.“ | |
| 5 Aug 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Sotscheck | |
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